Christine Kaufmann machte sich bereits als junge Juristin Gedanken zum Thema Hunger. Der Titel ihrer Dissertation: «Hunger als Rechtsproblem – völkerrechtliche Aspekte eines Rechts auf Nahrung.» Heute will die Professorin nichts Geringeres als die Menschenrechte und das Wirtschaftsrecht zusammenbringen – «zwei bis vor kurzem noch komplett geschlossene Systeme».
In ihrer Forschung konzentriert sie sich seit über zwanzig Jahren auf die staatsrechtlichen Auswirkungen der Globalisierung, auf die Schnittstellen zwischen dem internationalen Handelsrecht und den Menschenrechten. Dabei geht es massgeblich auch um das Thema verantwortungsvolle Unternehmensführung.
Die 56-jährige Zürcherin hatte nie vor, sich im Elfenbeinturm der Wissenschaft zu verschanzen. «Ich begriff früh, dass ich Antworten auf meine Forschungsfragen nicht einzig in den Büchern und Lehrbetrieben finde, sondern in die Praxis eintauchen muss.» Ihr Weg führte sie nach Abschluss ihrer Dissertation zur Nationalbank. Es folgte ein Forschungsaufenthalt an der University of Michigan (USA). Anschliessend war sie am «World Trade Institute» an der Uni Bern tätig, bevor sie sich schliesslich für eine akademische Karriere und die Rückkehr an die Uni Zürich entschied.
OECD-Leitsätze als Standards für Firmen
Seit Anfang Jahr macht Kaufmann auch international Karriere. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat Christine Kaufmann zur Vorsitzenden des Ausschusses für verantwortungsvolle Unternehmensführung ernannt.
In dieser Position sieht Kaufmann endlich die Chance, «einen konkreten Beitrag zu leisten, um die Lebensbedingungen der Menschen in ihrem realen Leben gezielt zu verbessern». Dies will sie mit den OECD-Leitsätzen und den nationalen Kontaktpunkten erreichen. Die Leitsätze sind Empfehlungen der Regierungen der 36 OECD-Mitglieder sowie eines Dutzends weiterer Staaten an die Unternehmen, wie sie die Menschenrechte und den Umweltschutz bei ihren wirtschaftlichen Aktivitäten einhalten können. Die nationalen Kontaktpunkte stehen als Anlaufstellen für Beschwerden gegen ein Unternehmen offen.
In der Schweiz ist die Kontaktstelle beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) angesiedelt. Seit dem Start im Jahr 2000 sind zwanzig Eingaben behandelt worden, mit einer deutlichen Zunahme seit dem Jahr 2011. Kaufmann versichert: «Alle Unternehmen, gegen die in der Schweiz bisher Beschwerde erhoben wurde, haben sich am Dialog aktiv beteiligt.»
Das sei im internationalen Vergleich nicht selbstverständlich. Aber auch hier bringe der Dialog etwas. Als Beispiel nennt sie die 2015 eingereichte Eingabe einer Gewerkschaft gegen den Weltfussballverband Fifa. Dabei wurden Verstösse gegen die Menschenrechte von Wanderarbeitern beim Bau der Infrastruktur für die Fussball-WM 2022 in Katar geltend gemacht. Der Mediationsprozess zwischen den Parteien hat laut Kaufmann dazu beigetragen, dass die Fifa eine menschenrechtliche Sorgfaltsprüfung anhand der OECD-Leitsätze vornahm. «Zudem wurden Arbeitsinspektionen auf Baustellen durchgeführt sowie auf die Verbesserung von Beschwerdemechanismen für Arbeiter in Katar hingewirkt.»
Die Professorin ist überzeugt, dass die Umsetzung der OECD- Leitsätze einzig unter Mitwirkung der Mitgliedstaaten und der Unterstützung durch Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Gewerkschaften gelingen kann.
Die Vertreter der insgesamt 48 teilnehmenden Staaten, der Wirtschaftsverbände, der Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft treffen sich drei Mal pro Jahr in Paris, um konkrete Wegleitungen aus den Leitsätzen herauszuarbeiten, welche die Unternehmen konkret anwenden können. Kaufmann: «Unser Ziel ist es, die eher abstrakten Leitsätze für die Unternehmen so auszudeutschen, dass sie für das mittlere Management verständlich werden und in die tägliche Arbeit umgesetzt werden können.» Wolle zum Beispiel ein Unternehmen in Bangladesch T-Shirts produzieren, müsse es darauf achten, dass in den Produktionsstätten vor Ort die Notausgänge nicht versperrt sind oder auf jedem Stock Feuerlöscher vorhanden sind.
Schulunterricht für arbeitende Kinder
In Branchen wie der Textilindustrie ist Kinderarbeit weit verbreitet. Laut Kaufmann lässt sich Kinderarbeit aber nicht einfach verbieten. Sie macht sich hier für einen pragmatischen Ansatz stark: «Es gibt Projekte der Internationalen Arbeitsorganisation, die in Zusammenarbeit mit Unternehmen und Regierungen dafür sorgen, dass die Kinder, die arbeiten müssen, weil die Familien von ihren Löhnen abhängig sind, zwei bis drei Stunden am Tag zur Schule gehen können.» Kürzlich habe ein achtjähriger Knabe in einem solchen Projekt festgestellt, er könne nun so gut rechnen, dass er nicht mehr übers Ohr gehauen werde. «Das ist schon viel wert», meint Kaufmann. Es sind diese kleinen Schritte, die ihr Hoffnung für langfristige, nachhaltige Veränderungen geben.
Dazu beitragen will in der Schweiz die Konzernverantwortungsinitiative, indem sie etwa die OECD-Leitsätze in verbindliche Normen überführt. Kaufmann begrüsst das Vorhaben, die Sorgfaltspflicht von Konzernen gesetzlich zu verankern und Haftungsbestimmungen einzuführen. Der Initiativtext geht ihrer Ansicht aber zu weit. «Es ist unvernünftig, wenn die Schweiz nun die Gerichte für Klagen aller Art öffnet.» Das sei kontraproduktiv und deshalb «auch nicht im Sinne der Opfer».
Laut Kaufmann müsste beim Gegenvorschlag des Parlaments die Haftung so gestaltet werden, dass sie für die Unternehmen und die Opfer gleichermassen berechenbar sei. Ein Unternehmen müsse genau wissen, mit welchem Verhalten es sich vor Klagen schützen könne. Und für die Opfer müsse klar sein, an wen sie sich wenden können und welches Verfahren zur Anwendung kommt.
Die Juristin macht den Eindruck, als arbeite sie ununterbrochen. Gönnt sie sich auch einmal eine Pause? «Ich nehme mir Freiräume, so gut es geht», sagt sie lachend. Aber die Grenze zwischen Privatleben und ihrer Arbeit sei glücklicherweise auch nicht so scharf. Mit ihrem Partner würde sie draussen in der Natur Energie tanken.