Monate nach der Annahme der neuen Verfassung durch eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung spaltet das neue Grundgesetz die Gesellschaft immer noch tief. Daran ändert auch nichts, dass das Verdikt klar war: Fast zwei Drittel, 64 Prozent, nahmen die Vorlage an. Die Stimmbeteiligung betrug allerdings nur 33 Prozent.
Die Bruchline verläuft entlang der politischen Lager. Zwei Weltanschauungen prallen aufeinander. Muslime aller Schattierungen verteidigen das Grundgesetz, das sie dank ihrer Dominanz in der verfassungsgebenden Kommission praktisch im Alleingang ausarbeiteten. Die säkularen linken, liberalen und nationalen Kräfte kritisieren insbesondere fehlende Legitimation und nationalen Konsens. Die Opposition erachtet das Grundgesetz deshalb als «ungültig» und verlangt Änderungen oder gar eine Neuauflage. Denn die meisten Verfassungsjuristen hätten eine qualifizierte Mehrheit zur Annahme der neuen Verfassung vorausgesetzt.
Eine klare Vision ist in den 236 Artikeln der Verfassung nicht zu erkennen. Es ist nicht der grosse Wurf, der die Ambitionen der Revolutionäre nach einem modernen, zivilen, demokratischen Rechtsstaat festschreibt. Die Autoren haben sich nicht bemüht, erst die theoretischen Grundlagen zu schaffen und abzuklären, was für einen erfolgreichen Übergang von einem autoritären System zu einer demokratischen Kultur notwendig wäre.
Ein Werk der Eile und voller Widersprüche
Das Ergebnis ist ein Flickwerk der alten Verfassung aus dem Jahre 1971, eine Mischung aus generellen Verfassungsgrundsätzen und Kleingedrucktem, das in Gesetze oder Erlasse gehören würde. Das Grundgesetz sei in vielen Formulierungen unpräzise, inkonsistent und manchmal widersprüchlich. Die Beziehungen zwischen den Gewalten seien unklar und die Machtbefugnisse - etwa zwischen Militär und Exekutive - nicht klar abgegrenzt, analysiert der Politologe Nabil Abel-Fattah aus Kairo.
Wichtige Materien, die eine Verfassung regeln sollte, blieben offen, zum Beispiel das Verfahren zur Bestimmung der einflussreichen Provinzgouverneure. Das sei ein typisches Zeichen von Eile und berge die Gefahr, dass die verfassungsmässigen Rechte noch durch Gesetze eingeschränkt werden könnten, stellt der international renommierte libanesische Rechtsprofessor Chibli Mallat fest.
Strafen nun auch ohne Gesetzesgrundlage
Dafür trägt der Text eine deutlich islamische Handschrift, die einhergeht mit Einschränkungen der persönlichen Freiheiten. Menschenrechtsanwalt Ahmed Ezzat aus Kairo: «Die Restriktionen betreffen vor allem die Ausdrucksfreiheit, die Meinungsäusserungsfreiheit, die Glaubensfreiheit und die Medienfreiheit.» Darüber hinaus erhalte al-Azhar, die höchste Instanz des sunnitischen Islam, neue weitreichende Befugnisse, stellt das Mitglied der Vereinigung für Gedanken- und Ausdrucksfreiheit (AFTE) fest. Al-Azhar kann Einfluss nehmen bei allem, was mit Religion zu tun hat, und hat dabei auch Entscheidungsbefugnis. Das betrifft zum Beispiel einen Regisseur, der einen Film über islamische Geschichte dreht, oder einen Akademiker, der für seinen Doktortitel zu einem religiösen Thema forscht. Das schränke die Freiheit der Kreativität und der Forschung ein, dabei sei die Meinungsäusserungsfreiheit die Mutter aller Freiheiten, so Ezzat.
Für Beunruhigung sorgt auch der Einschub eines Begriffes in einem Artikel über Strafprozesse. Künftig können Strafen nicht nur verhängt werden, wenn es einen Artikel in der Verfassung oder in einem Gesetz gibt, sondern auch nach «richterlicher Beurteilung». Der Grundsatz «keine Strafe ohne Gesetz» gilt also nicht mehr. Für den Menschenrechtsanwalt Ezzat erhalten die Richter zu viel Strafkompetenzen. Militärgerichte können weiterhin auch Zivilpersonen den Prozess machen. Die Islamisten - also Muslimbrüder, Salafisten und andere islamistische Kräfte - haben zudem Paragrafen durchgesetzt, die verlangen, dass traditionelle, kulturelle und religiöse Werte und die Familie respektiert werden müssen. «Aber die Verfassung kennt die Familie nicht. Sie regelt die Beziehung zwischen dem Individuum und dem Staat, kritisiert Ezzat die seiner Meinung nach klare Absicht, die Wertvorstellung einer gesellschaftlichen Strömung durchzusetzen. Auch ein Blasphemie-Artikel wurde auf Druck der erzkonservativen Salafisten in den Text aufgenommen. Artikel 44 verbietet Beleidigungen des Propheten und widerspricht Bestimmungen, die die Glaubens- und Meinungsfreiheit garantieren.
Wertehierarchie nicht definiert
An diesem Punkt setzt die Kritik des Verfassungsjuristen Mina Khalil, Dozent an der Amerikanischen Universität in Kairo, an. Jeder Artikel für sich genommen sei nicht so schlimm - aber ihr Zusammenspiel. Es fehle eine Wertehierarchie, die Interpretation sei deshalb schwierig, erläutert Khalil. Als Beispiel nennt er den Schutz von Familienwerten und persönliche Freiheiten, die sich widersprechen können, wenn der Islam als Richtschnur genommen wird. Oder der Artikel 2, der festlegt, dass die Sharia, das islamische Recht, die wichtigste Quelle der Justiz ist. Diese Bestimmung widerspreche einem andern Artikel, der die Gleichheit aller Bürger ohne Diskriminierung garantiert.
Das islamische Recht sieht keine Gleichheit zwischen Muslimen und Nichtmuslimen vor. Fast zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung sind aber koptische Christen. Sie müssten mit Diskriminierung rechnen, es sei denn, die Sharia wird liberal ausgelegt. Die Religionsfreiheit ist zudem ausdrücklich auf die drei Religionen Abrahams, also Muslime, Christen und Juden beschränkt. Nicht anerkannt sind etwa die Bahais, die seit Jahren um ihre Rechte kämpfen und deren Kindern die Aufnahme in die Schulen verweigert wird.
Neues Grundgesetz schwächt oberstes Gericht
Weil die Verfassung nicht die ganze Bevölkerung repräsentiere, verlangt die Verfassungstheorie laut Khalil ein Gegengewicht zur Mehrheit, damit diese nicht allein entscheiden könne. Diese Institution könne ein Gericht, al-Azhar oder der Präsident sein, die die Kompetenz hätten zu bestimmen, wann das Gesetz anwendbar ist und wann nicht. Idealerweise käme diese Kompetenz dem Verfassungsgericht zu. Verfassungsexperten sind sich aber einig, dass das neue Grundgesetz das Oberste Gericht schwächt. Einmal erhält al-Azhar die Befugnis, alle Gesetze zu begutachten, und zum Zweiten gehen neue Gesetze künftig zur Überprüfung ans Verfassungsgericht, bevor das Parlament sie verabschiedet, und nicht erst danach.
Mit der Ausweitung der Kompetenz der sunnitischen al-Azhar-Universität, die alle Gesetze auf ihre Sharia-Konformität überprüfen kann, sei jetzt eine Art Wettbewerb mit dem Obersten Gericht entstanden, wer das endgültige Sagen über die Gesetze habe, erklärt Khalil. In dieselbe Richtung geht auch der Systemwandel bei der Überprüfung der Verfassungskonformität von Gesetzen. Das neue Vorgehen nehme dem Verfassungsgericht die Möglichkeit, Parameter zu setzen und das Gesetz auszulegen. Damit sei das Verfassungsgericht nur noch ein willenloses Werkzeug, das sagen könne, ob das Gesetz verfassungskonform sei oder nicht, aber nicht, was es davon hält, präzisiert Khalil. Seiner Meinung nach wäre es in der jetzigen Situation, da eine einzige ideologische Richtung den Gesetzgebungsprozess dominiert und Diversität fehlt, wünschenswert, dass das Verfassungsgericht mit seiner Interpretation ein Gegengewicht setzen kann.
Dass dies tatsächlich von den regierenden Muslimbrüdern nicht gewollt ist, hat sich in den vergangenen Wochen bereits beim revidierten Wahlgesetz gezeigt. Das Verfassungsgericht hat mehrere Artikel beanstandet und an das Parlament zurückgeschickt. «Die Abgeordneten haben reagiert, aber nur der Form nach und nicht in der Substanz», kritisiert Ezzat. Sobhi Saleh, einer der prominentesten Juristen der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit der Muslimbrüder, sagte zu diesem Vorgehen, das Verfassungsgericht dürfe nur die Kompatibilität feststellen und nicht interpretieren. Er hat damit die engere Auslegung der Kompetenzen des Verfassungsgerichtes bestätigt.
Politische Gegner aus dem Verfassungsgericht entfernt
In der neuen Verfassung wurde auch die Zahl der Richter am Verfassungsgericht nach dem Anciennitätsprinzip von 19 auf 11 reduziert. Die acht Mitglieder, die am wenigsten lang dabei waren, mussten in ihre alten Ämter zurückkehren. Verfassungsexperten sehen in dieser Reduktion zwar kein grundsätzliches Problem - auch im internationalen Vergleich ist diese Zahl durchaus üblich - aber politische Überlegungen sind nicht von der Hand zu weisen. Über die Klinge springen musste auch die Vizepräsidentin des Gerichtes, Tahani al-Gebali. Sie war bei ihrer Berufung im Jahre 2003 durch Ex-Präsident Hosni Mubarak die erste Richterin in Ägypten, die sich vor allem für Frauenrechte stark gemacht hat. Seit der Revolution ist sie auch eine der Führungsfiguren der Opposition. Sie ist eine erbitterte Verfechterin eines säkularen Staates, die aus ihrer Abneigung gegen die Islamisten nie einen Hehl gemacht hatte. Die Muslimbrüder hatten die Juristin mit Sharia-Diplom in ihre Galerie der «Feinde des Staates» aufgenommen, deren Porträts sie bei Demonstrationen mittragen. Entsprechend harsch fiel die Kritik Gebalis an der neuen Verfassung aus. Die Entlassung der acht Verfassungsrichter sei ein Racheakt und ein dreister Eingriff in die Justiz, sagt sie als Betroffene, die zurzeit die Libyer bei der Ausarbeitung einer neuer Verfassung berät.
Ob das verbreitete Unbehagen eine Revision der Verfassung nach sich zieht, ist trotz der Diskussionen offen. Die prozeduralen Hürden sind hoch. Und es stellt sich die Frage, wie weit Ägypten ein Land sein soll, in dem die Religion Staat, Politik und das Rechtssystem dominiert. Dieser Streit wird so bald nicht beigelegt sein.
So entstehen Demokratien
«Verfassungen lassen sich kopieren, Demokratie hingegen nicht», schreibt Wolf Linder, emeritierter Professor für Politikwissenschaft der Universität Bern.
Der Beitrag unter dem Titel «Demokratieförderung? Dialog statt Export!» ist einer von mehreren Aufsätzen, welche die Facetten bei der Entstehung einer Demokratie aufzeigen und in einem Band des Zentrums für Demokratie Aarau erschienen sind.
Verfassung, Gewaltenteilung, Legalitätsprinzip, das Recht als Ganzes - beim Aufbau demokratischer Staaten spielen Faktoren wie Wirtschaft, Bildungsstand, kulturelles Erbe und soziale Strukturen ebenfalls wichtige Rollen. Nur mit einem interdisziplinären Ansatz kann die Entstehung von Demokratien erfasst werden. Die Beiträge zeigen: Der Faktor Zeit wird bei den im arabischen Raum entstehenden Demokratien oft vergessen. Wofür die «alten» Demokratien mehrere Anläufe und Jahrzehnte brauchten, kann anderswo nicht im Laufe eines Frühlings entstehen. sz