Die Schweiz positioniert sich seit langem als Streitschlichtungsforum für die ganze Welt. Auch auf dem internationalen politischen Parkett ist sie traditionell anerkannt für ihre «guten Dienste». Nun soll ein neues Streiterledigungsangebot für internationale Streitigkeiten aufgebaut werden. Geht es nach dem Bundesrat, dürfen die Kantone künftig separate Gerichtskammern für internationale Handelsstreitigkeiten errichten. Dies folgt aus der im März vergangenen Jahres veröffentlichten Botschaft zur Revision der Zivilprozessordnung (ZPO). Mit einer neuen Bestimmung in Artikel 6 Absatz 4 litera c E-ZPO bekämen die Kantone die Kompetenz zur Zuweisung von internationalen Handelsstreitigkeiten mit Zustimmung der Parteien. Neu würde laut Artikel 129 Absatz 2 E-ZPO auch Englisch als Verfahrenssprache zugelassen werden.
«Diese Änderungen in der ZPO geben uns die Chance, im Kanton Zürich eine auf internationale Handelsstreitigkeiten spezialisierte Instanz zu schaffen», sagt Martin Bernet. Der Zürcher Rechtsanwalt ist Leiter der diesem Projekt gewidmeten Arbeitsgruppe des Zürcher Anwaltsverbandes und fordert seit 2017 die Schaffung eines «Zurich International Commercial Court» (ZICC). Eine auf internationale Streitigkeiten ausgerichtete Kammer soll dem Handelsgericht Zürich angegliedert werden. «Damit sollen international agierende Unternehmen und Privatpersonen das Handelsgericht wählen können, um ihre grenzüberschreitenden kommerziellen Streitigkeiten zu lösen», sagt Bernet. Ähnliche Bestrebungen gebe es in Genf. Der Justizplatz Schweiz werde so gestärkt.
Der Zürcher Kantonsrat hat auf diese Forderung aus der Anwaltschaft reagiert: Davide Loss, Rechtsanwalt und SP-Kantonsrat, fordert mit weiteren Kollegen aus der FDP und CVP in einer Motion den Zürcher Regierungsrat auf, die gesetzlichen Grundlagen für eine solche Kammer auszuarbeiten und diese dem Kantonsrat zur Beschlussfassung vorzulegen.
Nun warten alle Akteure gespannt auf den Ausgang der ZPO-Revision. Die Beratungen im Parlament stehen noch ganz am Anfang. Im Oktober beschloss die Kommission für Rechtsfragen des erstberatenden Ständerats Eintreten auf die Vorlage. Bernet schliesst nicht aus, dass die Idee, vor spezialisierten kantonalen Gerichten in englischer Sprache zu prozessieren, in Bern auf gewissen Widerstand stossen könnte. Bedenken gab es bereits bei der Revision des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht. Vorgesehen war, Beschwerden gegen ein Schiedsgerichtsurteil ans Bundesgericht auf Englisch zuzulassen. Die Rechtskommission des Ständerats lehnte dies mit Stichentscheid des Präsidenten zuerst ab. Der Nationalrat beharrte auf einer Änderung. Schliesslich lenkte der Ständerat doch noch ein.
Amsterdam, Frankfurt und Paris mit neuen Gerichten
Laut Bernet geht es letztlich um Standortförderung. «Die Konkurrenz im Ausland ist gross.» Was er damit meint, verrät ein Blick über die Grenzen: In den letzten Jahren eröffneten eine Reihe von Ländern Sondergerichte für internationale Handelsstreitigkeiten. Beispiele: die Internationale Kammer des Pariser Berufungsgerichts (Internationales Handelsgericht von Paris), das niederländische Handelsgericht oder die Kammer für internationale Handelsstreitigkeiten beim Landgericht Frankfurt am Main.
Gute Chancen für den Kanton Zürich
Laut dem Zürcher Rechtsanwalt Philipp Haberbeck sollen diese Sondergerichte «die Erwartungen der Wirtschaftsakteure an ein attraktives Justizsystem erfüllen». Haberbeck ist überzeugt, dass der Kanton Zürich gut positioniert ist, um ein attraktives Angebot zu entwickeln. Weitere Prozess- und Schiedsgerichtsanwälte versichern, das Handelsgericht Zürich habe «einen hervorragenden Ruf als unabhängiges, effizientes und zuverlässiges Gericht».
Gleichzeitig geniesst die Schweiz laut Gesprächen mit Szenenkennern international einen «exzellenten» Ruf als Schiedsgerichtsplatz. Laut einer Statistik der internationalen Handelskammer (ICC) in Paris wurden alleine 2019 in der Schweiz 80 ICCSchiedsverfahren durchgeführt (53 in Genf, 27 in Zürich). Nur London (114) und Paris (106) kamen auf mehr Verfahren.
Braucht es trotzdem neben diesen privaten auch noch staatliche Gerichte, um internationale Streitigkeiten zu schlichten? Andreas Bucher lehrte über 20 Jahre an der Universität Genf Privatrecht und internationales Privatrecht und ist überzeugt, dass Konkurrenz nur förderlich sei. Bucher kritisiert die bisherige Stellung der Schiedsgerichte: «Es geht nur ums Business.» Die Gesetzgebung sei absichtlich nicht attraktiv konstruiert worden. Damit zielt der Professor auf die Revision des 12. Kapitels des internationalen Privatrechts (IPRG), bei der es um die Schiedsgerichtsbarkeit ging. «Dort wurde in keiner Weise auf die Interessen von Konsumenten, Mietern, Arbeitern und Sportlern eingegangen.» In London, Singapur, Hongkong und sogar in Frankreich habe man innovative Revisionen durchgebracht.
Der Berner Handelsgerichtspräsident Christian Josi sieht keine Konkurrenz der beiden Systeme: Schiedsgerichte seien besser in der Lage, hochkomplexe und zeitaufwendige Verfahren mit internationalem Bezug rasch und effizient zu bewältigen, weil Schiedsrichter häufig aus spezialisierten Anwaltskanzleien stammten, die kurzfristig die erforderlichen personellen Ressourcen zur Verfügung stellen könnten. «Im Unterschied dazu können staatliche Gerichte ihr Personal in der Regel nicht einfach im Hinblick auf einen aufwendigen Fall aufstocken. Solche staatlichen International Commercial Courts werden daher wohl keine echte Gefahr für Schiedsgerichte darstellen, sondern sie allenfalls ergänzen.»
Geringere Schiedskosten an staatlichen Gerichten
Für Rechtsanwalt Felix Dasser, Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Schiedsgerichtsbarkeit (ASA), spielt es keine Rolle, ob ein Fall an die Zürcher Kammer gehen oder von einem Schweizer Schiedsgericht behandelt würde. «Wichtig ist, dass man über die Schweiz redet und an die Schweiz als Streitschlichtungsplatz denkt, wenn auf dem internationalen Wirtschaftsparkett Verträge abgeschlossen werden.» Martin Bernet sieht als Vorteil eines staatlichen Gerichts auch «die viel geringeren Gerichtskosten». «Vor allem für kleine und mittlere Unternehmen wäre eine solche Kammer lukrativ.» Auch Bucher weist darauf hin, dass ein solches Gericht «wesentlich billiger urteilen wird, ohne deswegen dem Steuerzahler zur Last zu fallen».
Das Obergericht und das Handelsgericht Zürich stehen der Schaffung einer solchen Kammer positiv gegenüber: «Das Vorhaben hätte aber einen nicht zu unterschätzenden organisatorischen und personellen Mehraufwand mit entsprechenden Kosten zur Folge», sagt Mediensprecherin Andrea Schmidheiny.
Wie diese Kammer konkret aussehen müsste, ist umstritten. Ein grosses Problem am Handelsgericht Zürich wären laut Dasser ungenügende Englischkenntnisse: «Die Richter sind kaum in der Lage, ein Urteil auf Englisch zu verfassen.» Ihnen fehle schlicht die Ausbildung dafür. Auch seien sie für internationale Fälle nicht gerüstet. «Es braucht deshalb eine eigene Abteilung, mit eigenen Regeln und separaten Richtern», fordert der Anwalt. Er schlägt ein Richtergremium vor, das man aus den auf Schiedsverfahren spezialisierten Anwaltskanzleien rekrutieren könnte. Zudem müssten auch ausländische Juristen in diesem Gremium zugelassen werden. «Wenn sie einen berühmten englischen Richter haben, der für Schiedsgerichtsverfahren international einen exzellenten Ruf hat, dann stärkt das die Position der Kammer in Zürich», sagt Dasser.
Anscheinend fehlt es in der Schweiz tatsächlich an Grössen mit internationaler Strahlkraft. Andreas Bucher: «Im Vergleich zu früher wirken heute in grossen Fällen viel weniger Schweizer als Schiedsrichter oder Anwälte mit.» Sie seien zu wenig gut ausgebildet und zu wenig bekannt.
Roberto Dallafior, Rechtsanwalt in Zürich, ist der Ansicht, dass es für die Verfahren vor dieser Kammer eigene Regeln geben müsste, damit sie in der Praxis funktionieren. Heute verzichte das Handelsgericht Zürich weitgehend auf Zeugen- und Parteianhörungen sowie in der Regel auf kontradiktorische mündliche Erörterung des Streitgegenstands. «Die Verfahren sind vor allem auf Effizienz ausgerichtet.»
Umstrittene richterliche Vergleichsvorschläge
Aus langjähriger praktischer Erfahrung weiss Dallafior: «International ist nicht akzeptiert, dass Zeugen im Schweizer Zivilverfahren praktisch keine Bedeutung haben.» Ebenso wenig, dass Richter Vergleichsvorschläge unterbreiteten, die nicht selten einer Vorwegnahme des Urteils gleichkämen. Anwalt Felix Dasser erinnert daran, dass so etwas einst im Common-Law-Bereich verboten war: «Sobald ein Richter auch nur andeutete, wie er einen Fall in der Sache sieht, konnte er wegen Befangenheit entfernt werden.»
Obergerichtssprecherin Andrea Schmidheiny sieht das anders. Handelsgerichtliche Prozesse seien oft komplex und würden sich daher weniger für mündliche Vorträge eignen. Deshalb werde oft ein zweiter Schriftenwechsel durchgeführt. An der Einigungsverhandlung hätten die Parteien immer die Möglichkeit, sich informell mündlich zur Streitsache zu äussern. Fabienne Bittel vom Obergericht Zürich ergänzt, die Parteien würden es sehr schätzen, dass ihnen mit Durchführung der Einigungsverhandlung nach dem ersten Schriftenwechsel die Möglichkeit eröffnet werde, «frühzeitig, effizient und vergleichsweise kostengünstig mithilfe der Gerichtsdelegation eine Lösung in der Streitsache zu finden».
Anwalt Peter Nobel bestätigt: Letztlich würden vernünftige Vergleiche den Parteien am meisten helfen. Der Zürcher Rechtswissenschafter war über 17 Jahre lang nebenamtlich als Richter am Zürcher Handelsgericht tätig. Er komme um die Feststellung nicht herum, dass den Parteien selbst die rasche Prozesserledigung oft wichtiger sei als ihren Anwälten. Parteivertreter würden – «ob unter echtem oder vermeintlichem, jedenfalls aber selbstinteressiertem anglo-amerikanischem Einfluss» – fast neurotisch negativ auf das Wort «Vergleich» reagieren. Das sei ungerechtfertigt. Denn das Ziel eines Verfahrens sei nicht der Prozess, sondern die nachhaltige vernünftige Streiterledigung für die Parteien. Vergleichsbemühungen seien folglich weder Indiz der Befangenheit noch der Trägheit der Richter, sondern vielmehr Ausdruck erfahrungsgereiften Realitätssinnes.