Strafprozessrecht
Haftentlassung wegen fehlender Kollusionsgefahr
Die Möglichkeit, dass Opfer und Zeugen vor Gericht nochmals aussagen müssen, begründet alleine noch keine Kollusionsgefahr.
Sachverhalt:
Wegen sexueller Handlungen mit der damals siebenjährigen Tochter seiner ehemaligen Lebensgefährtin wurde X. am 1. Juli 2010 festgenommen und in Untersuchungshaft versetzt. Am 16. September 2010 beantragte X. vergeblich die Haftentlassung. Der Haftrichter verlängerte die Haft bis zum 1. Januar 2011, wegen dringenden Tatverdachts und Kollusionsgefahr. Dagegen erhob X. Beschwerde beim Bundesgericht, er beantragte Aufhebung des Entscheids des Haftrichters und Haftentlassung.
Aus den Erwägungen:
2.3 Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht nicht. Er wendet sich gegen die Annahme der Kollusionsgefahr. Er macht geltend, die Untersuchung sei abgeschlossen. Er habe seit 10 respektive 16 Jahren keinen Kontakt mit den Opfern gehabt. Allein aus dem Umstand, dass er nicht geständig sei, sei nicht auf Kollusionsgefahr zu schliessen.
2.4 Die strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass der Angeschuldigte die Freiheit dazu missbrauchen würde, die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhalts zu vereiteln oder zu gefährden. Die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte, genügt indessen nicht, um die Fortsetzung der Haft unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen. Solche können sich namentlich aus den persönlichen Beziehungen zwischen ihm und den ihn belastenden Personen ergeben. Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des Strafverfahrens wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung der von Beeinflussung bedrohten Aussagen beziehungsweise Beweismittel, der Schwere der untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen. Nach Abschluss der Strafuntersuchung bedarf der Haftgrund der Kollusionsgefahr einer besonders sorgfältigen Prüfung. Er dient primär der Sicherung einer ungestörten Strafuntersuchung. Je weiter das Strafverfahren vorangeschritten ist und je präziser der Sachverhalt bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderungen sind grundsätzlich an den Nachweis von Verdunkelungsgefahr zu stellen (BGE 132 I 21 E. 3.2ff. S. 23ff. mit Hinweisen).
2.5 Die Strafuntersuchung ist hier weit fortgeschritten und die wesentlichen Beweise sind erhoben. Nach der dargelegten Rechtsprechung sind deshalb die Anforderungen an den Nachweis der Verdunkelungsgefahr erhöht.
Der Beschwerdeführer war anlässlich der polizeilichen Befragung teilweise geständig. Vor dem Staatsanwalt hat er die Aussage verweigert. Es ist nicht auszuschliessen, dass er sich bei einer Haftentlassung mit den Opfern und Zeugen in Verbindung setzen und diese veranlassen könnte, ihre belastenden Aussagen zumindest abzuschwächen.
Im Jahre 1994 soll der Beschwerdeführer die damals siebenjährige Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin sexuell angegangen haben. Danach soll er dem Kind mit dem Weggang von Mutter und Geschwister gedroht haben, wenn es jemandem etwas erzähle. Im gleichen Jahr trennte sich die damalige Lebensgefährtin von ihm und brach den Kontakt - mit Ausnahme weniger Telefonanrufe - ab. Kontakt zu ihrer Tochter hatte der Beschwerdeführer letztmals im Jahr 1994. Im Jahr 2000 oder 2001 soll der Beschwerdeführer die damals zwölf- beziehungsweise dreizehnjährige Tochter seiner damaligen Ehefrau sexuell angegangen haben. Die Ehe endete im Jahr 2001. Der Beschwerdeführer hatte danach kaum mehr Kontakt mit seiner damaligen Ehefrau und deren Tochter; letztmals vor sieben Jahren. Er hatte das mutmassliche Opfer weder auf den Vorfall angesprochen noch ihm gedroht.
Unter Würdigung dieser Umstände scheint es unwahrscheinlich, dass sich die Opfer und Zeugen heute vom Beschwerdeführer beeinflussen liessen, selbst wenn sie vor Gericht nochmals aussagen müssten. Die Opfer haben lange mit einer Strafanzeige zugewartet. Sie und die wesentlichen Zeugen haben seit längerer Zeit keine persönliche Bindung mehr zum Beschwerdeführer. Es liegen keine konkreten Indizien vor, wonach er versucht hätte, die Opfer und Zeugen zu beeinflussen oder unter Druck zu setzen. Zwar hat seine heutige Lebensgefährtin versucht, ein Opfer telefonisch zu kontaktieren, und dabei mit der Mutter des Opfers gesprochen. Dies liesse sich aber auch mit der Inhaftierung des Beschwerdeführers nicht verhindern.
Sollte die Anklage nach Inkrafttreten am 1. Januar 2011 der schweizerischen Strafprozessordnung (StPO/CH; AS 2010 1881ff.) beim Bezirksgericht erfolgen, wäre Art. 343 Abs. 3 StPO/CH von Bedeutung. Danach erhebt das Gericht im Vorverfahren ordnungsgemäss erhobene Beweise nochmals, sofern die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint. Die Anhörung der Opfer und Zeugen vor Gericht ist deshalb denkbar. Allein gestützt darauf kann aber keine Kollusionsgefahr bejaht werden. Vielmehr müssen nach der dargelegten Rechtsprechung konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen.
2.6 Bestehen keine konkreten Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr, kann dieser Haftgrund nicht bejaht werden. Die Staatsanwaltschaft und die Vorinstanz führen keine anderen Haftgründe an. Die Beschwerde ist begründet.
Urteil 1B_321/2010 der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 12. Oktober 2010
Haft im Nachverfahren
Paragraf 198 Absatz 1 der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt stellt gemäss Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keine hinreichende gesetzliche Grundlage für eine Haft im Nachverfahren dar.
Sachverhalt:
Kläger Borer wurde 1997 vom Strafgericht Basel-Stadt zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren wegen Mordes und Diebstahls verurteilt. Zusätzlich ordnete das Gericht psychotherapeutische Massnahmen an. Während des Vollzugs weigerte sich Borer, sich diesen zu unterziehen. 2002 wies die Strafvollzugskommission das Gesuch Borers um bedingte Entlassung ab. 2005 hob das Strafgericht Basel-Stadt die psychotherapeutischen Massnahmen auf und ordnete eine stationäre Massnahme an. Gegen diese Anordnung erhob Borer
Berufung an das Appellationsgericht Basel-Stadt. Dessen Präsidentin verfügte gestützt auf § 198 Absatz 1 der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt vier Wochen Haft im Nachverfahren für die Zeit nach dem Ablauf der Freiheitsstrafe im Jahr 2006, mit der Begründung der Rückfallgefahr. Das Bundesgericht bestätigte diese Verfügung. Das Appellationsgericht Basel-Stadt und das Bundesgericht bestätigten später das Urteil des Strafgerichts Basel-Stadt aus dem Jahr 2005 und damit die Anordnung der stationären Massnahme.
Aus den Erwägungen:
1. Quant aux circonstances de la cause, la Cour note d'emblée que le requérant dénonce uniquement une absence de base légale propre à justifier sa détention. Il n'allègue pas que sa privation de liberté n'était pas nécessaire ou qu'elle n'était pas justifiée par l'un des motifs prévus à l'article 5 § 1 de la Convention. La question à trancher est donc celle de savoir si le requérant a été privé de sa liberté «selon les voies légales» au sens de l'article 5 § 1 de la Convention.
2. La Cour observe ensuite que l'ouverture de la procédure d'internement par les autorités du canton de Bâle-Ville était postérieure au jugement de condamnation du requérant du 16 avril 1997 et que l'exécution de cette décision d'internement devait avoir lieu après l'accomplissement de la peine à laquelle l'intéressé avait été condamné. Elle note également que la décision en cause relevait de l'ancien article 43 du code pénal suisse ainsi que des dispositions applicables du code de procédure pénale du canton de Bâle-Ville (paragraphes 19-21 ci-dessus).
3. Aucune décision définitive n'étant intervenue à propos de cet internement, une mesure provisoire a été ordonnée le 3 janvier 2006, devant prendre effet à l'expiration de la peine infligée. Faute de dispositions spécifiques régissant un éventuel maintien en détention à l'expiration d'une peine privative de liberté (Haft im Nachverfahren), les instances internes ont fondé la détention du requérant sur l'article 198 du code cantonal de procédure pénale, qui concerne la détention d'une personne ayant été condamnée en première instance mais dont le jugement n'est pas devenu définitif. Par ailleurs, les tribunaux internes ont appliqué cet article en combinaison avec les articles 69 et suivants du même code, qui sont réservés à la détention provisoire.
4. La Cour est donc amenée à analyser si ces dispositions, appliquées à la présente espèce, remplissaient les exigences posées par l'article 5 § 1 de la Convention et par les principes élaborés par la jurisprudence de la Cour. Elle doit plus particulièrement examiner la question de savoir si la base légale autorisant la détention était en l'espèce suffisamment accessible et précise afin d'éviter tout danger d'arbitraire (Amuur, précité, § 50, et Mohd c. Grèce, no 11919/03, §§ 21 et 24, 27 avril 2006).
5. La Cour observe d'emblée que la détention litigieuse n'avait pas de base spécifique en droit interne, aucune disposition n'étant consacrée explicitement au type de détention subie par le requérant.
6. Elle note que le Gouvernement invoque la jurisprudence du Tribunal fédéral en arguant qu'elle devait être connue du requérant, qui était représenté par un avocat. Elle observe que, dans plusieurs arrêts, le Tribunal fédéral a effectivement affirmé que les dispositions sur la détention provisoire pouvaient servir de base légale à une détention postérieure au jugement (paragraphes 22-25 ci-dessus). Elle constate en revanche que les quatre précédents invoqués par le Gouvernement (paragraphe 34 ci-dessus) concernaient des cantons différents, avec des codes de procédure pénale différents.
Aussi, elle estime que les situations et décisions qui se trouvaient à l'origine des détentions des intéressés sont sans doute analogues ou comparables à celle de la présente affaire, mais qu'elles ne sont en aucun cas identiques à celle-ci. Elle rappelle en outre que, dans l'arrêt Weber précité, elle a déclaré incompatible avec la Convention la pratique consistant à prolonger la détention d'un individu sur la base d'une disposition prévue pour un autre type de détention. Partant, la Cour ne saurait admettre que ces précédents aient pu valablement servir de base légale à la détention du requérant.
7. La Cour ne partage pas non plus l'avis du Gouvernement selon lequel la terminologie utilisée par les autorités pour justifier la détention du requérant n'était pas déterminante en soi. A cet égard, elle rappelle que la pratique consistant à détenir une personne en l'absence d'une base légale spécifique est incompatible avec les principes de la sécurité juridique et de la protection contre l'arbitraire, qui constituent des éléments fondamentaux à la fois de la Convention et d'un Etat de droit (Baranowski, précité, §§ 54 56, et Je?ius c. Lituanie, no 34578/97, § 62, CEDH 2000 IX). Eu égard à la gravité de l'ingérence dans la liberté personnelle du requérant et à la nécessité d'une interprétation stricte des exigences à une détention, l'application faite en l'espèce d'une disposition légale par analogie ou par renvoi ne saurait être tolérée.
8. Compte tenu de ce qui précède, la Cour estime que la législation cantonale ne satisfaisait pas au critère de «prévisibilité» d'une «loi» aux fins de l'article 5 § 1. Elle conclut dès lors que la détention subie par l'intéressé à l'issue de l'accomplissement de sa peine privative de liberté n'était pas conforme à l'article 5 § 1 de la Convention.
9. Partant, il y a eu violation de cette disposition.
Urteil Borer c. Suisse, No. 22493/06 der Ersten Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 10. Juni 2010
Verwaltungsrecht
Staatshaftung und unentgeltliche Prozessführung
Bei Verletzungen der Persönlichkeit darf die Staatshaftung nicht auf arglistiges Verhalten beschränkt werden.
Sachverhalt:
Der Chef Vollzug der Strafanstalt Pöschwies verbot den Inhaftierten das sichtbare Tragen von langen Unterhosen auf dem Pausenhof und in den Gruppenräumlichkeiten. X. verstiess mehrfach gegen diese Weisung und wurde unter anderem mit fünf Arreststrafen à sieben Tage (insgesamt 35 Tage) belegt. Nachdem er dagegen zuerst erfolglos rekurrierte, hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich seine Beschwerden gut und hob die Disziplinarverfügungen auf. X. beantragte darauf erst bei der kantonalen Finanzdirektion, dann beim Bezirksgericht Zürich eine Entschädigung von 8750 Franken. Zugleich ersuchte er um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung, was das Gericht wegen Aussichtslosigkeit abwies. Nach erfolglosem Rekurs beim Obergericht wandte sich X. an das Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
2.3 Zu klären ist, ob die Vorinstanz Art. 29 Abs. 3 BV verletzt hat, indem sie das Begehren des Beschwerdeführers um Zusprechung einer staatlichen Entschädigung für die durch den unrechtmässigen Arrest erlittene Persönlichkeitsverletzung als aussichtslos eingestuft hat.
2.4 Art. 41ff. OR regeln das ausservertragliche Haftpflichtrecht. Hat indes ein Kanton Bestimmungen über die Haftung von öffentlichen Angestellten erlassen, so beurteilt sich deren Ersatzpflicht für den Schaden, den sie in Ausübung ihrer amtlichen Verrichtungen verursachen, ausschliesslich nach dem kantonalen Recht (vgl. Art. 61 Abs. 1 OR).
Einschlägig ist daher das kantonale Haftungsgesetz. Nach § 6 Abs. 1 HaftG/ZH haftet der Kanton für den Schaden, den ein Angestellter in Ausübung amtlicher Verrichtungen einem Dritten widerrechtlich zufügt. Wird ein Entscheid im Rechtsmittelverfahren geändert, so haftet der Kanton gemäss § 6 Abs. 2 HaftG/ZH nur, wenn ein Angestellter einer Vorinstanz arglistig gehandelt hat. Unter den gleichen Voraussetzungen kann ein Anspruch auf Genugtuung entstehen, wenn die Schwere der Persönlichkeitsverletzung dies rechtfertigt (§ 11 HaftG/ZH).
Die Bestimmung von § 6 Abs. 2 HaftG/ZH bildet eine Ausnahme von der in Abs. 1 aufgestellten Regel der Kausalhaftung, das heisst, bei einem Schaden aus widersprüchlichen Entscheiden im Rechtsmittelverfahren gilt eine (qualifizierte) Verschuldenshaftung (Jost Gross, Schweizerisches Staatshaftungsrecht, Stand und Entwicklungstendenzen, 2. Aufl. 2001, S. 87 und S. 93).
Ein finanzieller Verzögerungsschaden kann nur entschädigt werden, wenn ein Angestellter einer Vorinstanz arglistig, sprich mit besonders verwerflichem Vorsatz gehandelt hat (Hans Rudolf Schwarzenbach, Die Staats- und Beamtenhaftung in der Schweiz mit Kommentar zum zürcherischen Haftungsgesetz, 2. Aufl. 1985, S. 182). Die Bestimmung bezieht sich auf Fehler in der Rechtspflege. Mit der Haftungsbeschränkung soll verhindert werden, dass jeder Entscheid, der sich in einem Rechtsmittelverfahren als falsch herausstellt und einen Schaden verursacht, Haftungsfolgen auslöst. Den Nachweis eines solch verwerflichen Verhaltens eines Angestellten zu erbringen, dürfte kaum je gelingen; die Haftpflicht für den zwischenzeitlichen Schaden bei Abänderung eines Entscheids ist mithin faktisch ausgeschlossen (Balz Gross, Die Haftpflicht des Staates, Diss. Zürich 1996, S. 164).
Unter Bezugnahme auf diese Lehrmeinungen führt die Vorinstanz aus, § 6 Abs. 2 HaftG/ZH finde namentlich Anwendung, wenn ein Gemeinderat arglistig eine Baubewilligung verweigere und das Verwaltungsgericht schliesslich diesen Entscheid erst Jahre später aufhebe und die Bewilligung erteile. In solchen Fällen habe der Staat für den entstandenen (finanziellen) Verzögerungsschaden aufzukommen (vgl. angefochtener Beschluss S. 6; siehe auch Schwarzenbach, a.a.O., S. 182).
2.5 Der zu beurteilende Fall erscheint jedoch anders gelagert und lässt sich nicht ohne Weiteres unter § 6 Abs. 2 HaftG/ZH subsumieren. In Frage steht nicht ein Fehler in der Rechtspflege, sondern vielmehr eine Persönlichkeitsverletzung durch den unrechtmässigen Arrest als Disziplinarmassnahme. Eingriffe in das Grundrecht der persönlichen Freiheit, welche nicht durch die Ausübung hoheitlicher Gewalt gerechtfertigt sind, sind per se widerrechtlich.
Die Staatshaftung auf jene äusserst seltenen Konstellationen zu beschränken, in welchen die anordnende Behörde geradezu arglistig gehandelt hat, dürfte nicht der ratio legis von § 6 HaftG/ZH entsprechen. Würde man der Argumentation der Vorinstanz folgen, wonach § 6 Abs. 2 HaftG/ZH in allen Fällen anzuwenden ist, in welchen ein Entscheid im Rechtsmittelverfahren geändert wird, käme die in Abs. 1 als Regelfall vorgesehene Kausalhaftung im Ergebnis kaum je zum Tragen. Für eine solche extensive Auslegung der Ausnahmebestimmung von § 6 Abs. 2 HaftG/ZH finden sich - soweit ersichtlich - in der Praxis jedoch keine Hinweise.
Eine summarische Prüfung führt somit zum Ergebnis, dass das Begehren des Beschwerdeführers um Zusprechung einer staatlichen Entschädigung nicht aussichtslos erscheint. Die Vorinstanz hat daher die Verfügung des Einzelrichters für Zivilsachen des Bezirksgerichts Zürich vom 22. April 2010, mit welcher dieser das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wegen Aussichtslosigkeit abwies, zu Unrecht bestätigt und hierdurch Art. 29 Abs. 3 BV verletzt.
Urteil 1D_7/2010 der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 28. September 2010
Einsicht in die IV-Checkliste: Entscheid bestätigt
Bürger und Anwälte haben ein Interesse daran, die Kriterien der IV-Checkliste überprüfen zu können. Das Bundesgericht bestätigt, dass dieses Interesse den Geheimhaltungsinteressen des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV) vorgeht. Ein standardisierter Fragebogen sei trotz seiner Veröffentlichung noch als Arbeitsinstrument einsetzbar.
Sachverhalt:
Zwei Anwälte verlangten beim Bundesamt für Sozialversicherungen im Herbst 2008 erfolglos Zugang zur sogenannten IV-Checkliste. Darauf wandten sie sich an den Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten. Entgegen dessen Empfehlung (siehe plädoyer 4/10) verweigerte das BVS den Zugang weiterhin und erliess gestützt auf Artikel 15 des Öffentlichkeitsgesetzes (BGÖ) eine entsprechende Verfügung. Dagegen erhoben die Anwälte Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht.
Aus den Erwägungen:
5.1 Bei der sogenannten IV-Checkliste handelt es sich um einen standardisierten Fragenkatalog, in dem einzelne Risikofaktoren und deren Gewichtung aufgeführt sind. Zu Recht unbestritten ist, dass es sich dabei um ein amtliches Dokument im Sinne von Art. 5 BGÖ handelt. Es enthält keine Personendaten (Art. 3 Bst. a DSG), sodass deren Herausgabe die Privatsphäre eines Dritten nicht beeinträchtigt und Art. 7 Abs. 2 BGÖ nicht anwendbar ist. Umstritten ist dagegen, ob der Ausnahmetatbestand von Art. 7 Abs. 1 Bst. b BGÖ vorliegt oder nicht. Die Vorinstanz bejaht dies mit der Begründung, die Liste sei ein Instrument, mit dem aus der Masse der Dossiers diejenigen Fälle herausgefiltert werden könnten, bei denen ein Risiko auf Versicherungsbetrug bestehen könnte und bei denen eine genauere Überprüfung angezeigt erscheine.
5.2 In vielen Ländern und Kantonen, die das Öffentlichkeitsprinzip eingeführt haben, besteht keine Art. 7 Abs. 1 Bst. b BGÖ entsprechende Bestimmung. Wird sie wörtlich genommen, lässt sich damit die Nichtzugänglichkeit unzähliger Informationen rechtfertigen. Deshalb ist es wichtig, dass die Ausnahmebestimmung nur eingesetzt wird, wenn die Offenlegung der durchzuführenden Massnahmen deren Erfolg ernsthaft gefährdet. Mit anderen Worten, die Geheimhaltung dieser Vorkehrungen muss der Schlüssel zu ihrem Erfolg darstellen. Die Bestimmung schützt insbesondere jene Massnahmen, mit denen sichergestellt werden soll, dass sich die Bürgerinnen und Bürger an das Gesetz halten.
Eine Offenlegung der Quellen der erhaltenen Auskünfte oder der Methoden, die von den Kontrollpersonen zur Überführung von Betrügerinnen und Betrügern eingesetzt werden, würde die Wirksamkeit der Kontrollen völlig zunichte machen, da die Betroffenen ihr Verhalten ändern würden, um sich den Kontrollen zu entziehen (Bertil Cottier / Rainer J. Schweizer / Nina Widmer, in: Öffentlichkeitsgesetz, Art. 7 Rz. 24f.).
5.3 Die Vorinstanz gibt zu bedenken, dass sich Personen, die sich missbräuchlich gegenüber der Invalidenversicherung verhielten oder dies zu tun gedächten, bei Veröffentlichung der IV-Checkliste bewusst so benähmen, dass sie die erste Triage der IV-Stellen umgehen und dadurch das Risiko mindern, entdeckt zu werden. Die Betrügenden schädigten die Beitragszahlenden und die ehrlichen Bezüger, die auf die Leistungen der IV existenziell angewiesen und einem ungerechtfertigten Generalverdacht ausgesetzt seien. Die Liste enthalte massgebende Kriterien für die Auslösung eines speziellen Kontrollverfahrens hinsichtlich Versicherungsbetruges in der IV und stelle damit sicher, dass sich die Bürgerinnen und Bürger ans Gesetz hielten. Die Einsicht würde dazu führen, dass sich Versicherte in berechnender Weise so verhalten könnten, dass sie gar nicht erst in der Checkliste bzw. als mögliche Verdachtsfälle in den IV-Dossiers zu erkennen wären.
5.4 Die Beschwerdeführenden bringen demgegenüber vor, indem die Vorinstanz ihnen die Einsicht verweigere, entziehe sich die allenfalls widerrechtliche Praxis zur Filterung der möglichen Betrugsfälle jeglicher Kontrolle. Es sei zudem fragwürdig, warum die Vorinstanz einen Teil der Informationen zur sog. Checkliste, wie z.B. den Migrationshintergrund und gewisse Gruppen oder die Art der Behinderung einer versicherten Person, über die Medien bekannt gebe, aber andere verweigere. Selbst wenn sich jemand anders zu verhalten versuchte, könne ein Sachbearbeiter mit einer rhetorisch geschickten Fragestellung dennoch Lügen erkennen.
Insofern könnte der Fragenkatalog auch nach einer Veröffentlichung noch genutzt werden. Weiter gehe es hier um einen standardisierten Fragebogen im Sinne eines blossen Hilfsmittels, den der Sachbearbeiter zum Zeitpunkt der Vorausscheidung von mutmasslichen Missbrauchsfällen einsetze. Davon zu unterscheiden sei die konkrete Vorbereitung einer Massnahme im Einzelfall. Erst in dieser konkreten Phase wäre die Überführung einer Person wegen Verdachts auf Versicherungsbetrug gefährdet.
5.5 Das Anliegen der Beschwerdeführenden, als Bürger, aber auch als für Versicherungsrecht spezialisierte Anwälte zu erfahren, welche Kriterien die sogennante Checkliste beinhaltet, um überprüfen zu können, ob diese sachlich gerechtfertigt sind oder nicht, hat gegenüber dem geltend gemachten Geheimhaltungsinteresse der Vorinstanz vorzugehen. Nach der inzwischen durch die Medien erfolgten Veröffentlichung der Liste kann auch festgehalten werden, dass den Beschwerdeführenden ein Interesse an der geltend gemachten Kontrolle der Kriterien nicht abgesprochen werden kann. Dies gilt namentlich mit Bezug auf Kriterien wie jene des Migrationshintergrundes oder der Behandlung bzw. Vertretung durch hinreichend bekannte Ärzte bzw. Rechtsanwälte, die u.a. als Verdachtskriterien gegen IV-Antragsteller in der Liste erfasst sind.
Wie der EDÖB zu Recht hervorgehoben hat, ist vom standardisierten Fragebogen, den der Sachbearbeiter zum Zeitpunkt der Triage, d.h. der Vorausscheidung von mutmasslichen Missbrauchsfällen, einsetzt, die Vorbereitung einer Massnahme im Einzelfall zu unterscheiden, wie beispielsweise die Bekanntgabe von Ermittlungsmethoden oder die Tatsache einer laufenden Ermittlung. Hier wäre die Überführung einer Person wegen Verdachts auf Versicherungsbetrug durchaus gefährdet. Bei einem standardisierten Fragebogen ist demgegenüber nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er nach der Veröffentlichung nicht mehr als Arbeitsinstrument einsetzbar wäre. Der Vorinstanz ist jedenfalls der Beweis nicht gelungen, durch die Offenlegung der einzelnen Risikofaktoren und deren Gewichtung würde der mit der Liste angestrebte Erfolg, sofern sich dieser sachlich überhaupt rechtfertigen lässt, ernsthaft gefährdet. Eine Ausnahme vom Prinzip der Öffentlichkeit ist bei diesem Stand der Dinge zu verneinen.
5.6 Die Beschwerden sind daher gutzuheissen und die angefochtene Verfügung ist aufzuheben. Da die Beschwerdeführenden inzwischen durch die Presse vom vollständigen Inhalt der sogenannten IV-Checkliste Kenntnis erhalten haben (vgl. E. 1.2), ist festzustellen, dass die Vorinstanz verpflichtet gewesen wäre, den Beschwerdeführenden Einsicht in die Liste zu gewähren.
Urteil A-3443/2010 der Abteilung I des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Oktober 2010
Anwaltsrecht
Eigenmächtige Kontaktaufnahme durch den Anwalt
Wenn der Rechtsanwalt des Beschuldigten Kontakt mit einer Person aufnimmt, die allenfalls als alternativer Tatverdächtiger in Frage kommt, verletzt er damit seine Berufspflichten.
Sachverhalt:
Im Strafverfahren gegen A. wurde Rechtsanwalt X. als amtlicher Verteidiger eingesetzt. A. wurde unter anderem vorgeworfen, dass er B. mit seinem Auto zu überfahren versuchte. Im diesem Zusammenhang beantragte X. die untersuchungsrichterliche Einvernahme von C.: Letzterer sei gemäss A. öfters mit dessen Fahrzeug unterwegs gewesen und bei einer dieser Fahrten B. begegnet. Als das zuständige Untersuchungsamt vorläufig auf die beantragte Zeugeneinvernahme verzichtete, meldete sich X. direkt bei C. Beim darauf- folgenden Treffen in seiner Kanzlei erkundigte sich X. bei C., ob dieser zur fraglichen Zeit den Wagen von A. benutzt habe und dabei B. begegnet sei. Mit Verfügung vom 12. Juni 2008 wurde Rechtsanwalt X. von der Anwaltskammer des Kantons St. Gallen wegen Verletzung der Berufspflichten mit einer Busse von 6000 Franken diszipliniert, weil er C. in unzulässiger Weise privat befragt und auf diese Weise eine Beeinflussung des Zeugen zumindest in Kauf genommen habe. Nach einer erfolglosen Beschwerde beim Kantonsgericht St. Gallen wandte sich X. ans Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
3.2.2 Die Lehre spricht sich mehrheitlich dafür aus, dass eine Kontaktaufnahme mit einem potenziellen Zeugen nur ausnahmsweise mit der anwaltlichen Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung vereinbar sei bzw. nur mit Zurückhaltung und Vorsicht vorgenommen werden solle (Walter Fellmann in Fellmann / Zindel [Hrsg.], Kommentar zum Anwaltsgesetz, Rz. 22 zu Art. 12 BGFA; Michel Valticos
in: Valticos / Reiser / Chappuis [Hrsg.], Commentaire Romand - Loi sur les avocats, Rz. 67 zu Art. 12 BGFA; Bohnet / Martenet, Droit de la profession d'avocat, 2009, Rz. 1180ff.): Die Wahrheitsfindung oder Zeugenbefragung wird als Aufgabe des Gerichts und nicht der Parteien oder ihrer Anwälte erachtet (Walter Fellmann, Anwaltsrecht, Rz. 193; Pfister, a.a.O., S. 288; Fellmann, Kommentar zum Anwaltsgesetz, Rz. 22 zu Art. 12 BGFA; Bohnet / Martenet, a.a.O., Rz. 1180; a.M. Niklaus Ruckstuhl in: Niggli / Weissenberger [Hrsg.], Handbücher für die Anwaltspraxis - Band VII Strafverteidigung, Rz. 3.168ff.).
Die Kontaktierung eines möglichen Zeugen wird nur (aber immerhin) dann für zulässig erachtet, wenn hierfür ein sachlicher Grund besteht. Als solcher wird von der Lehre namentlich auch das Einschätzen der Erfolgsaussichten von Prozesshandlungen wie etwa die Prozesseinleitung, das Einlegen bzw. der Rückzug eines Rechtsmittels oder das Stellen eines Beweisantrages angesehen; entscheidend seien aber die Umstände des konkreten Einzelfalls (Fellmann, Anwaltsrecht, Rz. 194; Fellmann, Kommentar zum Anwaltsgesetz, Rz. 22 zu Art. 12 BGFA; Hans Nater in: Fellmann / Poledna [Hrsg.], Aktuelle Anwaltspraxis/La pratique de l'avocat 2009, S. 1399; Valticos, a.a.O., Rz. 67 zu Art. 12 BGFA; vgl. Handbuch Berufspflichten, a.a.O., S. 62ff.; vgl. Fellmann / Sidler, Standesregeln Luzerner Anwaltsverband, S. 28).
Um der Gefahr einer Beeinflussung des potenziellen Zeugen bzw. dem blossen Anschein einer unzulässigen Einflussnahme in solchen Fällen entgegenzuwirken, fordert die Lehre vom Anwalt die Beachtung entsprechender Vorsichtsmassnahmen: So soll der Anwalt den Zeugen schriftlich um ein Gespräch ersuchen und ihn darauf hinweisen, dass er weder verpflichtet ist zu erscheinen noch auszusagen. Ebenfalls habe der Anwalt dem Zeugen mitzuteilen, im Interesse welches Mandanten das Gespräch stattfinden soll.
Das Gespräch solle ohne den Mandanten und wenn immer möglich in den Räumlichkeiten des Anwalts stattfinden, wobei gegebenenfalls eine Drittperson als Gesprächszeugin hinzugezogen werden soll. Der Anwalt dürfe keinen Druck auf den Zeugen ausüben und ihn insbesondere nicht zu einer bestimmten Aussage oder überhaupt zu irgendeiner Aussage drängen und ihm für den Fall des Schweigens nicht mit Nachteilen drohen. Als verpönt erachtet wird auch das Stellen von Suggestivfragen (Ruckstuhl, a.a.O., Rz. 3.172; vgl. Handbuch Berufspflichten, a.a.O., S. 64f.).
3.2.3 Wie die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid aufgezeigt hat, decken sich die obenstehenden Lehrmeinungen weitgehend mit der Praxis der Anwaltskammer des Kantons St. Gallen sowie jener des Kantonsgerichts St. Gallen (vgl. insbesondere Entscheid BR 2006.2 des Kantonsgerichts vom 14. Dezember 2006 E. III/2 mit weiteren Hinweisen). Auch die Aufsichtsbehörden anderer Kantone haben eine vergleichbare Rechtsprechung entwickelt: In ihrem Urteil vom 13. Oktober 2004 (wiedergegeben in: BJM 2006 S. 47ff.; vgl. Fellmann, Anwaltsrecht, Rz. 195 und 197) geht die Aufsichtskommission des Kantons Basel-Stadt über die Anwältinnen und Anwälte ebenfalls davon aus, dass die Kontaktierung eines möglichen Zeugen durch einen am Verfahren beteiligten Anwalt nicht grundsätzlich unzulässig, sondern unter Umständen gar geboten sei; die Aufsichtskommission setzt jedoch voraus, dass eine sachliche Notwendigkeit hierfür bestehe, und sie auferlegt dem betreffenden Anwalt die Verpflichtung, sicherzustellen, «dass sein Vorgehen nicht eine Verfälschung des Beweisergebnisses bewirkt». Auch die Aufsichtskommission des Kantons Zürich über die Anwältinnen und Anwälte hat sich in analoger Weise zur vorliegenden Thematik geäussert: Sie statuiert drei Voraussetzungen, welche kumulativ erfüllt sein müssen, damit die Kontaktierung resp. die Befragung eines potenziellen Zeugen durch einen Rechtsanwalt von ihr als zulässig erachtet wird: Erstens wird verlangt, dass die Kontaktaufnahme den Interessen der eigenen Klientschaft dient. Zweitens müsse die störungsfreie Sachverhaltsermittlung durch das Gericht oder die Untersuchungsbehörde gewährleistet bleiben, weswegen die Befragung so auszugestalten sei, dass jede Beeinflussung vermieden werden könne. Drittens wird gefordert, dass eine sachliche Notwendigkeit für die Kontaktaufnahme besteht (Beschluss der Aufsichtskommission des Kantons Zürich über die Anwältinnen und Anwälte vom 1. März 2007, wiedergegeben in: ZR 106 [2007] Nr. 81 E. 2 S. 306ff.; vgl. Nater, a.a.O., S. 1397ff.; vgl. Pfister, a.a.O., S. 287f.).
3.2.4 Die von der Lehre und den kantonalen Anwaltsaufsichtsbehörden entwickelten Kriterien für die Zulässigkeit einer privaten Zeugenbefragung überzeugen und scheinen geeignet, die Generalklausel von Art. 12 lit. a BGFA zu konkretisieren. Nachfolgend zu prüfen ist daher, ob die vom Beschwerdeführer durchgeführte Befragung von C. diesen Anforderungen genügte, d.h ob eine sachliche Notwendigkeit für die Befragung bestand, ob die Befragung so ausgestaltet wurde, dass jede Beeinflussung vermieden und die störungsfreie Sachverhaltsermittlung durch das Gericht bzw. die Untersuchungsbehörde gewährleistet wurde und ob die Befragung im Interesse des Mandanten lag.
3.3.1 Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers bestand für eine selbständige Befragung von C. keine ersichtliche sachliche Notwendigkeit. Insbesondere vermag die Argumentation des Beschwerdeführers nicht zu überzeugen, er habe ein Rechtsmittel gegen die Ablehnung der untersuchungsrichterlichen Einvernahme von C. in Betracht gezogen und deshalb die Erfolgsaussichten dieses Rechtsmittels prüfen müssen: Wie die Vorinstanzen unter Hinweis auf die kantonale Gerichts- und Verwaltungspraxis ausführten, steht die Rechtsverweigerungsbeschwerde im sanktgallischen Prozessrecht gegen die Ablehnung von Beweisanträgen durch die Strafuntersuchungsbehörde gar nicht zur Verfügung. Das vom Beschwerdeführer ins Auge gefasste Rechtsmittel wäre somit von vornherein untauglich gewesen. Ein sachlicher Grund für eine private Einvernahme von C. hätte aber auch dann nicht bestanden, wenn der Beschwerdeführer statt einer Rechtsverweigerungsbeschwerde eine allgemeine Aufsichtsbeschwerde gegen die zuständige Untersuchungsrichterin in Erwägung gezogen hätte: Es erscheint fraglich, ob mit diesem disziplinarrechtlichen Instrument die Durchführung einer untersuchungsrichterlichen Einvernahme von C. hätte erzwungen werden können.
Die Frage kann jedoch offen bleiben, zumal es dem Beschwerdeführer jedenfalls möglich gewesen wäre, den abgelehnten Beweisantrag in einem allfälligen gerichtlichen Verfahren zu wiederholen, wie das Kantonsgericht zutreffend erkannt hat. Bis zu diesem Zeitpunkt zuzuwarten, wäre auch nicht mit unzumutbaren Nachteilen verbunden gewesen, wie dies der Beschwerdeführer zu Unrecht behauptet: Nebst dem versuchten Tötungsdelikt zum Nachteil von B. wurden A. im Untersuchungsverfahren eine Reihe von weiteren Straftaten zur Last gelegt; dass die gegen ihn angeordnete Untersuchungshaft im Falle einer frühzeitigen, vorteilhaften Aussage von C. aufgehoben worden wäre, ist demzufolge nicht anzunehmen und es wurde dies vom Beschwerdeführer auch nicht substantiiert dargelegt.
Stattdessen behauptet der Beschwerdeführer in unzutreffender Weise, dass eine Wiederholung des Beweisantrages in einem gerichtlichen Verfahren zwangsläufig die Gefahr einer Kollusion mit sich gebracht hätte: Wie sich aus Art. 193 Abs. 1 des Strafprozessgesetzes des Kantons St. Gallen vom 1. Juli 1999 (StP/SG) ergibt, können Beweisanträge bereits während des schriftlichen Vorverfahrens beim Gerichtspräsidenten gestellt werden. Das diskrete Einbringen bzw. Wiederholen des betreffenden Beweisantrages wäre demzufolge im gerichtlichen Verfahren sehr wohl möglich gewesen. Demgegenüber war es gerade das Vorgehen des Beschwerdeführers, welches C. darauf aufmerksam machte, dass seine Aussagen im Strafverfahren gegen A. von Interesse sind.
3.3.2 Wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat, handelte es sich bei C. nicht bloss um einen möglichen Entlastungszeugen für A. Letzterer behauptete vielmehr, dass nicht er, sondern C. am inkriminierten Vorfall mit B. beteiligt gewesen sei. Da der Beschwerdeführer diese Sachverhaltsdarstellung seines Mandanten offenbar für möglich gehalten hat, hätte ihm aber von vornherein klar sein müssen, dass es sich bei C. seinerseits um einen Verdächtigen bezüglich des versuchten Tötungsdeliktes zum Nachteil von B. handelt: Hätte C. - wie vom Beschwerdeführer erhofft - mit seinen Angaben A. entlastet, so hätte er, C., sich zwangsläufig selbst in den Mittelpunkt der entsprechenden Strafuntersuchung manövriert.
Anders als die Kontaktierung bzw. die Befragung eines Entlastungszeugen lässt sich eine eigenmächtige Einvernahme eines möglichen alternativen Tatverdächtigen durch den Rechtsanwalt des Beschuldigten grundsätzlich nicht mit der Auflage vereinbaren, die störungsfreie Sachverhaltsermittlung durch die zuständige Behörde zu gewährleisten; zu ausgeprägt ist in diesen Fällen das Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit einer sachlichen und fairen Befragung einerseits und der Verpflichtung zu einer möglichst wirksamen Vertretung des eigenen Mandanten andererseits. Dies bestätigt sich im vorliegenden Fall durch die Art und Weise, wie der Beschwerdeführer die Befragung von C. durchgeführt hat: Entgegen den Empfehlungen der Lehre hat er auf wesentliche Vorkehrungen verzichtet, welche einer unzulässigen Beeinflussung bzw. bereits dem blossen Anschein einer unzulässigen Einflussnahme entgegenwirken sollen. Namentlich hat er keine neutrale Drittperson als Gesprächszeugin hinzugezogen und es wurde auch nirgends schriftlich festgehalten, dass er C. darauf hingewiesen hätte, dass weder eine Verpflichtung zur Teilnahme an der Befragung noch eine Aussagepflicht bestehe.
Als nicht hilfreich erscheint der in diesem Zusammenhang vorgebrachte Einwand des Beschwerdeführers, er habe überhaupt keine Zeugenbefragung im eigentlichen Sinn durchgeführt, sondern sich im Gespräch mit C. auf die «simple Frage» beschränkt, ob dieser zum fraglichen Zeitpunkt den Wagen von A. gefahren habe und dabei B. begegnet sei: Die Bejahung dieser Fragen wäre bereits geeignet gewesen, den Tatverdacht auf C. zu lenken. Es handelte sich beim fraglichen Gespräch daher mitnichten um eine prozessökonomisch motivierte, untergeordnete Vorabklärung, sondern vielmehr um eine Besprechung, bei der sich der Beschwerdeführer von seinem Gegenüber offensichtlich entscheidende Informationen erhoffte.
3.3.3 Zweifelhaft ist auch, ob die vom Beschwerdeführer durchgeführte Befragung von C. den Interessen seines Mandanten tatsächlich diente: C. erhielt hierdurch frühzeitig Kenntnis davon, dass A. sich zur Verteidigung auf ihn berief und er, C., daher damit rechnen musste, selbst ins Blickfeld der Ermittler zu geraten. War tatsächlich C. und nicht A. am inkriminierten Tötungsversuch zum Nachteil von B. beteiligt, hat das Vorgehen des Beschwerdeführers C. die Zeit verschafft, sich seinerseits eine Verteidigungsstrategie zu überlegen, was den Interessen von A. schadete.
3.4 Nach dem Ausgeführten steht fest, dass die vom Beschwerdeführer durchgeführte Befragung von C. die Kriterien für die Zulässigkeit einer privaten Zeugenbefragung nicht erfüllte. Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn das Kantonsgericht das Vorgehen des Beschwerdeführers als Verstoss gegen die anwaltliche Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung i.S.v. Art. 12 lit. a BGFA wertete.
Urteil 2C_8/2010 der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 4. Oktober 2010
Sozialversicherungsrecht
Zweifellose Unrichtigkeit einer Rentenverfügung
Eine Rentenverfügung kann nicht zweifellos unrichtig sein, wenn die einzelnen Schritte bei der Feststellung der Voraussetzungen zum damaligen Zeitpunkt vertretbar schienen. Eine Wiedererwägung wegen ursprünglicher zweifelloser Unrichtigkeit ist deshalb ausgeschlossen.
Sachverhalt:
Der 1947 geborene R. bezog seit
1. November 2003 eine halbe Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 52 Prozent. Per Ende September 2007 hob die IV-Stelle die Rente auf, weil sich der Gesundheitszustand gebessert habe und R. wieder ein rentenausschliessendes Einkommen erzielen könnte. Dagegen erhob R. Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, welche die Sache an die IV-Stelle zu weiteren Abklärungen zum psychischen Gesundheitszustand des Versicherten zurückwies. Gestützt auf weitere medizinische Abklärungen stellte die IV-Stelle fest, dass ab 1. Oktober 2007 kein Anspruch auf eine Invalidenrente mehr bestehe. Erneut reichte R. Beschwerde beim Versicherungsgericht ein. Nach deren Abweisung wandte er sich ans Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
2. Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Unter diesen Voraussetzungen kann die Verwaltung eine Rentenverfügung auch dann abändern, wenn die Revisionsvoraussetzungen des Art. 17 ATSG nicht erfüllt sind. Wird die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung erst vom Gericht festgestellt, kann es die auf Art. 17 ATSG gestützte Revisionsverfügung mit dieser substituierten Begründung schützen (vgl. BGE 127 V 466 E. 2c S. 469, 125 V 368 E. 2 S. 369).
Das Erfordernis der zweifellosen Unrichtigkeit ist in der Regel erfüllt, wenn eine Leistungszusprache aufgrund falsch oder unzutreffend verstandener Rechtsregeln erfolgt ist oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht oder unrichtig angewandt wurden. Anders verhält es sich, wenn der Wiedererwägungsgrund im Bereich materieller Anspruchsvoraussetzungen liegt, deren Beurteilung notwendigerweise Ermessenszüge aufweist. Erscheint die Beurteilung einzelner Schritte bei der Feststellung solcher Anspruchsvoraussetzungen (Invaliditätsbemessung, Arbeitsunfähigkeitsschätzung, Beweiswürdigung, Zumutbarkeitsfragen) vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage, wie sie sich im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung darboten, als vertretbar, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus.
Es ist nur ein einziger Schluss - derjenige auf die Unrichtigkeit der Verfügung - denkbar (SVR 2010 IV Nr. 5 S. 10, 8C_1012/2008; Urteil 9C_575/2007 vom 18. Oktober 2007 mit Hinweisen). Entgegen den Ausführungen der Vorinstanz wurden mit dem Urteil 9C_272/2009 vom 16. September 2009 (SVR 2010 IV Nr. 19 S. 58) die Anforderungen an die Wiedererwägung nicht gelockert. Das Bundesgericht hielt in E. 5.3 nur fest, dass es sich erübrige, nachträglich die Arbeitsunfähigkeit im Zeitpunkt der ursprünglichen Rentenzusprechung zuverlässig zu ermitteln, dies jedoch vor dem Hintergrund, dass die ursprüngliche Rentengewährung im Ergebnis zweifellos unrichtig war (E. 5.2).
3.1 Im Entscheid vom 27. Mai 2008 hielt die Vorinstanz fest, aufgrund der zur Verfügung stehenden Unterlagen lasse sich eine revisionsweise Aufhebung der laufenden halben Invalidenrente nicht begründen. Ebenso wenig nachzuweisen sei die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung, weshalb zusätzliche Abklärungen Aufschluss über die medizinische Situation und deren Entwicklung zu geben hätten. Gestützt auf die Ergebnisse der psychiatrischen Untersuchung werde die IV-Stelle über eine Revision oder Wiedererwägung der Rentenverfügung neu befinden. Nachdem die Verwaltung zum Schluss gelangt war, die Rentenzusprechung sei offensichtlich unrichtig gewesen, zog sie die ursprüngliche Verfügung in Wiedererwägung und hob die laufende Rente auf.
3.2 Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen der Wiedererwägungsvoraussetzungen. Er macht geltend, die vorinstanzliche Beurteilung, wonach die ursprüngliche Leistungszusprechung praktisch allein auf der Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung beruht habe, eine gutachterliche Prüfung und rechtskonforme Würdigung derselben jedoch unterblieben und deswegen ein offensichtlich unrichtiger Entscheid gefällt worden sei, erscheine unzutreffend. Weil sodann BGE 130 V 352 betreffend die Änderung der Rechtsprechung bei somatoformen Schmerzstörungen bei Erlass des Einspracheentscheides noch nicht publiziert war, könne die damalige Leistungszusprechung nicht nachträglich als offensichtlich unrichtig bezeichnet werden. Des Weiteren sei zu prüfen, ob aufgrund des vorinstanzlichen Entscheides vom 27. Mai 2008 bezüglich der Wiedererwägung nicht von einer res iudicata hätte ausgegangen werden müssen. Zu guter Letzt rügt der Beschwerdeführer, die Vorinstanz habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Das entscheidende Gutachten des Dr. med. S. vom 12. September 2008, in welchem für die bisherige Tätigkeit eine volle Arbeitsfähigkeit bescheinigt wurde, sei gleichzeitig mit der Gewährung des rechtlichen Gehörs in Auftrag gegeben worden, was unzulässig sei; denn der Versicherte sei rechtzeitig über die Person des in Aussicht genommenen Sachverständigen zu orientieren.
4. Der von der IV-Stelle mit der Begutachtung des Versicherten betraute Psychiater Dr. med. K. diagnostizierte in der Expertise vom 30. Juli 2004, welche dem Einspracheentscheid vom 12. August 2004 zugrunde lag, nebst anhaltender somatoformer Schmerzstörung Angst und depressive Störung gemischt (gemischte ängstlich-depressive Störung). Diese Diagnose, nach ausdrücklicher Auseinandersetzung mit der abweichenden Auffassung des PD Dr. med. E. gestellt, kann durchaus als Komorbidität im Sinne von BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 353f. betrachtet werden.
Der allfällige Wiedererwägungsgrund liegt damit im Bereich materieller Anspruchsvoraussetzungen, deren Beurteilung Ermessenszüge aufweist (E. 2 hievor). Wenn die IV-Stelle im Einspracheentscheid das Gutachten des Dr. med. K. im Einklang mit der Einschätzung ihres medizinischen Dienstes als beweiskräftig qualifiziert und dem Beschwerdeführer gestützt darauf eine halbe Invalidenrente zugesprochen hat, ist dies mit Blick auf die damals geltende Rechtslage vertretbar, womit die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit ausscheidet. Die Beschwerde ist begründet.
Urteil 9C_760/2010 der II. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 17. November 2010
Gerichte des Bundes aktuell
Teilweise Einsicht in KKW-Unterlagen
Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens zur Erteilung der befristeten Betriebsbewilligung gewährt das Bundesverwaltungsgericht den Gegnern des KKW Mühleberg Einsicht in gewisse interne Unterlagen, insbesondere in ein Gutachten zu Kernmantelrissen aus dem Jahr 2006. Unter Verschluss bleiben aus Sicherheitsgründen (Terrorgefahr, Sabotageakte) als vertraulich klassierte Sicherheitsunterlagen.
Zwischenverfügung vom 8.12.2010 im Verfahren A-667/2010
Steuerverwaltung darf nicht beschlagnahmen
Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) ist laut Bundesstrafgericht nicht befugt, im Rahmen eines Verfahrens wegen Steuerwiderhandlungen Vermögenswerte mit Beschlag zu belegen, um die spätere Einforderung von Nachsteuern oder einer Busse zu sichern. Für die Beschlagnahme zur Sicherung der Busse fehlt die gesetzliche Grundlage. Was die Nachsteuern betrifft, hat die Sicherung über die im Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer vorgesehenen Massnahmen zu erfolgen (u.a. Aufforderung zu Sicherheitsleistung). Eine strafrechtliche Einziehung ist ausgeschlossen, womit auch die vorgängige Beschlagnahme ausser Betracht fällt. Offen ist, ob die ESTV das Bundesgericht anrufen wird.
BV.2010/56 vom 1.12.2010
Widerstandsunfähigkeit bei Schändung
Zur Erfüllung des Tatbestandes der Schändung (Art. 191 StGB) bei Übergriffen im Rahmen einer medizinischen Massage ist für das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der Widerstandsunfähigkeit nicht zwingend erforderlich, dass sich das Opfer in Bauchlage befindet. Auch in Rückenlage - mit weniger eingeschränkter Sicht auf das Geschehen als bei Bauchlage - kann durch das Überraschungsmoment bei einer Berührung des Masseurs in der Schamgegend eine «situationsbedingte» Widerstandsunfähigkeit vorliegen. Das Bundesgericht hat mit seinem Entscheid die Beschwerde eines Physiotherapeuten abgewiesen.
6B_436/2010 vom 6.12.2010
Übernahmeangebote im Detail prüfen
Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finma) und die Übernahmekommission dürfen laut Bundesverwaltungsgericht bei der Prüfung eines öffentlichen Übernahmeangebots (hier Quadrant) bezüglich der umstrittenen Bewertungsfragen grundsätzlich auf die Beurteilung einer Prüfstelle abstellen. Deren Beurteilung muss aber transparent, nachvollziehbar und plausibel sein. Das ist nicht der Fall, wenn die Prüfstelle - wie im konkreten Fall - lediglich eine gesamthafte Betrachtung anstellt und die wesentlichen Leistungen und Gegenleistungen nicht einzeln feststellt und bewertet. Ihre Beurteilung muss die Prüfstelle zudem entsprechend begründen.
B-5272/2009 vom 30.11.2010
Blutprobe verbal verhindern
Laut der strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts ist es nicht erforderlich, dass sich die betroffene Person körperlich zur Wehr setzt, um den Tatbestand der Vereitelung einer Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit (Art. 91a SVG) zu erfüllen. Verbaler Widerstand kann ausreichen. Im konkreten Fall hat der Autolenker mit seinem renitenten und aggressiven Verhalten die reibungslose Durchführung der Untersuchungshandlungen verunmöglicht.
6B_680/2010 vom 2.11.2010
Quellenschutz für Blog-Kommentare
Medienhäuser dürfen gegenüber der Justiz die Identität der Verfasser von Blog-Kommentaren geheim halten, sofern ihr Beitrag ein Minimum an Information enthält. In einem Blog auf der Homepage des Schweizer Fernsehens (SF) zur Sendung «Alpenfestung, Leben im Reduit» hatte eine Person unter falschem Namen einen Kommentar verfasst, der primär einer privaten Abrechnung diente. In einer Anzeige wegen Ehrverletzung wurde SF zur Bekanntgabe der IP-Adresse des Verfassers aufgefordert. In einem Sitzungsentscheid hat die I. öffentlich-rechtliche Abteilung entschieden, dass sich Medienhäuser wie SF auch bei Verfassern solcher Kommentare auf den in Art. 28 StGB vorgesehen Quellenschutz berufen dürfen. Voraussetzung ist, dass der Kommentar ein Minimum an Information enthält. Dabei sind keine hohen Anforderungen zu stellen, zumal heutzutage bei gewissen journalistischen Formen die Abgrenzung zwischen Information und Unterhaltung nicht immer leicht ist.
Öffentliche Beratung vom 10. November 2010 im Verfahren 1B_44/2010; die schriftliche Begründung ist noch ausstehend
Sozialhilfebetrug durch Verschweigen
Das Bundesgericht hat die Betrugsverurteilung eines Basler Ehepaars bestätigt, das gegenüber den Sozialhilfebehörden den Hauswartsjob des Ehemannes verschwiegen hat. Das Paar hatte im unterzeichneten Unterstützungsgesuch angegeben, dass der Mann arbeitslos sei, und sein monatliches Einkommen von 400 Franken für die Arbeit als Hauswart verschwiegen. Laut der strafrechtlichen Abteilung steht fest, dass die beiden die Sozialhilfebehörden mit dem Verschweigen der Nebenbeschäftigung arglistig getäuscht haben. Das Gericht räumt ein, dass die Behörden möglicherweise nicht alles unternommen haben, um den Schwindel aufzudecken, zumal das Hauswartseinkommen bei den Steuern deklariert wurde. Ein leichtfertiges Verhalten kann dem Sozialamt aber nicht vorgeworfen werden. Vielmehr sind es die Beschwerdeführer, die davon ausgegangen sind, dass das Amt angesichts der Überlastung nicht aktiv nach Einkommensquellen suchen wird.
6B_689/2010 vom 25.10.2010
Zivildienstverschiebung wegen Kinderbetreuung
Das Bundesverwaltungsgericht erlaubt einem Zürcher Vater, wegen Problemen bei der Betreuung seiner Tochter seinen Zivildienst zu verschieben. Die zuständige Vollzugsstelle hatte ein Verschiebungsgesuch des Mannes abgelehnt, da trotz der Dreifachbelastung durch Beruf, Studium und Kinderbetreuung kein Härtefall vorliege. Laut den Richtern in Bern kommt im konkreten Fall dem Recht auf Achtung des Familienlebens grösseres Gewicht zu als dem Interesse an einer Leistung des Zivildienstes noch im Jahr 2010. Die Ablehnung des Verschiebungsgesuches ist deshalb unverhältnismässig. Der Mann ist bei seinem Angebot zu behaften, den Einsatz 2011 zu leisten.
B-4135/2010 vom 3.11.2010
Vertiefte Abklärungen zu Guantánamo-Häftling
Das Bundesamt für Migration (BFM) muss das Asylgesuch eines libyschen Guantánamo-Häftlings vertieft prüfen. Der Mann war vor mehr als zehn Jahren aus Libyen nach Afghanistan geflüchtet, wo er heiratete. Im Oktober 2001 wurde er in Pakistan auf der Flucht vor den amerikanischen Bombenangriffen angeblich gegen ein Kopfgeld dem US-Militär übergeben und anschliessend nach Guantánamo überführt. 2006 wurde er zwar offiziell zum Transfer aus dem amerikanisch geführten Camp auf Kuba freigegeben, verblieb aber vorerst weiter dort, da seine Aufnahme durch einen Drittstaat ungeklärt blieb. 2008 stellte er von Guantánamo aus ein Asylgesuch in der Schweiz, das vom BFM noch im gleichen Jahr abgewiesen wurde. Die Richter in Bern verlangen nun vom BFM vertiefte Abklärungen dazu, ob er in Albanien, wohin er von den USA transferiert wurde, ausreichend betreut wird. Untersucht werden muss vor allem, ob er in Albanien aufgrund seiner mutmasslichen psychischen und physischen Probleme die notwendige professionelle Hilfe erhält. Falls ihm der weitere Aufenthalt in Albanien nicht zuzumuten wäre, muss das BFM vertieft abklären, ob er tatsächlich ein Sicherheitsrisiko darstellt. Das BFM ist in diesem Punkt bisher sehr vage geblieben und hat mit blossen Mutmassungen versucht, den terroristischen Hintergrund des Betroffenen zu begründen.
E-8015/2008 vom 8.11.2010
Keine Werbung für billigen Schnaps
Ausgangslokale dürfen nicht damit werben, an gewissen Abenden sämtliche Getränke zu einem tiefen Einheitspreis abzugeben. Das Bundesgericht stützt den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts und der Eidgenössischen Alkoholverwaltung, wonach solche Anpreisungen gegen das Werbeverbot für gebrannte Wasser zu vergünstigten Preisen verstossen (Art. 42b Abs. 2 AlkG). Laut den Richtern der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung entsteht durch die Ankündigung eines Einheitspreises der Eindruck einer Vergünstigung. Dass die Getränke am sogenannten «Schägge-Fritig» in einem St. Galler Lokal zu fünf Franken abgegeben werden, impliziert zwangsläufig, dass der Preis an anderen Tagen höher ist. Ob tatsächlich eine Vergünstigung gewährt wird, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass der Gast dies glaubt und wegen der Werbung mehr gebrannte Wasser konsumiert.
Urteil 2C_468/2010 vom 6.10.2010
PJ
Zur Publikation vorgesehen
Staats-/Verwaltungsrecht
Sieht das kantonale Recht eine abstrakte Normenkontrolle vor, ohne für die Beschwerdeeinreichung eine bestimmte Frist festzulegen (Kanton Aargau «jederzeit») so muss innert dreissig Tagen nach Inkrafttreten des Erlasses kantonale Beschwerde erhoben werden, damit anschliessend auch vor Bundesgericht die abstrakte Normenkontrolle verlangt werden kann.
2C_275/2009 vom 26.10.2010
Die Dauer eines erfolglosen Asylverfahrens gilt nicht als «ordnungsgemässer Aufenthalt» im Sinne von Art. 63 Abs. 2 des AuG (Widerruf der Niederlassungsbewilligung wegen falschen Angaben ausgeschlossen nach 15 Jahren ordnungsgemässem Aufenthalt).
2C_478/2010 vom 17.11.2010
Ein Gesuch um Haftprüfung des neu in Ausschaffungshaft versetzten Ausländers muss vom Richter umgehend an die Hand genommen werden (Art. 5 Ziff. 4 EMRK und Abs. 31 Abs. 4 BV, genaues Zeitlimit für Haftentscheid offen gelassen). Das Eintreten auf das Gesuch darf nicht unter Verweis auf Artikel 80 Abs. 2 AuG (automatische Haftprüfung innert 96 Stunden) verwehrt werden.
2C_823/2009 vom 19.10.2010
Bei der Berechnung der Wahlkreis-Wählerzahlen (Wahl des Einwohnerrats Aarau 2009) sind gewisse Rundungen mit Art. 34 und Art. 8 Abs. 1 BV vereinbar.
1C_253/2010 vom 8.11.2010
Strafrecht
Geldwäscherei durch Unterlassung (Art. 305 bis StGB): Finanzintermediäre können sich bei der Entgegennahme und Verwaltung von Kundengeldern (krimineller Herkunft) der Geldwäscherei schuldig machen, wenn sie die Abklärungen nicht vornehmen, die sich aus ihrer Garantenstellung ergeben.
6B_908/2009 vom 3.11.2010
Aufhebung der Verurteilung eines Solothurner Rechtsanwalts wegen falscher Anschuldigung (Art. 303 StGB): Aus dem Umstand, dass das aufgrund seiner Anzeige gegen zwei Untersuchungsrichter eröffnete Strafverfahren eingestellt wurde, kann nicht abgeleitet werden, dass der Rechtsanwalt die Anzeige wider besseren Wissens gegen Nichtschuldige erhoben hat.
6B_600/2010 vom 26.11.2010
Zivilrecht
Die Probezeit (335b OR) darf nicht um die Dauer eines in dieser Phase gewährten unbezahlten Urlaubs verlängert werden.
4A_406/2010 vom 14.10.2010
Der Weisungsbefugnis des Auftraggebers im Rahmen eines Agenturvertrages sind auch unter Berücksichtigung der Treuepflicht des Agenten enge Grenzen gesetzt. Dem Agenten kann keine Vertragsverletzung vorgeworfen werden, wenn er sich weigert, mit einer neu geschaffenen Verkaufsorganisation des Auftraggebers zusammenzuarbeiten.
4A_229/2010 vom 7.10.2010
Die Entlassung eines Teils der Belegschaft im Hinblick auf eine Geschäftsübertragung stellt keinen Rechtsmissbrauch dar (betreffend Übergang der Arbeitsverhältnisse gemäss Art. 333ff. OR), wenn dafür wirtschaftliche Gründe bestehen (notwendige Reorganisation der zu übernehmenden Firma).
4A_348/2010 vom 8.10.2010
Ein Lohnzuschlag für Überarbeitszeit ist im Geltungsbereich der Chauffeur-Verordnung zwingend.
4A_259/2010 vom 2.9.2010
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
Für Beschwerden gegen Gerichtsentscheide im Rahmen einer Wechselbetreibung gilt die normale dreissigtägige Frist von Art. 100 Abs. 1 BGG und nicht die verkürzte von fünf Tagen von Art. 100 Abs. 3 lit. a BGG.
5A_531/2010 vom 25.11.2010
Bundes- und Völkerrecht verlangen nicht, Staaten für den Rechtsvorschlag gegen einen Zahlungsbefehl grundsätzlich sechzig Tage Frist zu gewähren (normal zehn Tage gemäss Art. 74 Abs. 1 SchKG). Das Betreibungsamt Bern-Mittelland hat einen Rechtsvorschlag Israels zu Recht als verspätet zurückgewiesen, der rund vierzig Tage nach Zustellung erhoben wurde.
5A_286/2010 vom 7.10.2010
Wird ein Darlehen gestützt auf einen Rahmenvertrag ohne Abschluss eines separaten Vertrages gewährt, kann der Rahmenkreditvertrag als Rechtsöffnungstitel gelten, wenn der Gläubiger die Auszahlung der Darlehenssumme zweifelsfrei nachzuweisen vermag.
5A_372/2010 vom 9.11.2010
Sozialversicherungsrecht
Zur Beurteilung der Kassenpflicht von Medikamenten ausserhalb der Spezialitätenliste muss eine Kosten-Wirksamkeits-Analyse durchgeführt werden. Im Zentrum steht das Gebot der Rechtsgleichheit: Für einzelne Versicherte dürfen nur so hohe Leistungen erbracht werden, wie sie in verallgemeinerungsfähiger Weise für alle anderen Personen in vergleichbarer Situation ebenfalls erbracht werden könnten.
9C_334/2010 vom 23.11.2010
PJ
Strassburg aktuell
Verfahrensgarantie bei Konflikten um Schulbesuch
Am 29. November 2005 musste das Bundesgericht die Beschwerde von Eltern aus der Gemeinde Ormont-Dessous beurteilen. Sie wehrten sich vergeblich dagegen, dass ihre Kinder den Unterricht in der Nachbargemeinde Les Diablerets besuchen müssen (Urteil 2P.198/
2005 der II öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts).
Die Eltern rügten in Strassburg, das Verfahren vor Bundesgericht habe die