Staatsrecht
Fehlinformation der Stimmbürger bleibt ohne Folgen
Die Verfassung ermöglicht den nachträglichen Rechtsschutz bei strittigen Abstimmungsergebnissen. Verletzt die Informationslage vor der Abstimmung die Abstimmungsfreiheit, wird die Abstimmung nicht wiederholt, wenn praktische Gründe und die Rechtssicherheit dagegen sprechen.
Sachverhalt:
Die Unternehmenssteuerreform wurde am 24. Februar 2008 knapp angenommen. Am 14. März 2011 erklärte die zuständige Bundesrätin, dass die Steuerausfälle höher seien als in den Abstimmungserläuterungen angekündigt. Drei Tage später reichte Margret Kiener Nellen beim Regierungsrat in Bern eine Abstimmungsbeschwerde ein, in welcher sie eine Verletzung der Abstimmungsfreiheit gemäss Art. 34 Abs. 2 BV wegen unzutreffender und unvollständiger Information der Stimmberechtigten rügte. Der Regierungsrat trat auf die Beschwerde wegen Verwirkung nicht ein, soweit er sie nicht zur weiteren Behandlung an den Bundesrat weitergeleitet hat. Gegen den Regierungsratsbeschluss erhob Kiener Nellen unter dem Titel «Abstimmungsbeschwerde/Revision» Beschwerde ans Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
4.3 Im vorliegenden Fall zeigt sich, dass das Bundesgesetz über die politischen Rechte eine namhafte Lücke aufweist. Obwohl der Wortlaut des Bundesgesetzes keinen nachträglichen Rechtsschutz kennt, wird ein solcher von Sinn und Zweck des Bundesgesetzes auch nicht im Sinne von Art. 29a BV ausgeschlossen. Ziel der Regelung im Allgemeinen ist es, dass Abstimmungen unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Abstimmungsfreiheit durchgeführt und mit dem vorgesehenen Beschwerdeweg zu einem raschen Abschluss gebracht werden.
Das schliesst es auch vor dem Hintergrund von Art. 190 BV nicht aus, dass in ausserordentlichen Situationen im genannten Sinne über den Wortlaut des Bundesgesetzes über die politischen Rechte hinaus gestützt auf das Verfassungsrecht nachträglicher Rechtsschutz gewährt wird. Die Möglichkeit eines nachträglichen Rechtsschutzes liegt denn letztlich auch dem Entscheid des Bundesrates vom 29. Juni 2011 zugrunde. Daran ändert nichts, dass er die Voraussetzungen hierfür im vorliegenden Fall verneinte und auf das Gesuch um Revision oder Wiedererwägung des Erwahrungsbeschlusses nicht eingetreten ist (Entscheid des Bundesrates vom 29. Juni 2011 E. 2).
Demnach ist das Bundesgesetz über die politischen Rechte in dem Sinne verfassungskonform auszulegen, dass die in Art. 77 Abs. 2 BPR genannten Beschwerdefristen die Möglichkeit einer Wiedererwägung oder Revision nicht ausschliessen. Vielmehr gilt für eidgenössische Abstimmungen im Rahmen des Bundesgesetzes über die politischen Rechte direkt gestützt auf die verfassungsmässigen Grundsätze von Art. 29 Abs. 1 BV in Verbindung mit Art. 29a BV ein Recht auf Überprüfung der Regularität von Volksabstimmungen und nachträglichen Rechtsschutz, wenn im Nachhinein eine massive Beeinflussung der Volksbefragung zutage tritt.
7.2 Die neuere Lehre geht nunmehr im Lichte der Justizreform vor dem Hintergrund von Art. 189 Abs. 4 BV davon aus - und kritisiert im gleichen Zug -, dass die Abstimmungserläuterungen des Bundesrates nicht gerichtlich überprüft und zum Gegenstand eines Stimmrechtsverfahrens gemacht werden könnten (vgl. Haller, a.a.O., N. 60 zu Art. 189; Tschannen, Staatsrecht, § 48 N. 41, S. 622; Steinmann, BGG-Kommentar, N. 95 zu Art. 82; Rhinow / Koller / Kiss / Thurnherr/
Brühl-Moser, a.a.O., N. 1898; Hansjörg Seiler, «Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Verfassungsrecht, Richterrecht und Politik», in: ZSR 2010 II 381, 396, 475 f. und 520; Alain Wurzburger, Commentaire LTF, 2009, N. 136 zu Art. 82; Bénédicte Tornay, La démocratie directe saisie par le juge, 2008, S. 41 und 47; Michel Besson, «Der Schutz der politischen Rechte auf Bundesebene», in: Festschrift für Heinrich Koller, 2006, S. 219, 227 f.; Michel Besson, «Die Beschwerde in Stimmrechtssachen», in: Die Reorganisation der Bundesrechtspflege - Neuerungen und Auswirkungen in der Praxis, 2006, S. 403, 424). Die Unanfechtbarkeit der Erläuterungen gilt im Grundsatz nicht nur für den Gesamtbundesrat, sondern erstreckt sich auch auf Äusserungen einzelner Bundesräte, soweit sie im Vorfeld von Volksabstimmungen in der politischen Diskussion im Wesentlichen deren Inhalt wiedergeben (vgl. Steinmann, BGG-Kommentar, N. 95 zu Art. 82 mit weiteren Hinweisen). Vor diesem Hintergrund fällt eine direkte Anfechtung der bundesrätlichen Erläuterungen ausser Betracht. Ausgeschlossen ist namentlich, die Erläuterungen beim Bundesgericht mit dem Ziel anzufechten, diese förmlich aufheben oder abändern zu lassen.
7.4 Ungeachtet dieses prozessualen Ausschlusses kann indes die Informationslage im Vorfeld einer Volksabstimmung in allgemeiner Weise zum Gegenstand eines Verfahrens gemacht werden. Vor dem Hintergrund der konkreten Umstände steht letztlich die Abstimmungsfreiheit in Frage. Unter diesem Gesichtswinkel ist die Gesamtsituation der Berichterstattung von Bedeutung, in der sich die Stimmbürgerschaft vor einer Abstimmung befindet.
Dabei ist prozessual nicht von Belang, dass solche Informationen zum Teil auf die Erläuterungen des Bundesrates im Abstimmungsbüchlein oder auf Presseauftritte von Bundesräten zurückgehen und sich Medien implizit oder explizit daran ausrichten. In diesem Rahmen sind die Abstimmungserläuterungen des Bundesrates in die Frage einzubeziehen, ob die Stimmberechtigten ihre Meinung frei und sachbezogen haben bilden und äussern können und die Abstimmungsfreiheit gewahrt ist.
8.6 Für die Meinungsbildung der Stimmberechtigten kommt dem Umstand, dass sie über keinerlei Informationen zu den einnahmeseitigen Folgen des Kapitaleinlageprinzips verfügten, zentrale Bedeutung zu. Es blieben ihnen nicht nur Prognosen vorenthalten, deren Unsicherheit sie im Allgemeinen abschätzen können. Sie wurden auch in keiner Weise darüber ins Bild gesetzt, dass Schätzungen überhaupt nicht möglich gewesen und daher gar nicht erst ausgewiesen worden waren.
Bei Steuervorlagen kommt der Frage, welche Beträge dem Gemeinwesen zufliessen, stets ausschlaggebende Bedeutung zu. Bei Vorlagen wie der vorliegenden war von den Stimmberechtigten u.a. abzuwägen zwischen den Steuerentlastungen zugunsten gewisser Wirtschaftssubjekte im Dienste der Wirtschaftsförderung auf der einen Seite und den Mindereinnahmen für den Staat auf der andern Seite. Für diese Beurteilung wären Hinweise auf die Mindereinnahmen als Folge des Kapitaleinlageprinzips notwendig gewesen. Soweit solche aus den genannten Gründen nicht möglich waren, hätte die Transparenz der Information als unerlässliches Minimum erfordert, dass auf die Unschätzbarkeit der Steuereinbussen hingewiesen worden wäre. Erst ein solcher Hinweis hätte es den Stimmberechtigten erlaubt, sich eine sachgerechte Auffassung über die Vorlage zu bilden. Es fehlte ihnen somit eine wesentliche Grundlage für ihre Meinungsbildung.
In der Debatte vor der Abstimmung wurden auch Positionen vertreten, die von den Auffassungen der Befürworter abwichen. In den Abstimmungserläuterungen wurde klar zum Ausdruck gebracht, dass die Gegner der Vorlage mit Einbussen von 2 Milliarden Franken rechneten. Diese wiesen im Abstimmungskampf eindrücklich auf die Gefahr grosser Verluste für die Bundeskasse hin. Den Prognosen der Befürworter mit sehr moderaten Steuerausfällen standen somit die Prognosen der Gegner mit gewichtigen Steuerausfällen gegenüber.
Die Frage der finanziellen Folgen wurde im Vorfeld der Abstimmung heftig diskutiert. Den Stimmberechtigten musste bei dieser Sachlage bewusst sein, dass die finanziellen Konsequenzen umstritten waren. Es war den Stimmberechtigten allerdings nicht möglich, sich eine zuverlässige und sachgerechte Meinung zu bilden. Sie verfügten über keine Prognosen zu den Auswirkungen des Kapitaleinlageprinzips. Es fehlten ihnen gar Hinweise darauf, dass diese Auswirkungen nicht abschätzbar waren und einen wesentlichen Unsicherheitsfaktor darstellten. Solche Hinweise wären umso wichtiger gewesen, als die ausgewiesenen Steuereinbussen in den Bereichen der Dividenden und Liquidationsgewinne den Eindruck von Sicherheit und Verlässlichkeit hinterliessen.
Damit wurde den Stimmberechtigten eine ganz wesentliche Grundlage für eine verlässliche Meinungsbildung vorenthalten. Die Informationslage vor der Abstimmung zeigt somit gesamthaft, dass den Stimmberechtigten ausschlaggebende Elemente für die Meinungsbildung und -äusserung fehlten. Die bundesrätlichen Abstimmungserläuterungen vermittelten ihnen die unerlässliche Transparenz nicht. Diese waren nicht bloss unvollständig, sondern erwiesen sich wegen Unterdrückung wichtiger Elemente und bedeutender Gegebenheiten als unsachlich im Sinne der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung (oben E. 6.2). Die umfassende Betrachtung des Vorfeldes der Abstimmung führt somit zum Schluss, dass die Abstimmungsfreiheit im Sinne von Art. 34 Abs. 2 BV anlässlich der Volksabstimmung vom 24. Februar 2008 verletzt worden ist. Dieser Verletzung kommt umso grösseres Gewicht zu, als die Möglichkeit nicht auszuschliessen ist, dass sie sich wegen ihrer Schwere und in Anbetracht des knappen Resultats auf den Ausgang tatsächlich ausgewirkt hat.
8.7 Damit stellt sich die Frage nach den prozessualen Folgerungen, die aus der Verletzung der Abstimmungsfreiheit zu ziehen sind. Die Beschwerdeführerin stellt den Antrag, die Abstimmung vom 24. Februar 2008 für ungültig zu erklären und eine neue Abstimmung anzusetzen; im Eventualpunkt ersucht sie um förmliche Feststellung der Verletzung der Abstimmungsfreiheit.
Das Unternehmenssteuerreformgesetz wurde im Wesentlichen auf den 1. Januar 2009 in Kraft gesetzt; einzelne Teile galten bereits ab dem 1. Januar 2008, andere ab dem 1. Januar 2010 bzw. 2011. Das Gesetzeswerk steht somit bereits seit einiger Zeit in Kraft. In dieser Zeit haben die betroffenen Unternehmen ihre entsprechenden Dispositionen getroffen. Sie haben von den Möglichkeiten der Unternehmenssteuerreform bereits Gebrauch gemacht. Davon zeugen etwa die zahlreichen Anmeldungen für Rückzahlungen von Kapitaleinlagereserven. Allenfalls haben die Unternehmen im Vertrauen auf die Gesetzesgrundlage Vorkehrungen in Aussicht genommen, um in naher Zukunft die gebotenen Möglichkeiten umzusetzen. Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet im Sinne von Art. 5 BV Beständigkeit von in Kraft stehendem Gesetzesrecht. Es würde den Grundsätzen von Treu und Glauben nach Art. 9 BV krass widersprechen, wenn die auf das Unternehmenssteuerreformgesetz gestützten Dispositionen nachträglich durch Aufhebung der Volksabstimmung ihre Grundlage verlieren und demnach dahinfallen würden. Unter Aspekten der Rechtsgleichheit wäre kaum denkbar, dass bisher getroffenen Dispositionen aus Gründen von Treu und Glauben Bestand zugebilligt würde, neu angemeldete Vorkehren aber wegen Aufhebung der gesetzlichen Grundlage nicht mehr berücksichtigt würden (vgl. BGE 130 I 26 E. 8.1, S. 60; Urteil 1C_168/2008 vom 21. April E. 4, in: ZBl 111/2010, S. 56; je mit Hinweisen).
Auf der andern Seite haben die Behörden die Unternehmenssteuerreform bereits umgesetzt und in zahlreichen Fällen angewendet. Bei dieser Sachlage ist auch
unter praktischen Gesichtspunkten kaum vorstellbar, wie all die vorgenommenen Vorkehren steuertechnisch rückwirkend aufgehoben würden. Schliesslich ist allgemein zu bedenken, dass eine Wiederholung einer Abstimmung kaum mehr unter gleichen Voraussetzungen und Bedingungen vorgenommen werden kann (vgl. Tschannen, Stimmrecht und politische Verständigung, N. 229, S. 140). Aus einer gesamten Abwägung heraus ergibt sich, dass die Aufhebung der Abstimmung vom 24. Februar 2008 nicht in Betracht fällt. Demnach ist der entsprechende Antrag der Beschwerdeführerin abzuweisen.
Abzuweisen ist auch der Eventualantrag um förmliche Feststellung der Verletzung der Abstimmungsfreiheit. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist eine entsprechende Feststellung in diesem Zusammenhang jeweilen ins Dispositiv aufgenommen worden, wenn das Urteil einen ausgesprochenen Appellcharakter aufwies.
Ein solcher Appell steht in diesem Fall nicht zur Diskussion. Es sind mit Blick auf das Unternehmenssteuerreformgesetz II keine unmittelbaren abstimmungsspezifischen Vorkehren zu treffen, auf die mit einer förmlichen Feststellung Bezug zu nehmen wäre. Umgekehrt ist es nicht Sache des Bundesgerichts, vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Steuereinbussen zu allfälligen materiellen Folgen für die Unternehmenssteuerreform Stellung zu nehmen. Es genügt somit die Abweisung im Sinne der Erwägungen.
Urteil 1C_176/2011 der I. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 20. Dezember 2011 (siehe auch Urteil 1C_182/2011)
Verwaltungsrecht
Sozialhilfe: Kein hypothetisches Einkommen
Ein fiktiver Vermögensertrag darf nicht an die Leistungen der Sozialhilfe angerechnet werden. Im konkreten Fall rechtfertigen mangelnde Sprach- und Rechtskenntnisse und schlechte Gesundheit die unentgeltliche Rechtsverbeiständigung.
Sachverhalt:
Die Einzelfallkommission der Sozialbehörde der Stadt Zürich bewilligte S. am 13. August 2009 vorschussweise Unterstützungsleistungen und verpflichtete ihn, seine Liegenschaft in Serbien bis zum 31. Juli 2010 zu verkaufen sowie den Erlös der Stadt Zürich zurückzuerstatten. Weiter stellte die Einzellfallkommission fest, dass bei der Bedarfsberechnung von S. ab dem 1. September 2009 ein Vermögensertrag von Fr. 235.- berücksichtigt werde. Gegen diesen Entscheid legte S. bei der Sozialbehörde erfolglos Einsprache ein. S. rekurrierte daraufhin mit Eingabe vom 15. Februar 2011 beim Bezirksrat Zürich.
Aus den Erwägungen:
3.4 Seit Oktober 2005 hat der Rekurrent gemäss dem Unterstützungskontoauszug vom 8. März 2011 von der Rekursgegnerin wirtschaftliche Hilfe in der Höhe von insgesamt Fr. 97 002.70 erhalten. Der Rekurrent ist erstelltermassen Eigentümer einer Wohnung in Dubocka in Serbien (Liegenschaft Nummer 2100419). Der Rekurrent selbst veranschlagt den Marktwert seiner Eigentumswohnung auf Fr. 8000.- bis Fr. 10 000.-. Die Rekursgegnerin bewertet den Wert der im Alleineigentum des Rekurrenten stehenden Wohnung mit Fr. 49 840.-.
Sämtliche Vorbringen des Rekurrenten bezüglich der angeblichen Unmöglichkeit bzw. der angeblichen Unzumutbarkeit des Liegenschaftsverkaufes bleiben unbehelflich. Augrund der obgenannten Bestimmungen und Ausführungen sind Dispositiv-Ziffer 1, 2, 3 und 5 des Entscheides der Einzelfallkommission der Rekursgegnerin vom 13. August 2009 nicht zu beanstanden.
Jedoch ist die mit Dispositiv-Ziffer 6 des Entscheides der Einzelfallkommission der Rekursgegnerin vom 13. August 2009 angeordnete Anrechnung eines fiktiven Vermögensertrages von Fr. 235.- an die monatlichen Unterstützungsleistungen nicht rechtmässig, weil im Sozialhilferecht keine gesetzliche Grundlage für die Kürzung der wirtschaftlichen Hilfe anhand eines fiktiven Ertrages aus einem dem Hilfesuchenden gehörenden Grundstück vorhanden ist. Deshalb ist Dispositiv-Ziffer 6 des Entscheides der Einzelfallkommission der Rekursgegnerin vom 13. August 2009 aufzuheben.
4.2 Der Rekurrent lebt vollumfänglich von Sozialhilfe und ist deshalb als mittellos einzustufen (SB act. I.1). Die Begehren des Rekurrenten erscheinen nicht von vornherein als aussichtslos. Die Anordnungen der Rekursgegnerin auf Verwertung seiner Liegenschaft und auf Rückerstattung der wirtschaftlichen Hilfe greifen stark in die Rechtsstellung des Rekurrenten ein. Zudem sind im vorliegenden Verfahren tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten auszumachen, denen der Rekurrent auf sich alleine gestellt nicht gewachsen gewesen wäre (Gesundheit, Sprach- und Rechtskenntnisse). Deshalb ist das Gesuch des Rekurrenten um unentgeltliche Rechtsverbeiständigung gutzuheissen.
Beschluss SO.2011.15/4.02.01 des Bezirksrates Zürich vom 13. Oktober 2011
Steuerrecht
LL.M. ist Ausbildung, nicht Weiterbildung
Ein LL.M. ist nicht eng an den bestehenden Beruf geknüpft und dient der Vergrösserung der Berufsaufstiegschancen. Die Ausgaben für den LL.M. sind entsprechend Ausbildungskosten und keine steuerrechtlich abzugsfähigen Weiterbildungskosten.
Sachverhalt:
X. machte in seiner Steuererklärung den Betrag von Fr. 37 706.-, die er für die Erlangung des LL.M. aufgewendet hatte, als Weiterbildungskosten geltend. Die Veranlagungsbehörde wies dies und die Beschwerde dagegen ab. X. legte Rekurs und Beschwerde bei dem Steuergericht des Kantons Solothurn ein, welches den Betrag als abzugsfähige Weiterbildungskosten akzeptierte. Das Steueramt des Kantons Solothurn gelangte mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
2.1 Im Rahmen der direkten Bundessteuer erhebt der Bund gemäss Art. 1 lit. a des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11) eine Einkommenssteuer von den natürlichen Personen. Zu diesem Zweck wird das Reineinkommen ermittelt, indem von den gesamten steuerbaren Einkünften die Aufwendungen und die allgemeinen Abzüge nach Art. 26-33 DBG abgezogen werden (Art. 25 DBG).
Nach Art. 26 Abs. 1 lit. d DBG werden insbesondere «die mit dem Beruf zusammenhängenden Weiterbildungs- und Umschulungskosten» zum Abzug zugelassen. Damit soll nach dem Willen des Gesetzgebers das gleiche Kriterium angewendet werden wie bei den Gewinnungskosten Selbständigerwerbender, die nach Art. 27 Abs. 1 DBG die «geschäfts- oder berufsmässig begründeten Kosten» abziehen können. Nach der Rechtsprechung sind alle Kosten der Weiterbildung abzugsfähig, die objektiv mit dem gegenwärtigen Beruf des Steuerpflichtigen im Zusammenhang stehen und die der Steuerpflichtige zur Erhaltung seiner beruflichen Chancen für angezeigt hält, auch wenn sich die Ausgabe als nicht absolut unerlässlich erweist, um die gegenwärtige berufliche Stellung nicht einzubüssen (BGE 124 II 29 E. 3a-d, S. 32 ff.; 113 Ib 114 E. 2c-e, S. 118 f., je mit Hinweisen; Urteile 2C_750/2009 vom 26. Mai 2010, E. 2, in StR 65/2010, S. 675; 2C_589/2007 vom 9. April 2008, E. 3.1, in StE 2008 B 22.3 Nr. 96; 2A.623/2004 vom 6. Juli 2005, in StE 2006 B 22.3 Nr. 86, und 2A.277/2003 vom 18. Dezember 2003, E. 2.1, in StR 59/2004, S. 451).
2.2 Als «mit dem Beruf zusammenhängende Weiterbildungskosten» sind indessen nur solche Kosten abziehbar, die im Rahmen des bereits erlernten und ausgeübten Berufs anfallen, nicht dagegen die «Ausbildungskosten» im Sinne von Art. 34 lit. b DBG für die erstmalige Aufnahme einer Berufstätigkeit bzw. für einen neuen (oder zusätzlichen) Beruf.
Zur Anerkennung als abzugsfähige Weiterbildungskosten ist es aber nicht notwendig, dass der Steuerpflichtige das Erwerbseinkommen ohne die streitige Auslage überhaupt nicht hätte erzielen können; vielmehr ist lediglich darauf abzustellen, ob die Aufwendungen für die Erzielung des Einkommens nützlich sind und nach der Verkehrsauffassung im Rahmen des Üblichen liegen. Dazu gehören nicht nur Anstrengungen, um den Stand bereits erworbener Fähigkeiten zu erhalten, sondern vor allem auch der Erwerb verbesserter Kenntnisse für die Ausübung des gleichen Berufs.
Abzugsfähig sind insbesondere Fortbildungskosten zur Sicherung der bisherigen Stelle ohne im Wesentlichen zusätzliche Berufschancen. Hingegen sind Auslagen für eine Fortbildung, die zum Aufstieg in eine eindeutig vom bisherigen Beruf zu unterscheidende höhere Berufsstellung (sogenannte Berufsaufstiegskosten) oder gar zum Umstieg in einen anderen Beruf dient, keine Weiterbildungskosten im Sinne von Art. 26 Abs. 1 lit. d DBG. Sie werden nicht für eine Weiterbildung im Rahmen des bereits erlernten und ausgeübten Berufs erbracht, sondern letztlich für eine neue Ausbildung.
Auslagen, die anfallen, um die notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse zur Ausübung eines eigentlichen Berufs zu erlernen (z.B. Lehre, Handelsschule, Matura, Studium, Nachdiplomstudien usw.), sind demnach als Ausbildungskosten auch dann nicht abziehbar, wenn die Fortbildung berufsbegleitend absolviert wird, im Ergebnis aber dem Aufstieg in eine vom bisherigen Beruf eindeutig unterscheidbare höhere Berufsstellung dient (BGE 124 II 29 E. 3a, S. 32, und E. 3d, S. 34; 113 Ib 114 E. 2 und 3; Urteile 2C_750/2009 vom 26. Mai 2010, E. 2, in StR 65/2010, S. 675; 2C_589/2007 vom 9. April 2008, E. 3.2, in StE 2008 B 22.3 Nr. 96; 2A.671/2004 vom 6. Juli 2005; 2A.623/2004 vom 6. Juli 2005, in StE 2006 B 22.3 Nr. 86, und 2A.277/2003 vom 18. Dezember 2003, E. 2.1, in StR 59/2004, S. 451).
Um Berufsaufstiegskosten handelt es sich auch dann, wenn die absolvierte Ausbildung zu wesentlichen Zusatzkenntnissen mit eigenem Wert führt und die Berufsaussichten deutlich verbessert, im Gegensatz zu einer blossen Aktualisierung und Vertiefung vorhandener Kenntnisse (vgl. dazu u.a. StE 2010 B 27.6 Nr. 16 E. 2.3.2; StE 2006 B 22.3 Nr. 85 E. 2.4.4; StR 61/2006 S. 41 E. 3.1.2).
4.1 Entscheidend für die Unterscheidung von Aus- und Weiterbildung sind die konkreten Umstände und der Inhalt der absolvierten Fortbildung. Zwingende abstrakte Kriterien gibt es dafür nicht; es können sich aber aus allgemeinen Zusammenhängen Anhaltspunkte ergeben. Wird etwa eine Fortbildung berufsbegleitend absolviert, spricht dies grundsätzlich eher für eine Weiter- als eine Zusatzausbildung. Das kann sich aber anders verhalten bei Teilzeitarbeit, um sich daneben fortzubilden, oder wenn mit dem Arbeitgeber ein Förderungsprogramm zwecks Berufsaufstiegs vereinbart wurde.
Wird demgegenüber für die Fortbildung eine bereits begonnene Berufstätigkeit unterbrochen oder sogar vorher eine Stelle aufgegeben und danach eine neue angenommen, dürfte es sich regelmässig eher um eine Ausbildung handeln. Ausnahmen sind aber auch hier möglich, insbesondere wenn nach langjähriger Berufstätigkeit im Sinne einer Auszeit («sabbatical») lediglich eine fachliche oder geistige Horizonterweiterung angestrebt wird, ohne dass die herkömmliche Berufstätigkeit tatsächlich eine Änderung oder Erweiterung erfahren soll und erfährt.
4.2 Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hatte sich namentlich wiederholt mit der Beurteilung von Nachdiplomstudiengängen zum Erwerb des MBA (Master of Business Administration) zu befassen. Meist wurde dabei das Gewicht darauf gelegt, dass die Vergrösserung der Berufsaufstiegschancen im Vordergrund stand, weshalb die entsprechenden Kosten regelmässig nicht zum Abzug zugelassen wurden, obwohl der MBA-Titel häufig berufsbegleitend und oft auch erst nach längerer beruflicher Tätigkeit erworben wird (vgl. insbesondere die Bundesgerichts-Urteile 2C_750/2009 vom 26. Mai 2010 in StR 65/2010, S. 675; 2A.424/2005 vom 28. April 2006 in RtiD 2006 II 524; 2A.623/2004 vom 6. Juli 2005 in StE 2006 B 22.3 Nr. 86; 2A.277/2003 vom 18. Dezember 2003 in StR 59/2004, S. 451).
4.3 Im Vergleich dazu ist das LL.M.-Studium deutlich weniger an eine bereits bestehende Berufstätigkeit geknüpft. Namentlich das LL.M.-Studium an US-amerikanischen Universitäten stellt eine eigentliche rechtswissenschaftliche Ausbildung dar, die im Anschluss an ein rechtswissenschaftliches Grundstudium absolviert werden kann. Verglichen mit einem schweizerischen Studienabschluss oder Anwaltspatent werden aber wesentlich andere Kenntnisse vermittelt, da amerikanisches Recht unterrichtet wird. Mit dem Studium ist sodann der Erwerb bzw. der vertiefte Gebrauch der englischen (bzw. US-amerikanischen) Fachsprache verbunden. Das LL.M.-Studium bildet oft die Fortsetzung der beruflichen Grundausbildung schweizerischer Juristen und wird in der Regel mehr oder weniger unmittelbar im Anschluss an das hiesige Studium absolviert. Diesfalls zählt es zur Aus- und nicht zur Weiterbildung.
Wird der LL.M. allerdings erst nach einer gewissen Berufstätigkeit erworben, gilt es anhand der tatsächlichen Umstände der Berufsausübung und der Lehrinhalte zu differenzieren. Besteht fachliche Kongruenz zwischen der bisherigen Berufstätigkeit und den neu erworbenen Kenntnissen, dient das LL.M.-Studium der Weiterbildung. Vermittelt dieses jedoch neues Fachwissen und eröffnet es mithin erweiterte berufliche Möglichkeiten, handelt es sich, abgesehen von besonderen Ausnahmesituationen wie einem «sabbatical», um eine nicht abzugsfähige Zusatzausbildung.
4.4 Die Kosten des vom Beschwerdegegner absolvierten LL.M.-Studienganges betrugen insgesamt über Fr. 70 000.-. Bereits eine solche hohe Investition spricht nicht dafür, dass es sich lediglich um eine Weiterbildung im Rahmen der bisherigen Berufstätigkeit handelte. Der Beschwerdegegner war denn auch vor der Absolvierung des LL.M.-Studiums in einer Anwaltskanzlei mit zwei Partnern mit einem Monatsgehalt von brutto Fr. 6500.- angestellt. Der Studiengang wurde nicht berufsbegleitend absolviert, sondern bedingte im Gegenteil einen vollzeitlichen Auslandaufenthalt. Es gibt auch keine Hinweise dafür, dass es sich um eine vom Arbeitgeber gewährte Auszeit handelte. Unmittelbar nach dem LL.M.-Studium fand der Beschwerdegegner im Juli 2005 in einer grösseren Anwaltskanzlei mit damals sieben Anwälten eine neue Anstellung, die mit einem Monatssalär von brutto Fr. 8500.- verbunden war. Wiederum zwei Jahre später arbeitete er im Rechtsdienst der Schweizer Gesellschaft eines weltweit operierenden Pharmakonzerns mit anglophonem Hauptsitz. Selbst wenn inhaltlich gewisse Überschneidungen der Bereiche der neu erworbenen Fachkenntnisse mit der ursprünglichen beruflichen Tätigkeit bestanden, so diente der Studiengang doch klarerweise der Erweiterung dieser Kenntnisse und der Verbesserung der beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten. Es handelt sich damit beim geleisteten finanziellen Aufwand nicht um abzugsfähige Weiterbildungskosten, sondern um solche einer eigentlichen Zusatzausbildung; es sind damit entgegen der Ansicht der Vorinstanz Berufsaufstiegskosten, die nicht zum Abzug zugelassen werden können.
Urteil 2C_28/2011 der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 15. November 2011
Sozialversicherungsrecht
Fristverlängerungsgesuch ist präzise zu begründen
Ersucht ein Anwalt um eine Fristverlängerung wegen noch nicht vorliegenden Akten, muss er dies ausdrücklich so begründen. Macht er nur mangelnde Zeit für das Aktenstudium geltend, kann das Gericht das Gesuch aus formellen Gründen ablehnen.
Sachverhalt:
Die IV-Stelle des Kantons Zürich verneinte den Anspruch des M. auf eine Rente der Invalidenversicherung. Auf die dagegen erhobene Beschwerde des anwaltlich vertretenen M. trat das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich aus formellen Gründen nicht ein. Gegen diesen Beschluss führt M. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Schweizerische Bundesgericht. M. fordert darin, das Sozialversicherungsgericht habe seinem Rechtsvertreter eine angemessene Frist zur Begründung des Rekurses anzusetzen.
Aus den Erwägungen:
2.1 Es ist unbestritten, dass die am letzten Tag der Frist zur Anfechtung der Verfügung vom 2. Februar 2011 (Art. 60 Abs. 1 ATSG) erhobene Beschwerde vom 7. März 2011 den Anforderungen an die Begründung nach Art. 61 lit. b Satz 1 ATSG nicht genügte. Darin führte der Rechtsvertreter des Versicherten u.a. aus: «Ich wurde vom Beschwerdeführer erst am 1. März 2011 mandatiert. In den wenigen Tagen bis zum Ablauf der Beschwerdefrist am 7. März 2011 fehlte mir die Zeit, mich in die wesentlichen Akten einzuarbeiten. Ich ersuche Sie deshalb um Ansetzung einer Frist von dreissig Tagen, um die vorliegende Beschwerde im Einzelnen zu begründen.»
Die Vorinstanz hat diesem Begehren nicht stattgegeben, dies im Wesentlichen mit der Begründung, dem Rechtsvertreter des Versicherten seien die Akten im Zeitpunkt der Mandatierung am 1. März 2011 und bis zum Ablauf der Beschwerdefrist zur Verfügung gestanden. Es seien ihm somit vier volle Arbeitstage verblieben, was objektiv betrachtet für die Einarbeitung in die Akten sowie die Ausarbeitung und Begründung der Beschwerde ausgereicht habe. Er mache im Ergebnis Umstände geltend, die ausschliesslich in seiner Person lägen, wie etwa eine Überlastung mit Mandaten und daraus sich ergebende fehlende Zeit, was vom Schutzgedanken der Nachfrist von Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG jedoch nicht umfasst sei.
2.2 Der Beschwerdeführer bestreitet die vorinstanzliche Interpretation, weil sie auf der unzutreffenden Annahme beruhe, seinem Rechtsvertreter hätten die Akten bereits im Zeitpunkt der Mandatierung, spätestens aber bei Einreichung der Beschwerdeanträge am 7. März 2011 vorgelegen. Sein Anwalt sei einzig im Besitz der Verfügung vom 2. Februar 2011 gewesen, weshalb er mit Schreiben vom 3. März 2011 bei der IV-Stelle die Akten angefordert habe.
2.3.1 Die vertrauenstheoretische Auslegung einer Rechtsschrift bestimmt sich gleich wie die Auslegung einer rechtsgeschäftlichen Willenserklärung nach Bundesrecht, wobei darauf abzustellen ist, wie die zur Diskussion Anlass gebenden Vorbringen nach Treu und Glauben verstanden werden mussten (Urteil 4C.180/2002 vom 26. August 2002 E. 1.3).
2.3.2 Die Vorinstanz durfte aus dem fraglichen Passus in der Eingabe vom 7. März 2011: «In den wenigen Tagen bis zum Ablauf der Beschwerdefrist (...) fehlte mir die Zeit, mich in die wesentlichen Akten einzuarbeiten», in guten Treuen schliessen, der Rechtsvertreter des Versicherten habe schon über die Akten verfügt. Dass dem zumindest in Bezug auf die medizinischen Akten seit 2008 nicht so war, wie die erst im letztinstanzlichen Verfahren eingereichten und daher an sich unzulässigen (Art. 99 Abs. 1 BGG) Dokumente zeigen, ändert nichts daran.
Die - zu Unrecht beanstandete - vorinstanzliche Interpretation beruht auch nicht auf einem in Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes unvollständig festgestellten Sachverhalt (Art. 61 lit. c ATSG). Vielmehr wäre der Beschwerdeführer aufgrund seiner gesetzlichen Mitwirkungspflicht gehalten gewesen, das Schreiben an die IV-Stelle vom 3. März 2011, in welchem er um Edition der medizinischen Akten seit 2008 ersuchte, der Vorinstanz einzureichen und auch die Zustellung der Akten (in Kopie) am 16. März 2011 mitzuteilen, nachdem er bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts vom Gericht gehört hatte. Die vorinstanzlich abgelehnte Ansetzung einer Nachfrist zur Verbesserung der Beschwerde vom 7. März 2011 verletzt daher Bundesrecht nicht.
Urteil 9C_324/2011 der II. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 8. August 2011
Kommentar:
Wann darf ein Anwalt eine vorsorgliche Beschwerde einreichen und wann nicht? Das Bundesgericht hat mit dem Entscheid 9C_324/2011 im Vergleich zu der bisherigen relativ liberalen Rechtsprechung einen erheblichen Rückschritt gemacht.
Gemäss BGE 134 V 162 durfte eine Anwältin, die am letzten Tag der Frist noch nicht über die IV-Akten verfügte, beim kantonalen Gericht eine vorsorgliche Beschwerde einreichen, auch wenn sie erst eine Woche nach Mandatierung um Akteneinsicht ersucht hat. Gemäss Urteil 9C_248/2010 darf auch ein Anwalt, der schon seit fast einem Jahr mandatiert ist, eine vorsorgliche Beschwerde einreichen, wenn er bei Fristablauf noch nicht über die Akten verfügt.
Gemäss vorliegendem Urteil müssen dem Anwalt vier Arbeitstage genügen, um die Akten zu studieren, mit dem Mandanten und den Ärzten zu sprechen und eine begründete Beschwerde zu verfassen. Absolut stossend ist die «vertrauenstheoretische Auslegung» der etwas unglücklichen Wortwahl des Anwalts. Er hatte die vorsorgliche Beschwerde nicht mit fehlender Aktenkenntnis begründet, sondern fälschlicherweise damit, er habe keine Zeit gehabt, sich in die Akten einzuarbeiten. Mit einem Blick in die Gerichtsakten hätten die Richter aber sofort gesehen, dass die IV-Akten dem Anwalt erst neun Tage nach Ablauf der Beschwerdefrist zugestellt worden waren.
Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die «vertrauenstheoretische Auslegung» Vorrang haben soll vor einem kurzen Blick in die Verfahrensakten, wenn der Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären ist. Dies widerspricht Art. 61 lit. c ATSG und stellt lupenreine Verhandlungsmaxime dar.
Pierre Heusser, Rechtsanwalt, Zürich
Strafprozessrecht
Rascher Entscheid über amtliche Verteidigung nötig
Die Staatsanwaltschaft muss über den Antrag auf amtliche Verteidigung unverzüglich entscheiden, sofern die notwendigen Informationen vorliegen. Kann ein Bagatellfall nicht ausgeschlossen werden, ist die amtliche Verteidigung zu prüfen.
Sachverhalt:
X. wurde sexueller Handlungen mit Kindern beschuldigt und stellte im hängigen Strafverfahren am 25. Mai 2011 ein Gesuch um Bewilligung der amtlichen Verteidigung. Mit Verfügung vom 26. Juli wies die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft das Gesuch ab. X. erhob dagegen beim Kantonsgericht Basel-Landschaft Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
2.3 Im vorliegenden Fall beantragte der Beschwerdeführer am 25. Mai 2011 bei der Staatsanwaltschaft die Bewilligung der amtlichen Verteidigung. Mit Schreiben vom 15. Juni 2011 bat er die Staatsanwaltschaft erneut darum, über diesen Antrag zu entscheiden. Mit Eingabe vom 22. Juni 2011 teilte er schliesslich der Staatsanwaltschaft mit, dass er gezwungen sei, eine Aufsichts- resp. Rechtsverweigerungsbeschwerde einzureichen, wenn nicht bis zum 5. August 2011 über seinen Antrag entschieden werde. Bis zum Erlass der Verfügung vom 26. Juli 2011 vergingen also tatsächlich zwei Monate. Diese Zeitspanne erscheint im konkreten Fall aus den nachfolgenden Gründen als zu lange.
Zum einen steht fest, dass die für den fraglichen Entscheid der Staatsanwaltschaft über den Antrag auf Bestellung einer amtlichen Verteidigung notwendigen Informationen schon kurze Zeit nach der Eröffnung des Strafverfahrens bekannt waren. Die Privatklägerin war am Tag nach der Anzeigeerstattung, nämlich am 19. Mai 2011, einvernommen und der beschuldigte Beschwerdeführer am 25. Mai 2011 erstmals befragt worden. Das in Auftrag gegebene rechtsmedizinische Gutachten datiert vom 25. Mai 2011. Der strafrechtlich relevante Sachverhalt stand also - zumindest in groben Zügen - bereits in einem frühen Verfahrensstadium fest.
Die involvierten Parteien waren der Staatsanwaltschaft bekannt, Zum anderen gab es - soweit ersichtlich - auch keine anderweitigen rechtlich oder tatsächlich schwierigen Fragen, die im Zusammenhang mit der amtlichen Verteidigung beurteilt werden mussten. So erübrigte sich insbesondere eine nähere Abklärung der Mittellosigkeit des Beschwerdeführers, weil die Staatsanwaltschaft in ihrer Verfügung vom 26. Juli 2011 davon ausging, dass im vorliegenden Fall eine Verteidigung zur Interessenwahrung nicht erforderlich sei und damit bereits die erste Voraussetzung für die Bewilligung der amtlichen Verteidigung gemäss Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO verneinte. Es waren also keine langwierigen Abklärungen notwendig, Aus diesem Grund vermögen auch die von der Staatsanwaltschaft geltend gemachten faktischen Umstände (Ferien der für den Fall zuständigen Personen, zeitaufwendige Anklagevertretungen und anderweitige Fallbelastung) die Dauer von zwei Monaten bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung nicht hinreichend zu begründen. Die Staatsanwaltschaft hätte nach Ansicht des Kantonsgerichts ohne weiteres in einem früheren Zeitpunkt über das Gesuch des Beschwerdeführers befinden können und müssen.
4.3 Die Staatsanwaltschaft führt in ihrer Verfügung vom 26. Juli 2011 aus, es könne im aktuellen Zeitpunkt noch nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass ein Bagatellfall vorliege. Es stehe aber fest, dass das Strafmass den Bereich eines Bagatellfalles nicht erheblich überschreiten werde. Die Voraussetzungen für einen Bagatellfall sind gesetzlich genau umschrieben. Die Staatsanwaltschaft kann diese zurzeit offensichtlich nicht klar bejahen. Das Vorliegen eines Bagatellfalles muss deshalb ebenso klar verneint werden.
Es stellt sich demzufolge die Frage, ob der Beschwerdeführer für die Wahrung seiner Interessen - insbesondere weil der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet -, auf eine Verteidigung angewiesen ist.
5.1 Im vorliegenden Fall geht es im Wesentlichen um folgenden Sachverhalt: Anlässlich einer Party, die am Abend resp. in der Nacht vom 15./16. Mai 2011 bei einem Bekannten der beiden involvierten Parteien stattgefunden hatte, schliefen der damals gerade erst 19 Jahre alt gewordene Beschwerdeführer und die 14,5-jährige Privatklägerin im gegenseitigen Einverständnis miteinander. Der Vater der Privatklägerin erstattete in der Folge Anzeige gegen den Beschwerdeführer. Im Rahmen des daraufhin eröffneten Strafverfahrens musste sich die Privatklägerin im Hinblick auf die Erstellung eines rechtsmedizinischen Gutachtens am 18. Mai 2011 zunächst einer körperlichen Untersuchung unterziehen. Am 19. Mai 2011 wurde sodann eine Videobefragung der Privatklägerin durchgeführt.
Mit Verfügung vom 23. Mai 2011 schloss die Staatsanwaltschaft den beschuldigten Beschwerdeführer von der Teilnahme an dieser Befragung aus. Sie führte dazu aus, dass der Beschuldigte nach erfolgter Durchführung der Einvernahme Gelegenheit erhalte, allfällige Ergänzungsfragen zu stellen und dass er sich zur Wahrung seines rechtlichen Gehörs durch die Verteidigung vertreten lassen könne.
5.2 Der geschilderte Sachverhalt erscheint einfach und weitgehend klar. Dennoch gibt es im vorliegenden Straffall diverse Schwierigkeiten, welche für die Bestellung einer amtlichen Verteidigung sprechen. Zum einen hat der Beschwerdeführer - in Anbetracht der Tatsache, dass er von der Teilnahme an der Befragung der Privatklägerin ausgeschlossen wurde - das Recht, nachträglich Ergänzungsfragen zu stellen. Dazu wird er ohne anwaltliche Vertretung voraussichtlich kaum in der Lage sein.
Die Staatsanwaltschaft ist offensichtlich ebenfalls dieser Ansicht, zumal sie in ihrer Verfügung vom 23. Mai 2011 selber auf die Möglichkeit des Beizugs einer Verteidigung hinweist. Zum anderen wurde - wie erwähnt - im vorliegenden Fall ein rechtsmedizinisches Gutachten erstellt. Gemäss Art. 184 Abs. 3 StPO gibt die Verfahrensleitung den Parteien vorgängig Gelegenheit, sich zur sachverständigen Person und zu den Fragen zu äussern sowie eigene Anträge zu stellen. Soweit aus den Akten ersichtlich ist, wurde dem Beschwerdeführer diese Gelegenheit nicht eingeräumt. Gemäss Art. 188 StPO stellt die Verfahrensleitung den Parteien das Gutachten zu und setzt ihnen Frist zur Stellungnahme. Der Beschwerdeführer ist auch für die Geltendmachung dieser Rechte auf eine Verteidigung angewiesen. Zu guter Letzt ist hier darauf hinzuweisen, dass die Privatklägerin - wie sich aus den Akten resp. aus dem Schreiben ihrer Anwältin vom 3. Juni 2011 ergibt - selber anwältlich vertreten lässt. Die amtliche Verteidigung des Beschwerdeführers ist daher im vorliegenden Fall auch aus Gründen der Waffengleichheit geboten.
6.2 Im vorliegenden Fall wurde die Frage der Mittellosigkeit nicht näher geprüft, weil die Staatsanwaltschaft bereits die übrigen Voraussetzungen für die amtliche Verteidigung verneint hatte. Aus der Einvernahme des Beschwerdeführers zur Person vom 25. Mai 2011 ergibt sich, dass er nach dem 10. Schuljahr 3,5 Jahre in der HMS (Handelsmittelschule) gewesen sei, dass er keine Lehre gemacht habe, aber temporär arbeite, wobei er im Moment jedoch keiner Arbeit nachgehe.
Aus dem Formular betreffend Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Beschwerdeführers geht sodann hervor, dass er ausser einem Sackgeld der Eltern von Fr. 200.- bis Fr. 300.- über kein Einkommen verfügt. Zu seinem Vermögen wollte der Beschwerdeführer keine Auskunft geben. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern des Beschwerdeführers sind ebenfalls nicht bekannt. Diese offenen Punkte müssen somit im Hinblick auf die Beurteilung der Mittellosigkeit des Beschwerdeführers von der Staatsanwaltschaft abgeklärt werden.
6.3 Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers steht somit seine Mittellosigkeit im heutigen Zeitpunkt keineswegs fest, sondern muss zuerst überprüft werden. Die Beschwerde kann daher nur teilweise gutgeheissen werden. Demzufolge ist die angefochtene Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 26. Juli 2011 aufzuheben und die Angelegenheit zur Abklärung der Mittellosigkeit des Beschwerdeführers im Sinne der Erwägungen an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen.
Beschluss der Abteilung Strafrecht des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 24. Oktober 2011
Standesrecht
Gericht als Wahl- und Rechtsmittelbehörde
Ein Gericht darf Wahlgremium und Rechtsmittelinstanz der Aufsichtsbehörde über die Anwälte in einem sein. Die Aufsichtsbehörde darf einen Anwalt und Stiftungsrat anweisen, dem Vertrauen in die Justiz schadende Aussagen auf der Internetseite der Stiftung zu löschen.
Sachverhalt:
Der im Luzerner Anwaltsregister eingetragene G. ist einziger einzelzeichnungsberechtigter Stiftungsrat bei der Stiftung F. Auf deren Internetseite werden angebliche Fehlleistungen verschiedener Gerichte wiedergegeben und kommentiert. Die kantonale Anwalts-Aufsichtsbehörde büsste G. mit einer «Disziplinarstrafe» von erst 5000 Franken, wobei sie diese auf Anweisung des Obergerichts auf 4000 Franken reduzierte. Zudem verpflichtete sie G. zur Entfernung sämtlicher Namen der angegriffenen Personen aus Verwaltung und Justiz. Gegen diesen Entscheid wandte sich G. erneut an das Obergericht, wo er in der Sache unterlag. Mit Beschwerde vom 27. August 2010 wandte sich G. an das Bundesgericht mit dem Antrag, die Busse sowie die Weisung aufzuheben. Des Weiteren verlangte G. die Feststellung der Verfassungs- und Gesetzeswidrigkeit zweier Bestimmungen des Luzerner Anwaltsgesetzes.
Aus den Erwägungen:
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, das Obergericht sei keine unabhängige Rechtsmittelinstanz im Sinne von Art. 29a, 30 und 191b BV, Art. 86 Abs. 2 und 110 BGG sowie Art. 6 EMRK. Zum einen sei dieses gleichzeitig Wahlgremium der Aufsichtsbehörde und bezeichne ihren Vorsitzenden. Zum anderen nähmen Oberrichter Einsitz in der Aufsichtsbehörde, weshalb die Richterkollegen der Rechtsmittelinstanz nicht mehr unvoreingenommen urteilen könnten. Hinzu komme, dass auch ein Gerichtsschreiber des Obergerichts als Aktuar bei der Aufsichtsbehörde mitwirke und die Obergerichtskanzlei die Sekretariatsaufgaben für die Aufsichtsbehörde führe. Das Obergericht weist diese Rügen unter Hinweis auf das Bundesgerichtsurteil 2A.98/2004 vom 7. Juli 2004 zurück.
Nach dem Dargelegten genügt auch blosse Kollegialität der urteilenden Richter nicht, um zum Verlust der Unabhängigkeit der Rechtsmittelinstanz zu führen. Das gilt ebenso, wenn es sich bei den betroffenen Richtern auf beruflicher Ebene um sogenannte «Duzkollegen» handelt. Ohne Belang ist zudem, dass die Richter der Aufsichtsbehörde und der Vorinstanz teilweise Mitglieder der gleichen politischen Partei sind (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_71/2010 vom 22. September 2010, E. 2.2 mit Hinweisen in StR 65/2010, S. 976, und StE 2010 A 25 Nr. 10).
Sofern nicht im Einzelfall zusätzliche Elemente hinzutreten, die objektiv nachvollziehbare Zweifel an der Unbefangenheit einzelner Mitglieder der Rechtsmittelbehörde aufkommen lassen, kann diese demnach grundsätzlich als unabhängige Gerichtsinstanz betrachtet werden. Demzufolge besteht auch kein Anlass, im Sinne des Beschwerdeführers festzustellen, dass § 13 Abs. 1 Satz 1 des kantonalen Anwaltsgesetzes, der das Obergericht als Rechtsmittelinstanz bestimmt, verfassungs- oder gesetzwidrig sei.
6.1 Der Beschwerdeführer rügt auch, die Aufsichtsbehörde sei nicht kompetent, ihm die Weisung zur Entfernung von Namen aus der interessierenden Internetseite gestützt auf § 10 des Luzerner Anwaltsgesetzes zu erteilen. Zum einen gehe es dabei um Zivilrecht. Die Gesetzgebung auf diesem Gebiet sei gemäss Art. 122 Abs. 1 BV Sache des Bundes. Zum anderen regle das eidgenössische Anwaltsgesetz das Disziplinarrecht und die Berufspflichten abschliessend, weshalb ebenfalls ein Verstoss gegen Art. 49 Abs. 1 BV gegeben sei.
Der Beschwerdeführer übersieht indes, dass es vorliegend nicht um die Beseitigung einer Persönlichkeitsverletzung nach Art. 28a Abs. 1 Ziff. 2 ZGB geht, sondern - wie erwähnt - um das öffentliche Interesse an der Wahrung des Vertrauens in die Verwaltung und Rechtspflege. Zweck der Weisung ist somit nicht der Schutz des Persönlichkeitsrechts von Privatpersonen im Sinne von Art. 28 f. ZGB. Mithin sind nicht zivilrechtliche Verhältnisse betroffen. Das eidgenössische Anwaltsgesetz regelt das Disziplinarrecht über die Anwälte abschliessend. Das kantonale Recht darf der Aufsichtsbehörde jedoch zusätzliche Aufsichtsmittel zur Verfügung stellen (vgl. BGE 132 II 250 E. 4.3.1, S. 254; 129 II 297 E. 1.1, S. 299 mit Hinweis).
Sinn der vorliegenden Weisung ist es im Gegensatz zu den in Art. 17 BGFA vorgesehenen Massnahmen nicht, den Beschwerdeführer zu disziplinieren. Vielmehr geht es bloss um die Wiederherstellung eines rechtskonformen Zustands. Die Weisung erweist sich auch nicht als zusätzliche Berufsregel. Deshalb steht das eidgenössische Anwaltsgesetz der auf § 10 des Luzerner Anwaltsgesetzes gestützten Weisung nicht entgegen, zumal die Kantone eine entsprechende Regelungskompetenz haben (s. Thomas Poledna, in: Fellmann/Sidler [Hrsg.], Kommentar zum Anwaltsgesetz, 2005, N. 9 zu Art. 14 BGFA; Alain Bauer / Philippe Bauer, Commentaire Romand de la Loi sur les avocats, 2010, N. 11 zu Art. 14 BGFA; allg. zur kantonalen Regelungskompetenz: Walter Fellmann, Anwaltsrecht, 2010, Rz. 60 ff. und 661 ff.).
Mithin besteht auch kein Anlass, eine Verfassungs- oder Gesetzwidrigkeit der erwähnten kantonalen Bestimmung festzustellen. Keine Rolle spielt, dass die Namensstreichung als solche keine typische anwaltliche Tätigkeit darstellt. Mit Blick auf die unsachliche Darstellung auf der Internetseite (s. E. 4 hievor) stellt die Weisung an sich auch keine unerlaubte Zensur im Sinne von Art. 17 Abs. 2 BV dar und ist in diesem Sinne ebenso wenig unverhältnismässig.
Urteil_665/2010 der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 24. Mai 2010
Gerichte des Bundes aktuell
Keine Freigabe von Interview-Korrekturen
Ein Journalist des SF erhält keine Angaben über die Korrekturen, welche Alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey an der Rohfassung eines Zeitungsinterviews zur Libyen-Affäre angebracht hat. Laut Bundesverwaltungsgericht gilt erst das autorisierte Interview als «fertig gestelltes amtliches Dokument», das gemäss Öffentlichkeitsgesetz grundsätzlich offenzulegen ist. Eine Verletzung der Medien- oder Informationsfreiheit liegt nicht vor. In dem 2010 erschienenen Interview war Calmy-Rey zu den Umständen befragt worden, die zur Freilassung der in Libyen festgehaltenen Schweizer führten. Vor seiner Veröffentlichung war das Interview wie vereinbart dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) zugestellt worden, um daran Korrekturen vornehmen zu können.
A-1156/2011 vom 22.12.2011
Fluchtalternative individuell prüfen
Für das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative (bei deren Vorliegen die Flüchtlingseigenschaft zu verneinen ist) muss der betroffenen Person auch individuell zuzumuten sein, in einem anderen Landesteil (als dem angestammten) Schutz in Anspruch zu nehmen. Dabei sind laut Bundesverwaltungsgericht die allgemeinen Verhältnisse am Zufluchtsort sowie die persönlichen Umstände zu beachten. Insbesondere ist zu beurteilen, ob der betroffenen Person realistischerweise zugemutet werden kann, sich dort niederzulassen und eine neue Existenz aufzubauen.
D-4935/2007 vom 21.12.2011)
Switch muss alle gleich behandeln
Die Domain-Verwalterin Switch darf ihre Tochterfirma Switchplus beim Wiederverkauf von Domain-Namen («.ch» und «.li») künftig nicht mehr bevorzugen. Laut Bundesverwaltungsgericht darf Switch nicht wettbewerbsverzerrend in das Verhältnis zwischen Grosshandelspartnern eingreifen. Switch nimmt mit der Verwaltung und Zuweisung von Domain-Namen eine staatliche Aufgabe wahr und ist dabei an die Grundrechte gebunden. Mit der Werbung und der Überlassung ihres Namens hat Switch ihre Tochter in ungerechtfertigter Weise bevorzugt. Switch muss sowohl Leistungen in Bezug auf die Registrierung und Verwaltung von Domain-Namen als auch werbewirksame Leistungen allen Handelspartnern zu gleichen Bedingungen zur Verfügung stellen.
A-3073/2011 vom 13.2.2012
Tabaksteuer auf E-Zigaretten
Auf elektronischen Zigaretten darf Tabaksteuer erhoben werden. Laut Bundesverwaltungsgericht muss die E-Zigarette im Sinne des Tabaksteuergesetzes als ein «Ersatzprodukt» gelten, das «wie Tabak verwendet» wird. Für diese Bewertung sprechen nach Ansicht der Richter in Bern die Art der Verwendung, die fast identische Optik, die gleiche Handhabung und der gleiche Zweck, nämlich die Genussbefriedigung. Keine Rolle spielt für die Frage der Steuerpflicht, ob ein solches Ersatzprodukt überhaupt Nikotin enthält oder ob es für die Gesundheit unschädlich ist. Nicht erhoben werden dürfen laut Gericht auf E-Zigaretten allerdings Abgaben für den Tabak-Präventionsfonds.
A-3123/2011 vom 17.1.2012
Geprellte Ebay-Käufer aufs OR verwiesen
Wer bei einer Internetauktion verkaufte Ware nicht fristgerecht oder gar nicht liefern kann, ist nicht automatisch ein Betrüger. Ein dubioser Online-Händler hatte über die Internetplattformen Ricardo und Ebay Mobiltelefone, Spielkonsolen und Gartenmöbel versteigert, die er gar nicht besass. Unzufriedene Käufer vertröstete er damit, die Waren später zu liefern, teilweise kam es auch zur Rückzahlung des Kaufpreises. Das Bundesgericht hat die St. Galler Justiz nun auf Beschwerde des Betroffenen verpflichtet, ihren Schuldspruch wegen Betrugs nochmals zu prüfen. Laut Gericht kann es bei der Abwicklung von Verträgen immer zu «Leistungsstörungen» kommen. Diese systematisch strafrechtlich zu erfassen, ist nicht sachgerecht. Das OR gibt Käufern in solchen Fällen vielmehr verschiedene Mittel in die Hand, um zu reagieren. Wenn sich ein Online-Verkäufer die Ware erst nach der Versteigerung beschafft und nachliefert oder wenn er dem Käufer die Vorauszahlung innert nützlicher Frist zurückerstattet, liegt kein Betrug vor.
6B_663/2011 vom 2.2.2012
Renntraining als Wagnis
Die Suva darf ihre Versicherungsleistungen gegenüber einer Motorradlenkerin um die Hälfte kürzen, die sich bei einem Fahrtraining auf einer französischen Rennstrecke schwer verletzt hat. Die Frau war auf dem Rundkurs hinter einer Kuppe zu Sturz gekommen und von einem nachfolgenden Teilnehmer mit voller Wucht erfasst worden. Laut der I. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts ist davon auszugehen, dass sich die Versicherte mit dem Renntraining einer besonders grossen Gefahr ausgesetzt hat, ohne dass das Risiko auf ein vernünftiges Mass hätte beschränkt werden können. Damit liegt ein absolutes Wagnis vor, das die Suva zur Leistungskürzung berechtigt.
8C_472/2011 vom 27.1.2012
Gelöschte Vorstrafe ist zu berücksichtigen
Bei einer Personensicherheitsüberprüfung dürfen auch gelöschte Vorstrafen berücksichtigt werden. Der Fall betrifft einen Ex-Mitarbeiter im VBS. Laut Bundesverwaltungsgericht darf die entfernte Vorstrafe ähnlich wie bei der psychiatrischen Begutachtung eines Angeklagten bei der Personensicherheitsüberprüfung in die Beurteilung einfliessen. Berücksichtigt werden dürfen allerdings nur Umstände, die Rückschlüsse auf den Charakter des Überprüften zulassen.
A-4582/2010 vom 20.1.2012
Kein Asyl für uigurischen Polizisten
Ein chinesischer Ex-Polizist uigurischer Herkunft erhält kein Asyl in der Schweiz. Das Bundesverwaltungsgericht hat seine Beschwerde abgewiesen. Er hatte geltend gemacht, bei seiner Tätigkeit in der Provinz Xinjiang Zeuge vom Handel mit Organen geworden zu sein, die zum Tode verurteilten Personen entnommen worden seien. Das Gericht hält fest, dass der Betroffene China auf legale und ordnungsgemässe Weise und im Wissen der Behörden hat verlassen können. Die Aussagen zu seiner Vergangenheit seien zudem unklar, inkohärent und widersprüchlich gewesen. Wegen mangelnder Glaubhaftigkeit sei deshalb kein Asyl zu gewähren.
D-6330/2011 vom 3.2.2012
«Heidi-Alpen Bergkäse» zulässig
Der «Heidi-Alpen Bergkäse» muss nicht umbenannt werden. Die II. öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat der Herstellerfirma in einem Sitzungsentscheid recht gegeben. Das Bundesverwaltungsgericht war zuvor zum Schluss gekommen, dass die umstrittene Bezeichnung gegen die Berg- und Alpverordnung verstosse. Der Begriff «Alp» dürfe demnach nur verwendet werden, wenn der Käse aus einem Sömmerungsgebiet stamme, was hier nicht zutreffe. Zwar dürfe der Begriff «Alpen» verwendet werden, wenn er sich allgemein auf den europäischen Gebirgszug der Alpen beziehe. Die Kombination «Heidi-Alpen» gehe aber darüber hinaus. Die Richter in Lausanne sind dagegen zum Schluss gekommen, dass gemäss der seit Anfang Jahr geltenden Version der entsprechenden Verordnung die Bezeichnung «Alpen» als Hinweis auf die Herkunft aus einem bestimmten geografischen Gebiet unter erleichterten Bedingungen zulässig ist.
Öffentliche Beratung vom 20.1.2012 im Verfahren 2C_559/2011, schriftliche Begründung ausstehend
Testkäufe sind verdeckte Ermittlungen
Alkohol-Testkäufe durch Minderjährige gelten laut Bundesgericht als verdeckte Ermittlung. Fehlbare Händler können aus diesem Grund nicht strafrechtlich belangt werden, solange der Bund oder die Kantone die Verwertung der Beweise nicht ausdrücklich erlauben. Die Richter in Lausanne verweisen auf ihr Grundsatzurteil aus dem Jahr 2008 (BGE 134 IV 266), wonach bereits das «Anknüpfen von Kontakten» mit der verdächtigen Person ausreicht, damit eine verdeckte Ermittlung vorliegt. Bei den Alkohol-Testkäufen sind die gesetzlichen Voraussetzungen für eine zulässige verdeckte Ermittlung zweifellos nicht erfüllt, unter anderem deshalb, weil vor den Kontrollen noch gar kein konkreter Verdacht gegen die betroffenen Händler vorliegt. Offen lassen musste das Bundesgericht die Frage, ob fehlbare Verkäufer verwaltungsrechtlich belangt werden können, etwa mit dem Erlass persönlicher oder betrieblicher Auflagen oder mit dem Entzug der Bewilligung.
U.a 6B_334/2011 vom 10.1.2012
pj
Zur Publikation vorgesehen
Staats-/Verwaltungsrecht
<?Jugendlichen Straftätern muss unter Umständen bereits im Untersuchungsverfahren ein amtlicher Verteidiger zur Seite gestellt werden (Art. 24 und 25 JStPO).
1B_504/2011 vom 6.12.2011
<?Beim Submissionsentscheid darf ein vorgängig bei den Stimmbürgern durchgeführtes «Public Voting» grundsätzlich mitberücksichtigt werden. Allerdings ist ihm nur relativ geringes Gewicht beizumessen.
2C_770/2011 vom 25.1.2012
<?Das Opfer hat Anspruch auf Einsicht in die Akten des Haftprüfungsverfahrens gegen den Beschuldigten. Der Beschluss über die Anordnung von Ersatzmassnahmen zur Haft ist der geschädigten Person von Amtes wegen mitzuteilen.
1B_603/2011 vom 3.2.2012
Zivilrecht
<?Die Gründe für eine ordentliche Kündigung der Mietwohnung durch den Vermieter können von diesem auch erst in der Klageschrift an den erstinstanzlichen Richter vorgebracht werden. Der Umstand, dass der Mieter die Zustimmung des Vermieters für eine Untervermietung nicht eingeholt hat, ist grundsätzlich geeignet, das Vertrauensverhältnis zwischen den Vertragsparteien derart zu erschüttern, dass eine ordentliche Kündigung nicht als treuwidrig erscheint.
4A_227/2011 vom 10.1.2012
<?In der zivilrechtlichen Berufung muss die verlangte Geldsumme beziffert werden. Das gilt auch bei der Forderung nach Anpassung der Kinderalimente, obwohl hier der Richter den Sachverhalt von Amtes wegen zu klären hat. Die Bezifferung kann sich allerdings auch aus der Begründung ergeben.
5A_663/2011 vom 8.12.2011
<?Das alimentenbevorschussende Gemeinwesen kann gegenüber dem Unterhaltspflichtigen an der privilegierten Anschlusspfändung gemäss Art. 111 SchKG teilnehmen.
5A_404/2011 vom 26.1.2012
<?Schweizer Gerichte sind für das Verfahren um Schuldneranweisung gemäss Art. 291 ZGB zuständig, welches gegen einen in der Schweiz wohnhaften Unterhaltsschuldner gestützt auf ein in Deutschland ergangenes Unterhaltserkenntnis angehoben wurde.
5A_221/2011 vom 31.10.2011
<?Das Bundesamt für Justiz ist in Handelsregistersachen (auch im kantonalen Verfahren) beschwerdelegitimiert.
4A_425/2011 vom 12.12.2011
<?Das Zusammenleben des getrennten Ehepartners in einem Konkubinat führt nicht in jedem Fall zur Anpassung der ihm im Eheschutzverfahren zugesprochenen Unterhaltsbeiträge (Zusammenfassung der Rechtsprechung). Dass der Ehegatte mit seinem neuen Partner ein Kind hat, führt nicht automatisch zur Annahme eines qualifizierten Konkubinats, das eine Anpassung der Unterhaltsbeiträge rechtfertigen würde.
5A.662/2011 vom 18.1.2012
Strafrecht
<?Konkubinatspartner können im Hinblick auf eine Genugtuungsleistung bei der Tötung ihres Partners als anspruchsberechtigte «Angehörige» im Sinne von Artikel 47 OR gelten. Der im französischen Gesetzestext verwendete Begriff «famille» ist zu eng gefasst. Vorausgesetzt ist vielmehr ein «stabiles» Konkubinat, was eine dauerhafte geistige, körperliche sowie wirtschaftliche Gemeinschaft bedingt.
6B_368/2011 vom 2.2.2012
Sozialversicherungsrecht
<?Die schriftliche Begründung eines Urteils muss nicht mit den in der mündlichen Verhandlung angestellten Erwägungen übereinstimmen.
8C_210/2011 vom 15.2.2012
<?Bei der Berechnung der Einkommensverhältnisse im Hinblick auf den Anspruch auf Ergänzungsleistungen ist auf den Bruttoeigenmietwert der selbstbewohnten Liegenschaft ohne zusätzliche Abzüge nach kantonaler Steuergesetzgebung abzustellen.
9C_501/2011 vom 19.12.2012
<?Dem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber ist zum Ausspruch der fristlosen Kündigung eine längere Reaktionszeit zuzubilligen als dem privatrechtlichen (im Zivilrecht muss die Kündigung in der Regel innert weniger Arbeitstage ausgesprochen werden). Ersterer hat Verfahrensvorschriften einzuhalten, der betroffenen Person das rechtliche Gehör zu gewähren und den die Kündigung begründenden Sachverhalt unter Umständen vertieft abzuklären.
8C_294/2011 vom 29.12.2011
<?Der Anspruch auf eine Übergangsentschädigung der Unfallversicherung (Art. 86 Abs. 1 VUV) setzt eine Lohneinbusse von mindestens zehn Prozent voraus (Analogie zur Invalidenrente gemäss Art. 18 Abs. 1 UVG).
8C_615/2011 vom 3.1.2012
<?Es ist zulässig, ausstehende AHV-Beiträge mit den Ansprüchen auf Familienzulagen zu verrechnen.
8C_161/2011 vom 6.1.2012
<?Die Vormundschaftsbehörde darf Sozialhilfeempfänger nicht mittels Errichtung einer Beistandschaft ad hoc selber bei der AHV zum Bezug einer vorzeitigen Altersrente anmelden. Dafür muss ein ordentliches Verbeiständigungsverfahren (Art. 392 ZGB) durchgeführt werden.
9C_462/2011 vom 9.1.2012
<?Drei Entscheide zum Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente aus der Pensionskasse des verstorbenen Lebenspartners: