Sozialversicherungsrecht
Amtlicher Beistand: 60 Franken pro Stunde ist zu wenig
Reicht ein amtlich bestellter Anwalt vor dem Bundesverwaltungsgericht keine detaillierte Kostennote ein, setzt das Gericht die Entschädigung aufgrund der Akten fest. Ein Stundenansatz von 60 Franken ist dabei zu niedrig, wobei es dem Bundesverwaltungsgericht obliegt, die Notwendigkeit des geltend gemachten Zeitaufwandes zu prüfen.
Sachverhalt:
Die IV-Stelle für Versicherte im Ausland verneinte den Anspruch des W. auf Invalidenrente und auf Eingliederungsmassnahmen. Das Bundesverwaltungsgericht hiess die daraufhin erhobene Beschwerde bezüglich der Invalidenrente teilweise gut und sprach dem Rechtsvertreter von W. eine Parteientschädigung von 1200 Franken zu. Bezüglich der Eingliederungsmassnahmen wies das Gericht die Beschwerde ab und setzte die Entschädigung von S. als unentgeltlichem Rechtsbeistand auf 1200 Franken fest. Dagegen erhob der Rechtsvertreter von W. Beschwerde vor Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
2.1 Der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht bestimmt sich nach Bundesrecht (Art. 37 des Bundesgesetzes über das Bundesverwaltungsgericht vom 17. Juni 2005 [Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG] in Verbindung mit Art. 65 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968 [VwVG]; vgl. auch Art. 29 Abs. 3 BV). Das gilt auch für die hier streitige Festsetzung der Höhe der an den unentgeltlichen Rechtsbeistand auszurichtenden Entschädigung (Art. 16 Abs. 1 lit. a VGG in Verbindung mit Art. 12 des Reglements über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 21. Februar 2008 [VGKE]; vgl. auch Art. 65 Abs. 5 VwVG). Damit steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wegen Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG offen.
4. Gemäss Art. 16 Abs. 1 lit. a VGG erlässt das Bundesverwaltungsgericht als Gesamtgericht unter anderem Reglemente über die Entschädigungen an amtliche Vertreter und Vertreterinnen. Laut Art. 12 des darauf gestützt erlassenen VGKE gelten für die amtlich bestellten Anwälte und Anwältinnen die gleichen Ansätze wie für die vertragliche Vertretung. Deren im Rahmen der Parteientschädigung zuzusprechenden Kosten umfassen, soweit hier von Interesse, das Anwaltshonorar, den Ersatz von Auslagen und gegebenenfalls den Ersatz der Mehrwertsteuer (Art. 9 Abs. 1 lit. a-c VGKE). Das Anwaltshonorar wird nach dem notwendigen Zeitaufwand des Vertreters oder der Vertreterin bemessen (Art. 10 Abs. 1 VGKE). Der Stundenansatz beträgt für Anwälte und Anwältinnen mindestens Fr. 200.- und höchstens Fr. 400.-. In diesem Stundenansatz ist die Mehrwertsteuer nicht enthalten (Art. 10 Abs. 2 VGKE). Bei Streitigkeiten mit Vermögensinteresse kann das Anwaltshonorar angemessen erhöht werden (Art. 10 Abs. 3 VGKE). Die Auslagen der Vertretung (Spesen) werden aufgrund der tatsächlichen Kosten ausbezahlt (Art. 11 Abs. 1 erster Satz VGKE), wobei für bestimmte Auslagen nähere Regelungen gelten (Art. 11 Abs. 1 lit. a und b, Abs. 2 VGKE).
Die amtlich bestellten Anwälte und Anwältinnen haben dem Gericht vor dem Entscheid eine detaillierte Kostennote einzureichen (Art. 14 Abs. 1 VGKE). Das Gericht setzt die Entschädigung für die amtlich bestellten Anwälte und Anwältinnen aufgrund der Kostennote fest. Wird keine Kostennote eingereicht, so setzt das Gericht die Entschädigung aufgrund der Akten fest (Art. 14 Abs. 2 VGKE).
5. Der Beschwerdeführer hat im vorinstanzlichen Verfahren unstreitig keine detaillierte Kostennote eingereicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat erkannt, die Entschädigung sei demzufolge aufgrund der Akten zu bemessen. Es hat entschieden, die Entschädigung werde unter Berücksichtigung des gebotenen und aktenkundigen Anwaltsaufwandes auf pauschal Fr. 1200.-, einschliesslich Auslagenersatz, festgesetzt. Ein Anspruch auf Mehrwertsteuerersatz bestehe nicht.
5.2 Bezüglich Mehrwertsteuerersatz werden keine Einwendungen gegen den vorinstanzlichen Entscheid erhoben. Der Beschwerdeführer macht aber geltend, er habe als Rechtsbeistand einen weitaus höheren Aufwand gehabt. Der tatsächliche Zeitaufwand habe sich auf insgesamt 19 Stunden und 15 Minuten belaufen. Das sei aus den Akten, insbesondere auch aus den Angaben zum Zeitaufwand in der vorinstanzlichen Beschwerde und Replik, ersichtlich. Zudem seien Auslagen (für Kopien, Telefonate und Porti) von Fr. 275.05 angefallen. Selbst wenn vom Mindeststundenansatz gemäss VGKE von Fr. 200.- ausgegangen werde, resultiere insgesamt eine Entschädigung, welche mit Fr. 4125.05 (Fr. 3850.- Honorar und Fr. 275.05 Auslagen) deutlich höher liege als die vom Bundesverwaltungsgericht zugesprochene. Letztere entspreche lediglich einem Zeitaufwand von sechs Stunden gemäss dem Mindestansatz. Nach Abzug des im zugesprochenen Betrag von Fr. 1200.- eingeschlossenen Auslagenersatzes falle die Entschädigung für den Stundenaufwand noch geringer aus. Diese Festsetzung der Entschädigung stelle einen qualifizierten Ermessensfehler dar.
Gleiches gelte im Übrigen auch für die im Verfahren betreffend Invalidenrente zugesprochene Parteientschädigung. Hier sei aber nachprozessual eine Einigung mit der IV-Stelle getroffen worden. Diese habe anerkannt, dass das Bundesverwaltungsgericht die Parteientschädigung zu tief angesetzt habe. Die IV-Stelle habe sodann, um ein letztinstanzliches Beschwerdeverfahren zur Entschädigungshöhe zu vermeiden, für das vorinstanzliche Verfahren betreffend Invalidenrente eine Parteientschädigung von Fr. 3700.- offeriert. Der Versicherte habe sich damit einverstanden erklärt und entsprechend davon abgesehen, die vom Bundesverwaltungsgericht zugesprochene Parteientschädigung beim Bundesgericht anzufechten.
5.3 Der Beschwerdeführer hat in der vorinstanzlichen Beschwerdeschrift angegeben, bis dahin im bundesverwaltungsgerichtlichen Verfahren betreffend Eingliederungsmassnahmen sechs Stunden aufgewendet zu haben. Im zweiten Schriftenwechsel ergänzte er, der Zeitaufwand belaufe sich nunmehr, einschliesslich der Einreichung der Replik, auf 12 Stunden und 30 Minuten.
Er verwies hiebei unter anderem auf Aktenstudium, rechtliche Abklärungen, Telefonate, E-Mails, schriftliche Eingaben und Korrespondenzen sowie das Verfassen der Rechtsschriften. Letztinstanzlich führt er sodann aus, nach Einreichung der Replik sei weiterer Zeitaufwand angefallen. Namentlich habe das Bundesverwaltungsgericht den Versicherten aufgefordert, verschiedene Unterlagen und Informationen von deutschen Behörden zu beschaffen. Dies habe zusätzliche Bemühungen des Beschwerdeführers erfordert.
Unter anderem hätten Abklärungen bei deutschen Amtsstellen getroffen werden müssen und seien aufgrund dabei eingetretener Verzögerungen Fristerstreckungsbegehren an die Vorinstanz erforderlich gewesen. Dieser Zusatzaufwand sei nur im Verfahren betreffend Eingliederungsmassnahmen, nicht aber im Verfahren betreffend Invalidenrente angefallen. Gesamthaft habe der Beschwerdeführer im vorinstanzlichen Verfahren betreffend Eingliederungsmassnahmen 19 Stunden und 15 Minuten eingesetzt.
5.4 Wird vom geltend gemachten Zeitaufwand von 19 Stunden und 15 Minuten ausgegangen, resultiert bei der von der Vorinstanz zugesprochenen Entschädigung von Fr. 1200.- auf die einzelne Stunde ein Honorar von rund Fr. 60.-. Damit wird der Mindeststundenansatz gemäss VGKE von Fr. 200.- deutlich unterschritten. Das gilt erst recht, wenn berücksichtigt wird, dass die zugesprochene Entschädigung auch den Auslagenersatz erfassen soll. Dieses ausgeprägte Missverhältnis zwischen Zeitaufwand und Entschädigung stellt grundsätzlich einen Rechtsfehler dar, welcher zu korrigieren ist.
Das gilt aber nur dann, wenn der geltend gemachte Zeitaufwand auch notwendig war, wie dies Art. 10 Abs. 1 VGKE verlangt. Es fehlt bislang an einer diesbezüglichen Würdigung durch das Bundesverwaltungsgericht. Die Kurzbegründung im angefochtenen Entscheid genügt nicht, zumal sie sich nicht mit dem in den vorinstanzlichen Rechtsschriften geltend gemachten Zeitaufwand auseinandersetzt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat daher die Entschädigung (einschliesslich Auslagenersatz) an den unentgeltlichen Rechtsbeistand unter Berücksichtigung und Überprüfung von dessen nunmehr vorliegenden detaillierten Angaben neu festzusetzen. Es wird sich dabei auch mit dem weiteren Vorbringen des Beschwerdeführers zu befassen haben, wonach eine Streitigkeit mit Vermögensinteresse vorliege, welche gegebenenfalls sogar eine Erhöhung des Anwaltshonorars nach Art. 10 Abs. 3 VGKE rechtfertige. Die Sache wird hiefür an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Entgegen der in der Beschwerde vertretenen Auffassung ist es nicht angezeigt, dass über die Entschädigung im vorliegenden Verfahren reformatorisch entschieden wird. Es ist nicht Sache des Bundesgerichts, als erste Instanz Bestand und Notwendigkeit der einzelnen Verrichtungen, welche der Beschwerdeführer nach seiner Darstellung im vorinstanzlichen Verfahren ausgeführt hat, zu prüfen und die angemessene Entschädigung festzusetzen, zumal auch zu berücksichtigen ist, dass der Vorinstanz hiebei ein Ermessensspielraum zusteht.
Urteil 8C_797/2010 der I. Sozialversicherungsrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 11. Januar 2011
Anschein der Befangenheit durch Fachartikel
Es erweckt den Anschein der Befangenheit, wenn ein Gerichtsschreiber öffentlich die Meinung vertritt, Privatgutachten seien allgemein «entschieden zu bekämpfen». Wirkt dieser Gerichtsschreiber an einem konkreten Streitfall mit, ist der Anspruch auf ein unparteiisches Gericht verletzt.
Sachverhalt:
Die IV-Stelle des Kantons Solothurn gewährte S. die verlangten beruflichen Massnahmen und die Invalidenrente nicht, das kantonale Versicherungsgericht wies die Beschwerde von S. ebenfalls ab. Dagegen legte S. beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde ein und forderte unter anderem die Aufhebung des kantonalen Entscheids sowie die Zusprache einer Invalidenrente.
Aus den Erwägungen:
2. In formeller Hinsicht macht der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht geltend, was er damit begründet, dass an der vorinstanzlichen Entscheidfindung Gerichtsschreiber G. mitgewirkt habe. Als Verfasser des in SZS 2010 S. 364 ff. publizierten Artikels «Die MEDAS (einmal mehr) im Kreuzfeuer der Kritik» erwecke dieser den Anschein der Befangenheit und hätte daher in Ausstand treten müssen. Damit stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, das vorinstanzliche Gericht sei nicht korrekt besetzt gewesen; dessen Entscheid vom 23. August 2010 müsse deshalb aufgehoben werden.
2.3.1 Im genannten Beitrag in SZS 2010 S. 364 ff. nimmt Gerichtsschreiber G. Bezug auf ein Rechtsgutachten, das von Prof. Dr. iur. Paul Müller und Dr. iur. Johannes Reich am 11. Februar 2010 im Auftrag eines Versichertenanwalts verfasst worden ist.
Laut dieser Abhandlung wird dem durch Art. 6 EMRK gewährleisteten Anspruch auf ein faires Verfahren zufolge des grossen Gewichts, das den von Medizinischen Abklärungsstellen der Invalidenversicherung (Medas) erstatteten Expertisen beigemessen wird, angesichts deren wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Auftraggeber (zumeist die Invalidenversicherung) nicht Genüge getan. Daran anknüpfend stellt er fest, während die Versichertengemeinschaft über keine eigentliche «Lobby» verfüge, «agiere» im Gegenzug dazu «eine gut funktionierende, Einzelinteressen verpflichtete Industrie von Anwälten, Verbänden, Organisationen und Ärzten, welche die finanzielle Solidarität der Risikogemeinschaft in Form von Renten selbst für versicherte Personen mit nicht oder kaum objektivierbaren Gesundheitsschäden dezidiert einfordert, und diese - ohne jegliche moralische Bedenken - letztlich so auf die gleiche Stufe stellt wie Menschen mit schwersten Krankheiten oder Gebrechen.»
In der Folge untersucht der Autor die Zunahme der Bedeutung von Medas-Gutachten im Zusammenhang mit von der Rechtsprechung zunächst als invalidisierend anerkannten - was unterdessen immerhin relativiert worden ist - Störungen psychischer oder zumindest organisch nicht objektivierbarer Art wie etwa somatoforme Schmerzstörungen, Fibromyalgien, unklare Schmerzsyndrome, psychoreaktive Störungen und auch diffuse Beschwerdebilder nach Schleudertraumata. Dabei gelangt er zum Ergebnis, dass die Medas bei unklaren Schmerzzuständen die für die Durchsetzung von Rentenbegehren erforderlichen Arbeitsunfähigkeitsatteste - seines Erachtens zu Recht - selten ausstellen, was dazu führe, dass seitens von Versichertenanwälten vermehrt mit Privatgutachten versucht werde, die Leistungsbegehren ihrer Klienten durchzusetzen. So werde letztlich eine «Zwei-Klassen-Versichertengemeinschaft (mit und ohne verfügbare private Abklärungsmaschinerie)» in Kauf genommen, was von den Recht anwendenden Behörden «entschieden zu bekämpfen» sei.
2.3.2 Den Versicherten steht es grundsätzlich zu, auch selbst für der Durchsetzung ihrer Interessen dienliches Beweismaterial besorgt zu sein. Die Rechtsprechung hat denn auch anerkannt, dass sämtliche Beweismittel von der Verwaltung wie auch den Gerichtsinstanzen frei zu würdigen sind - und dies unabhängig davon, von wem sie stammen (vgl. Art. 61 lit. c ATSG; BGE 125 V 351 E. 3a, S. 352).
Wenn Gerichtsschreiber G. in seiner Publikation durchblicken lässt, dass seiner Ansicht nach bei der Ausrichtung von Versicherungsleistungen wegen erwerblicher Folgen nicht objektivierbarer Gesundheitsschäden Zurückhaltung angezeigt sei, und deshalb insbesondere fordert, die Praxis vieler Anwälte, Privatgutachten als Beleg für ihre Sachverhaltsdarstellungen und Untermauerung ihrer jeweiligen Argumentation beizubringen, «entschieden zu bekämpfen», kann dies bei der am Recht stehenden Partei die durchaus begründete Befürchtung auslösen, dass er in diesem Sinne und damit nicht mehr unbefangen über ihre Sache befinden werde, was sich letztlich auch auf die Meinungsbildung der für den definitiven Entscheid zuständigen Richterinnen und Richter auswirken könnte. Verstärkt wird der damit schon geschaffene Anschein der Befangenheit durch die mit der - zu wissenschaftlichen Beiträgen nicht passenden - pauschalen Wertung «ohne jegliche Moral» zum Ausdruck gebrachte Despektierlichkeit gegenüber Versichertenanwälten und anderen Kreisen, die zur Unterstützung der Versicherungsleistungen anbegehrenden Person in der Lage und bereit sind.
Mithin hätte Gerichtsschreiber G. am vorinstanzlichen Entscheid vom 23. August 2010 nicht mitwirken dürfen, zumal die Abfassung des SZS-Beitrages kurz zuvor erfolgt war und nicht angenommen werden kann, er hätte zum damaligen Zeitpunkt bereits Abstand von der in der Publikation geäusserten Haltung gefunden.
2.4 Der angefochtene Entscheid ist demnach in Gutheissung der Beschwerde aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung in korrekter Besetzung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
3. Als unterliegende Partei hätte bei diesem Ausgang des Verfahrens grundsätzlich die IV-Stelle die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG; BGE 133 V 642) und dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 BGG). Unnötige Kosten hat indessen zu bezahlen, wer sie verursacht (Art. 66 Abs. 3 und Art. 68 Abs. 4 BGG). Dies gestattet, die Gerichts- und Parteikosten ausnahmsweise der Vorinstanz resp. dem Gemeinwesen, dem diese angehört, aufzuerlegen, namentlich, wenn diese wie hier die Pflicht zur Justizgewährleistung verletzt hat (Urteil 8C_830/2009 vom 4. Januar 2010 E. 3.1 mit Hinweis; Thomas Geiser, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N 25 zu Art. 66 und N 18 zu Art. 68 BGG; Seiler / von Werth / Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], 2007, N 43 zu Art. 66 und N 32 f. zu Art. 68 BGG). Ein solcher Fall liegt hier vor und rechtfertigt es, dem Kanton Solothurn die Gerichtskosten aufzuerlegen, welcher dem Beschwerdeführer überdies eine Parteientschädigung schuldet.
Urteil 8C_828/2010 der I. Sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 14. Juni 2011,
vgl. «Aufgefallen», Seite 81
Strafrecht
Strenge Voraussetzungen für Einstellung
Wer bei der Selbstgefährdung einer anderen Person mitwirkt und dabei das Risiko besser als das Opfer erfasst, muss sich die Verwirklichung des Risikos zurechnen lassen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Mitwirkende das Opfer fälschlicherweise glauben lässt, er könne das Risiko richtig einschätzen. Das Strafverfahren darf nicht eingestellt werden.
Sachverhalt:
A. ist in Bournemouth infolge Konsums von in einem Mischgetränk enthaltenem Gamma-Butyrolacton (GBL) verstorben. Die Eltern von A., X. und Y., erstatteten Strafanzeige gegen unbekannt wegen fahrlässiger Tötung und unterlassener Nothilfe. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich stellte dieses Verfahren ein. Das Zürcher Obergericht hob den Einstellungsbeschluss auf und wies die Sache an die Staatsanwaltschaft zurück. Diese stellte das Verfahren gegen Z. (im Folgenden: Beschwerdegegner 2), welcher A. das GBL zur Verfügung gestellt hatte, erneut ein. Das Zürcher Obergericht wies den von X. und Y. dagegen eingereichten Rekurs ab.
X. und Y. verlangen vor Bundesgericht die Fortsetzung des Untersuchungsverfahrens oder die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur neuen Beurteilung.
Aus den Erwägungen:
1.2 Die Eröffnung eines Strafverfahrens setzt voraus, dass der Beschuldigte eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen hat. Der Zweck der Untersuchung besteht darin, dass entweder Anklage erhoben oder das Verfahren eingestellt werden kann (§ 30 der seit dem 1. Januar 2011 aufgehobenen Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 [StPO/ZH], welche auf das nach bisherigem Recht beurteilte Verfahren anwendbar bleibt, vgl. Art. 453 Abs. 1 der Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007; StPO, SR 312.0). Fehlt es nach durchgeführter Untersuchung an einem hinreichenden Tatverdacht bzw. ist das Vorliegen eines Straftatbestandes nicht genügend dargetan, sodass eine Verurteilung in der Hauptverhandlung nicht zu erwarten ist, darf die Untersuchungsbehörde das Verfahren einstellen. Sinn dieser Prüfung ist es, den Beschuldigten vor Anklagen zu schützen, die mit einiger Sicherheit zu Freisprüchen führen müssten. Da Untersuchungsbehörden jedoch nicht dazu berufen sind, über Recht und Unrecht zu befinden, dürfen sie nicht allzu rasch, gestützt auf eigene Bedenken, zu einer Einstellung schreiten. In Zweifelsfällen beweismässiger und vor allem rechtlicher Art soll Anklage erhoben und es dem Gericht überlassen werden, einen Entscheid zu fällen.
Der Grundsatz «in dubio pro reo» gilt hier nicht. Vielmehr ist nach Massgabe der Maxime «in dubio pro duriore» im Zweifel, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint als ein Freispruch, Anklage zu erheben (vgl. Urteil des Bundesgerichts vom 11. April 2008 6B_588/2007 E. 3.2.3, publiziert in Praxis 2008 Nr. 123).
Das Bundesgericht hat daher nicht zu prüfen, ob sich der Beschwerdegegner 2 der fahrlässigen Tötung oder der Unterlassung der Nothilfe schuldig gemacht hat, sondern einzig, ob die Vorinstanz die Einstellung der Strafverfolgung bestätigen bzw. sie ohne Willkür annehmen durfte, dass mit einer Verurteilung nicht zu rechnen sei. Dies ist der Fall, wenn sich der Beschwerdegegner 2 keine strafrechtlich relevante Sorgfaltspflichtverletzung hat zuschulden kommen lassen. Besteht hingegen ein hinreichender Verdacht, ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit im kantonalen Verfahren eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung und/oder allenfalls Unterlassung der Nothilfe erhoben wird (vgl. aber E. 3.2), über welche die zuständigen kantonalen Gerichte zu entscheiden haben.
2.1.4 Selbst wenn der Beschwerdegegner 2 diese Substanz schon zweimal probiert hätte, wäre das Ergebnis der Vorinstanz, der Beschwerdegegner 2 sei bezüglich GBL unerfahren gewesen, nicht schlechterdings unhaltbar. Denn aus dem vereinzelten Konsum lässt sich jedenfalls nicht ableiten, der Beschwerdegegner 2 hätte hinsichtlich Dosierung, Wirkung und Risiken gegenüber seinen Schulkameraden einen massgeblichen Wissensvorsprung gehabt.
3.3 Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft (Art. 117 StGB). (...) Sorgfaltswidrig handelt auch, wer bei einer fremden Selbstgefährdung mitwirkt, sofern er das Risiko kraft überlegenen Sachwissens besser erfasst oder erkennt, dass das Opfer die Tragweite seines Entschlusses nicht überblickt. In diesem Fall schafft er ein Risiko, das vom Willen des Opfers nicht mehr gedeckt und dessen Verwirklichung daher dem Mitwirkenden zuzurechnen ist (BGE 134 IV 149 E. 4.5, S. 153 f. mit Hinweisen).
3.4.1 Der Beschwerdegegner 2 wirkte an einer fremden Selbstgefährdung mit, indem er dem drogenunerfahrenen Opfer GBL zur Verfügung stellte. Der letzte Entscheid über die Einnahme der Partydroge lag beim Opfer selbst (vgl. zur Definition der fremden Selbstgefährdung BGE 134 IV 149 E. 4.4, S. 153 mit Hinweisen).
Es handelte im Bewusstsein, dass Drogen grundsätzlich gefährlich sind. Sein Wissen zur Substanz schöpfte es aus den Informationen des Beschwerdegegners 2. Dieser äusserte, die Wirkung sei mit einem Joint zu vergleichen, sie mache «heiter», «beduselt» oder «high». Man sei danach «gut oder lustig drauf». Die Substanz werde von Ärzten bei Operationen verwendet, gehe ins Blut und Gehirn und wirke betäubend. Man dürfe nicht zu viel davon konsumieren und die Flüssigkeit nicht mit Alkohol mischen (angefochtenes Urteil S. 39 bis 47). Ob das Opfer die Tragweite seines Entschlusses hinsichtlich einer möglichen Überdosierung überblickte, ist aufgrund der wenig präzisen Orientierung durch den Beschwerdegegner 2 zweifelhaft. Denn die Aussage, die Substanz wirke «wie ein Joint» ist interpretationsbedürftig. So kann sie etwa auf den berauschenden Effekt, die Gefährlichkeit oder die Dosierung bezogen werden. Aus den Informationen des Beschwerdegegners 2 darf nicht ohne Weiteres geschlossen werden, eine Drittperson habe die von dem konsumierten Stoff ausgehende Gefahr kennen müssen. Vielmehr besteht die Möglichkeit, dass das Opfer gerade im Hinblick auf die Zusage «Wirkung wie ein Joint», auf die Harmlosigkeit der Droge in der vom Beschwerdegegner 2 angebotenen Dosis vertraute und sich deshalb auf den Konsum einliess.
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist für die Frage der Sorgfaltspflichtverletzung nicht allein entscheidend, ob der Beschwerdegegner 2 gegenüber dem Opfer überlegene Kenntnisse zu GBL besass. Musste der Beschwerdegegner 2 erkennen, dass das Opfer die Tragweite seiner Entscheidung zum Betäubungsmittelkonsum nicht überblickte, so kann dies ebenfalls zu einer Sorgfaltspflichtverletzung gereichen (BGE 134 IV 149 E. 4.5, S. 153 f. mit Hinweisen).
3.4.2 Anhand der Untersuchungsergebnisse ist nicht auszuschliessen, dass das Opfer gerade wegen der unzulänglichen Angaben des Beschwerdegegners 2 auf die Harmlosigkeit von GBL schloss, deren Lückenhaftigkeit nicht erkannte und deshalb die Substanz in einer tödlichen Dosis konsumierte. Denn der Beschwerdegegner 2 gab Informationen zur Substanz an das Opfer weiter, ohne dass ihm nähere Kenntnisse hinsichtlich der Wirkungsweise, Dosierung und Risiken von GBL nachgewiesen werden können und ohne sein fehlendes Wissen offenzulegen (angefochtenes Urteil S. 39 bis 47). Insgesamt liegen hinreichend Anhaltspunkte für eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung vor. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Urteil 6B_879/2010 der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 24. März 2011
Strafprozessrecht
Strafbefehle sind unbefristet öffentlich
Wird ein Strafbefehl nicht öffentlich aufgelegt, kann er auch nach Ablauf der Rechtsmittelfrist eingesehen werden. Dies, sofern kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse entgegensteht.
Sachverhalt:
Mit Schreiben vom 28. März 2011 verlangt ein Journalist bei der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen die Herausgabe eines Strafbefehls. Mit einer tags darauf erfolgten Verfügung weist die Staatsanwaltschaft das Gesuch ab, da die Rechtsmittelfrist abgelaufen sei. Am 11. April 2011 legte der Betroffene gegen die Verfügung bei der Anklagekammer Beschwerde ein und verlangt die Herausgabe des Strafbefehls.
Aus den Erwägungen:
I./1. Mit Verfügung vom 29. März 2011 wies die Staatsanwaltschaft das Gesuch um Akteneinsicht ab. Zur Begründung ist im Wesentlichen dargelegt, dass der heraus verlangte Strafbescheid bereits im Sommer 2010 ergangen und längst in Rechtskraft erwachsen sei. Es bestehe deshalb nach der Rechtsprechung der Anklagekammer des Kantons St. Gallen (vgl. zum Beispiel Brüschweiler in: Andreas Donatsch / Thomas Hansjakob / Thomas Lieber, Kommentar zur StPO, N 3 zu Art. 69) kein uneingeschränktes Akteneinsichtsrecht mehr.
Eine Interessensabwägung, wenn sie vorzunehmen wäre, würde vorliegend ergeben, dass die Interessen des damals wenig über 18-jährigen Beschuldigten an der Geheimhaltung das allgemeine Interesse der Öffentlichkeit an der Information über den Entscheid überwiegen würden.
II./2. Im Zusammenhang mit der hier zu beurteilenden streitigen Akteneinsicht (Herausgabe eines rechtskräftigen Strafbescheids) ist vom grundrechtlichen Prinzip der Justizöffentlichkeit auszugehen (vgl. BGE 137 I 16). Die rechtsstaatliche und demokratische Bedeutung des Grundsatzes verbietet einen Ausschluss der Öffentlichkeit, sofern nicht überwiegende Gründe der staatlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit oder schützenswerte Interessen Privater dies vordringlich gebieten (BGE 133 I 106, E. 8.1 mit Verweisen; vgl. auch der in GVP 2008 Nr. 86 veröffentlichte Entscheid der Anklagekammer vom 4. Dezember 2008).
Gemäss der seit Anfangs 2011 in Kraft stehenden Schweizerischen Strafprozessordnung können im Falle des ohne öffentliche Verkündung ergangenen Erlasses eines Strafbefehls interessierte Personen in solche Entscheide Einsicht nehmen (Art. 69 Abs. 2 StPO). Während laufender Rechtsmittelfrist muss grundsätzlich kein schützenswertes Interesse an der Einsichtnahme nachgewiesen werden. Die Einsichtnahme kann auch durch Auflage in den Räumlichkeiten der erkennenden Strafbehörde erfolgen (Brüschweiler in: Donatsch / Hansjakob / Lieber, a.a.O., Art. 69 StPO N 3). Mit einem solchen allgemeinen Akteneinsichtsrecht bei Strafbefehlen (und nicht öffentlich verkündeten Urteilen) wahrt das Gesetz das Öffentlichkeitsprinzip trotz Ausschluss des Publikums von der Verhandlung: Es ist eine Ausprägung des Öffentlichkeitsprinzips und ein Surrogat fehlender Verhandlungsöffentlichkeit (BSK StPO Urs Saxer / Simon Thurnherr, Art. 69 N 39).
Im vorliegenden Fall ist der fragliche Strafbescheid längstens in Rechtskraft erwachsen. Dieser Strafentscheid war indes nicht öffentlich aufgelegt worden. Die Beschränkung des Einsichtsrechts in zeitlicher Hinsicht für die Dauer der Rechtsmittelfrist erscheint unter solchen Voraussetzungen formal überspitzt. Dies, zumal der Beschwerdeführer erst im Rahmen einer (journalistischen) Recherche auf das erwähnte Strafverfahren gestossen und in der Folge unverzüglich ein entsprechendes Einsichtsgesuch gestellt hat.
Zudem ist gemäss dem im Fall Neff erlassenen Bundesgerichtsentscheid das Öffentlichkeitsprinzip grundsätzlich nicht an Fristen gebunden (BGE 137 I 16 ff.). Erfolgt indes die beantragte Einsichtnahme in einen Strafbescheid wie im vorliegenden Fall erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist, ist unter Mitberücksichtigung des bereits erwähnten Falls Neff eine Interessensabwägung vorzunehmen.
Die Einsicht ist zu gewähren, sofern keine überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen der Einsichtnahme entgegenstehen (BGE 134 I 286). Berechtigten entgegenstehenden privaten oder öffentlichen Interessen kann gegebenenfalls durch Kürzung oder Anonymisierung Rechnung getragen werden (vgl. BGE 124 V 234 E.3 lit. c) Im vorliegenden Fall stehen sich die Persönlichkeitsrechte des im Urteilszeitpunkt gerade volljährig gewordenen Betroffenen einerseits und der Anspruch der Öffentlichkeit auf Kontrollfunktion gegenüber. Es besteht durchaus ein öffentliches Interesse daran, dass die Öffentlichkeit über Tendenzen der Rechtsprechung - insbesondere auch in Fällen mit grossem Medieninteresse - Kenntnis erhält. Der Beschwerdeführer anerkennt im Grundsatz, dass die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen dahingehend geschützt werden können, dass entsprechende Daten anonymisiert werden. Mit einer Anonymisierung des fraglichen Strafbescheids stehen einer Einsichtnahme keine schützenswerten Geheimhaltungsinteressen mehr gegenüber. In diesem Sinne ist die Beschwerde zu schützen. Die Staatsanwaltschaft hat dem Beschwerdeführer den Strafbescheid (...) in anonymisierter Form auszuhändigen.
Urteil AK.2011.106-AK der Anklagekammer des Kantonsgerichts St. Gallen vom 25. Mai 2011
Vertragsrecht
Rückabwicklung mit einjähriger Verjährungsfrist
Der Widerruf eines Vertrages nach Art. 40a ff. OR ist mit einer Vertragsanfechtung wegen Willens- oder Formmängeln zu vergleichen. Entsprechend kommt hier bei der Rückabwicklung die einjährige Verjährungsfrist nach Art. 67 OR zur Anwendung.
Sachverhalt:
A. unterzeichnete an einer Informationsveranstaltung der Business Academy (BA) am 30. August 2007 zwei Weiterbildungsverträge und leistete eine Anzahlung von 4000 Franken. Am 31. August 2007 widerrief A. die Verträge und verlangte erfolglos eine Rückerstattung der Anzahlung. Mit Klage vom 13. November 2009 beantragte A. die Rückerstattung der Anzahlung inklusive Zinsen. Das Amtsgericht Sursee verwarf die Verjährungseinrede der BA und hiess die Klage gut. Die daraufhin erhobene Beschwerde der BA wurde vom Obergericht Luzern abgewiesen. Dagegen erhob die BA erfolgreich Beschwerde ans Bundesgericht und verlangte die Aufhebung des Entscheides oder Rückweisung an die Vorinstanz.
Aus den Erwägungen:
1. In vermögensrechtlichen Angelegenheiten, wie hier eine vorliegt, ist die Beschwerde in Zivilsachen grundsätzlich nur dann zulässig, wenn der Streitwert mindestens Fr. 30 000.- beträgt (Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG). Erreicht der Streitwert den massgebenden Betrag wie in casu nicht, ist sie dennoch zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt (Art. 74 Abs. 2 lit. a BGG).
Im vorliegenden Fall ist strittig, ob auf eine Geldforderung im Rahmen der Rückabwicklung eines gestützt auf Art. 40a ff. OR widerrufenen Vertrags die ordentliche zehnjährige Verjährungsfrist nach Art. 127 OR oder die bereicherungsrechtliche einjährige Verjährungsfrist nach Art. 67 OR anwendbar ist. Diese Frage ist in der Lehre umstritten (Erwägung 4.3 unten) und wurde vom Bundesgericht noch nie entschieden. Eine sofortige höchstrichterliche Klärung derselben mit voller Kognition erscheint im Interesse der Rechtssicherheit angezeigt. Auf die Beschwerde in Zivilsachen, deren übrige Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind und zu keinen Bemerkungen Anlass geben, ist damit einzutreten.
4. Das Bundesgericht hat sich zur Frage der Rechtsnatur der Rückerstattungsansprüche nach Art. 40f Abs. 1 OR und der auf dieselben anwendbaren Verjährungsbestimmungen noch nicht geäussert. Im Hinblick auf deren Beantwortung erscheint es angezeigt, einen Blick auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu verschiedenen Rückerstattungsansprüchen im Zusammenhang mit gescheiterten Vertragsverhältnissen zu werfen (vgl. auch die Übersicht bei Alfred Koller, Die Verjährung bei der Rückabwicklung von Verträgen, BR 2006, S. 4 ff. [nachfolgend: Koller, Verjährung]).
4.4.1 Rückerstattungsansprüche können nach der allgemeinen Unterscheidung des Gesetzes wie andere Forderungen aus Vertrag, aus unerlaubter Handlung oder aus ungerechtfertigter Bereicherung entstehen und unterliegen je nach ihrem Entstehungsgrund den jeweils verschiedenen Verjährungsfristen (BGE 133 III 356, E. 3.2.1, S. 359; 130 III 504, E. 6.1; 127 III 421, E. 3, S. 424; 114 II 152, E. 2c/aa, S. 156). Ein vertraglicher Anspruch schliesst einen Bereicherungsanspruch aus. Wird eine vertraglich geschuldete Leistung erbracht, so stellt der gültige Vertrag den Rechtsgrund dar, weshalb der Leistungsempfänger nicht ungerechtfertigt, das heisst rechtsgrundlos bereichert sein kann (BGE 133 III 356, E. 3.2.1, S. 358; 127 III 421, E. 3 S. 424; 126 III 119, E. 3b, S. 121).
Das Schweizersiche Bundesgericht hat verschiedentlich auf eine Tendenz in der neueren Rechtsprechung und Lehre hingewiesen, den Anwendungsbereich des Bereicherungsrechts einzuschränken und Rückerstattungsansprüche als vertragliche zu behandeln (BGE 130 III 504 E. 6.1; 126 III 119 E. 3c). Andererseits hat es aber auch klargestellt, dass nicht sämtliche Leistungen, die im Umfeld eines Vertrages erbracht werden, einen vertraglichen Entstehungsgrud den jeweils verschiedenen Verjährungsfristen (BGE 133 III 356, E. 3.2.1, S. 359; 130 III 504, E. 6.1; 127 III 421, E. 3, S. 424; 114 II 152, E. 2c/aa, S. 156). Ein vertraglicher Anspruch schliesst einen Bereicherungsanspruch aus. Wird eine vertraglich geschuldete Leistung erbracht, so stellt der gültige Vertrag den Rechtsgrund dar, weshalb der Leistungsempfänger nicht ungerechtfertigt, das heisst rechtsgrundlos bereichert sein kann (BGE 133 III 356, E. 3.2.1, S. 358; 127 III 421, E. 3 S. 424; 126 III 119, E. 3b, S. 121).
Das Schweizersiche Bundesgericht hat verschiedentlich auf eine Tendenz in der neueren Rechtsprechung und Lehre hingewiesen, den Anwendungsbereich des Bereicherungsrechts einzuschränken und Rückerstattungsansprüche als vertragliche zu behandeln (BGE 130 III 504 E. 6.1; 126 III 119 E. 3c). Andererseits hat es aber auch klargestellt, dass nicht sämtliche Leistungen, die im Umfeld eines Vertrages erbracht werden, einen vertraglichen Entstehungsgrund haben müssen, der zu vertraglichen Rückerstattungsansprüchen führt (BGE 133 III 356, E. 3.2.1 und 3.3.1, S. 359 f.).
4.4.3 Wird ein Vertrag wegen Willensmängeln erfolgreich angefochten, ist er von Anfang an - ex tunc - ungültig. Bereits erbrachte Leistungen sind zurückzuerstatten. In Bezug auf Sachleistungen sind nach herkömmlicher Ansicht die Grundsätze der Vindikation, im Übrigen die Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung anwendbar.
Für die Rückabwicklung von irrtumsbehafteten Verträgen nach Bereicherungs- und Vindikationsrecht entsprechend der langjährigen Praxis und der herrschenden Doktrin werden auch in der neueren Lehre beachtliche Gründe angeführt.
So weist Hartmann überzeugend nach, dass Wortlaut und Entstehungsgeschichte von Art. 62 Abs. 2 OR für die Rückabwicklung eines nichtigen oder wegen Willensmängeln einseitig unverbindlichen Vertrages nach Bereicherungsrecht (und Vindikationsrecht) sprechen; gegenüber der Umwandlung des Vertrages in ein vertragliches Liquidationsverhältnis mit bloss obligatorischen gegenseitigen Rückerstattungsansprüchen führe dies zum rechtspolitisch erwünschten Ergebnis, dass derjenige, der unter dem Einfluss eines Willensmangels einen Vertrag abgeschlossen und in der Folge eine Sache geleistet habe, diese nach einer erfolgreichen Vertragsanfechtung im Konkurs der Gegenpartei aussondern könne (vgl. Hartmann, Rückabwicklung, a.a.O., S. 327, ff. Rz. 809 ff., vgl. aber auch seine Kritik de lege ferenda und der Hinweis auf Wertungswidersprüche zur Rechtslage bei der Rückabwicklung von Dauerschuldverhältnissen und der Rückabwicklung nach einem Rücktritt gemäss Art. 109 OR, S. 333, Rz. 824 ff.).
4.5 Die Autoren, die die Ansicht vertreten, mit dem Widerruf nach Art. 40a ff. OR entstehe ein vertragliches Rückabwicklungsverhältnis, begründen dies damit, es liege ein Fall vor, der analog der Rückabwicklung nach einem Rücktritt gestützt auf Art. 109 OR zu behandeln sei (so Dornier, a.a.O., Art. 40f, N. 133; Huguenin, a.a.O., S. 40, Rz. 25; die übrigen vorstehend [Erwägung 4.3] aufgeführten Autoren begründen ihre Ansicht nicht).
Dem kann nicht gefolgt werden. Der Widerruf nach Art. 40a ff. OR ist seinem Zweck nach vielmehr mit einer Vertragsanfechtung wegen Willensmängeln oder mit einer Vertragsnichtigkeit wegen Nichtbeachtung von Formvorschriften, das heisst wegen Mängeln bei der Vertragsentstehung, zu vergleichen, die vor einem übereilten oder irrtumsbehafteten Vertragsschluss schützen (vgl. Hartmann, Rückabwicklung, a.a.O., S. 18, Rz. 33, S. 22, Rz. 43 f.; derselbe, Widerrufsrechte, a.a.O., S. 324).
Der Widerruf bei Haustürgeschäften und ähnlichen Verträgen gemäss Art. 40a ff. OR ist die Ausübung eines Gestaltungsrechts, mit der - je nach zeitlicher Abfolge - der Antrag oder die Annahmeerklärung zurückgezogen, mithin vernichtet wird (vgl. Art. 40b OR; Hartmann, Widerrufsrechte, a.a.O., S. 311; Guhl / Koller / Schnyder / Druey, a.a.O., § 13, Rz. 36 ff.).
Das Widerrufsrecht bezweckt den Schutz des Konsumenten als unerfahrener Vertragspartei vor nachteiligen Vertragsschlüssen infolge Überrumpelung oder sonstiger Herbeiführung des Vertragsschlusses mit unredlichen Mitteln. Es soll ihm eine freie Willensbildung erlauben und ihm ermöglichen, einen Vertrag in Kenntnis aller Umstände und nach reifli-
cher Überlegung abzuschliessen (BBl 1986 II 386 f.; vgl. Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 4C.120/1999 vom 25. April 2000 E. 2b/bb).
Der Grund für das Widerrufsrecht liegt damit in den Umständen des Vertragsschlusses beziehungsweise in der Art der Vertragsanbahnung (Art. 40b OR), unter denen eine besondere Gefahr einer erheblichen Beeinflussung oder gar von Missbräuchen besteht, und nicht in einem Mangel in der Vertragserfüllung wie beim Verzug, der zum Rücktrittsrecht des Vertragsgläubigers nach Art. 109 OR führen kann.
Der Gesetzgeber verstand die Regeln über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Verträgen denn auch als Sonderregeln für die Entstehung von Obligationen durch Vertrag und verglich sie mit den Regeln über die Willensmängel (Botschaft, a.a.O., Ziff. 222.1, S. 389; vgl. dazu auch Stauder, a.a.O., Intro. Art. 40a-40f OR, N. 3 f.; Dornier, a.a.O., Art. 40b N. 67 ff.; Gonzenbach, a.a.O., N. 3 und 6 vor Art. 40a-40f OR, N. 1 zu Art. 40b OR; Hartmann, Widerrufsrechte, a.a.O., S. 310; Huguenin, a.a.O., S. 40, Rz. 252; Engel, a.a.O., S. 309/311; Koller, OR AT, a.a.O., § 7, Rz. 70 f.; Schwenzer, a.a.O., Rz. 28.67; Kessler, a.a.O., N. 1 zu Art. 40b OR; Kut/Schnyder, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 2007, N. 10 zu Art. 40a-g).
Dies kommt denn auch mit der systematischen Einordnung der Art. 40a ff. OR im Abschnitt des Gesetzes über die Entstehung der Obligationen durch Vertrag deutlich zum Ausdruck. Demzufolge bleibt der Vertrag während der siebentägigen Widerrufsfrist nach Art. 40e OR in der Schwebe beziehungsweise unter der Suspensivbedingung, dass das Widerrufsrecht nicht ausgeübt wird (vgl. zum entsprechenden Schwebezustand eines unter Willensmängeln geschlossenen Vertrags: BGE 133 III 43, E. 3.5.3 S. 52; 114 II 131, E. 3b, S. 142 f.), und ist bei Ausübung des Widerrufsrechts nicht von einem gültig geschlossenen Vertrag auszugehen.
Entsprechend ist die Frage, nach welchen Regeln die Vertragsrückabwicklung in Folge eines solchen Widerrufs erfolgt, in Anlehnung an die Praxis zur Rückabwicklung von mit Entstehungsmängeln (Willensmängel, Formmängel) behafteten Verträgen zu entscheiden bzw. von suspensiv bedingten Verträgen nach Ausfall der Bedingung, für die im Interesse der Rechtssicherheit und Kohärenz eine möglichst einheitliche Regelung anzustreben ist. Nach dem vorstehend (Erwägungen 4.1, 4.4.3, 4.4.5- 4.4.7) Ausgeführten sind auf die strittige Forderung auf Rückerstattung des geleisteten Geldbetrags die Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung anzuwenden, sodass die einjährige Verjährungsfrist nach Art. 67 OR zum Zug kommt.
Dieses Ergebnis harmoniert denn auch mit den einschlägigen Ausführungen in der bundesrätlichen Botschaft und den Vorstellungen, die im Parlament zu dieser Frage geherrscht haben dürften (vgl. Erwägung 4.2 vorne; so auch Hartmann, Widerrufsrechte, a.a.O., S. 323 f.; derselbe, Rückabwicklung, a.a.O., S. 333 Fn. 142, vgl. auch S. 83, Rz. 194), ungeachtet des Umstands, dass in der Botschaft an anderer Stelle (S. 389) auch von einem vertragsauflösenden Recht beziehungsweise von der Auflösung bereits abgeschlossener Verträge die Rede ist.
Urteil 4A_562/2010 der I. Zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 3. Mai 2011
Gerichte des Bundes aktuell
Genf haftet für Granatenwurf
Der Kanton Genf ist haftbar gegenüber einem britischen Pressefotografen, der bei den G8-Protesten von 2003 durch eine Blend-Schockgranate der Polizei am Bein verletzt wurde. Laut Bundesgericht war der Einsatz der Granate im konkreten Fall rechtswidrig, da sie entgegen den Sicherheitsvorschriften nicht auf Bein- oder Bodenniveau geworfen, sondern in die Höhe geschleudert wurde. Die Granate wurde ohne klares Ziel geworfen, womit ihr Einsatz nicht zulässig gewesen sei. Damit kann es laut Gericht auch keine Rolle spielen, dass der Reporter letztlich im Bereich der Beine verletzt wurde. Die Höhe (des wegen Mitverschuldens des Reporters um die Hälfte zu kürzenden) Schadenersatzbetrages muss von der Genfer Justiz noch bestimmt werden.
2C_111/2011 vom 7.7.2011
Streicheln der Mutter war sexueller Übergriff
Eine Genferin, die ihrem siebenjährigen Sohn die Brust gegeben und dazu sein Geschlecht gestreichelt hat, ist zu Recht wegen sexuellen Handlungen mit einem Kind verurteilt worden. Laut Bundesgericht kann das Saugenlassen an der Brust, ohne dass die Mutter noch Milch hat, bei einem kleinen Kind zwar noch als natürlicher Reflex betrachtet werden. Bei einem siebenjährigen Kind verliert die Geste indessen ihre ursprüngliche mütterliche Funktion und erhalte vielmehr sexuelle Bedeutung. Dies umso mehr, wenn die Mutter ihr Kind dabei am ganzen Körper und im Genitalbereich streichelt. Zu ihrer Verteidigung hatte die Frau geltend gemacht, das ihr zur Last gelegte Vorgehen jeweils nur zugelassen zu haben, um ihren Sohn zu trösten. Laut Gericht ist sie sich jedoch im Klaren darüber gewesen, dass ihr Verhalten gesellschaftlich nicht akzeptiert und gesetzes-widrig ist.
6B_103/2011 vom 6.6.2011
Kein Asyl für ehemaligen Guantanamo-Häftling
Ein uigurischer früherer Guantanamo-Häftling erhält in der Schweiz kein Asyl, nachdem er zumindest vorübergehend im pazifischen Inselstaat Palau aufgenommen wurde. Laut Bundesverwaltungsgericht hat der Mann mit seiner provisorischen Aufnahme in Palau kein aktuelles Schutzbedürfnis mehr, das eine Asylgewährung in der Schweiz rechtfertigen könnte. Der Betroffene hatte unter anderem argumentiert, dass er in Palau nur mangelhafte medizinische Versorgung erhalte. Gemäss dem Gericht macht er indessen keine schweren Gesundheitsprobleme geltend. Da er dem Transfer nach Palau zugestimmt habe, sei auch nicht anzunehmen, dass er in Guantanamo schwer traumatisiert worden sei.
D-8016/2008 vom 10.5.2011
Keine Wegweisung nach Afghanistan
Das Bundesverwaltungsgericht kommt in einer aktuellen Lageanalyse zum Schluss, dass sich die Situation in Afghanistan in den letzten Jahren verschlechtert hat und die Wegweisung erfolgloser Asylbewerber deshalb weitestgehend unzumutbar ist. Laut Gericht ist die Sicherheitslage in Afghanistan in den letzten Jahren über alle Regionen hinweg, inklusive der urbanen Zentren und der Hauptstadt Kabul, ständig prekärer geworden. Im humanitären Bereich ist die Lage vorab in den ländlichen Gebieten schlimm. Für potenzielle Rückkehrer ist von einer existenzbedrohenden Situation auszugehen. Eine Ausnahme kann allenfalls für Kabul gelten, allerdings auch dann nur unter begünstigenden Umständen, etwa wenn die betroffene Person bei guter Gesundheit sei und auf ein tragfähiges soziales Netz zurückgreifen könne. Ob dies auch für die beiden Grossstädte Mazar-i-Sharif und Herat gilt, wird offengelassen.
E-7625/2008 vom 16.6.2011
Vergewaltigung trotz «Zustimmung»
Das Bundesgericht hat die Verurteilung eines Berners wegen Vergewaltigung seiner Ehefrau bestätigt. Nach einem handfesten Ehestreit hatte er die geschwächte Frau im Schlafzimmer dazu gedrängt, ein letztes Mal zusammen zu schlafen. Er forderte ihre Zustimmung, bis sie schliesslich antwortete «de mach haut» und ihn teilnahmslos gewähren liess. Laut Gericht hat er mit seinem aggressiven Drängen den als Nötigungsmittel erforderlichen psychischen Druck auf seine Gattin ausgeübt. Angesichts der vorangehenden Geschehnisse habe sie damit rechnen müssen, dass er seine Forderung sowieso durchsetze. Eine Gegenwehr sei ihr nicht mehr zuzumuten gewesen. Ihre angebliche «Zustimmung» habe der Mann nicht als solche verstehen dürfen.
6B_278/2011 vom 16.6.2011
Swissmedic darf nicht zu teurem Vertrag zwingen
Das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic muss seine Praxis bei der Publikation von Arzneimittel-Informationen ändern. Hersteller von Arzneimitteln sind gesetzlich verpflichtet, die Informationen zu ihrem Präparat in gedruckter und elektronischer Form zu veröffentlichen. Als Publikationsforum lässt Swissmedic bis anhin lediglich das Arzneimittel-Kompendium und seit 2008 die Firma Ywesee zu. Die Publikation ist kostenpflichtig. Laut Bundesverwaltungsgericht darf Swissmedic die Hersteller in Ermangelung einer klaren gesetzlichen Grundlage nicht zum Abschluss eines teuren Vertrages mit Dritten verpflichten.
C-6885/2008 vom 17.6.2011
Kellerwand auf Nachbargrundstück ist zu entfernen
Ein Hausbesitzer aus dem Kanton Basel-Landschaft muss die unterirdisch in das Grundstück seiner Nachbarin ragende Betonhinterfüllung des Kellers auf Geheiss des Bundesgerichts entfernen. Im Streit um eine Störung des absoluten Rechts auf Eigentum unter Privaten kann sich eine allfällige Rechtsmissbräuchlichkeit der Eigentumsfreiheitsklage nicht aus dem Missverhältnis der Abbruchkosten und dem von der klagenden Partei verfolgten Interesse ergeben. Auf Rechtsmissbrauch durch seine Nachbarin kann sich der Hausbesitzer schon deshalb nicht berufen, weil er selber bösgläubig gewesen ist, weil er wusste, dass er nicht so bauen darf.
5A_655/2010 vom 5.5.2011
Dauerzutritt für Lobbyisten im Bundeshaus
Lobbyisten haben auch weiterhin Anspruch auf einen dauerhaften Zutrittsausweis für das Bundeshaus und das dazugehörige Medienzentrum. Gemäss der neuen Akkreditierungsverordnung der Bundeskanzlei sollen an Personen, die eine Verbands-, PR- oder Werbetätigkeit ausüben, keine dauerhaften Zutrittsausweise mehr ausgestellt werden (nur Tages-Badges bei Bedarf). Laut Bundesverwaltungsgericht darf das Vorliegen von Verbands-, PR-, oder Werbearbeit indessen kein grundsätzliches Hindernis für die Erteilung einer Dauer-Zutrittsberechtigung darstellen. Im Übrigen fehle es der neuen Akkreditierungsverordnung der Bundeskanzlei an einer genügenden gesetzlichen Grundlage.
C-6123/2009 vom 20.6.2011
Unangebrachte Einladung zum Badeplausch
Einem Zürcher Firmenbesitzer ist zu Recht die Ausbildungsbewilligung für weibliche Lehrlinge entzogen worden, nachdem er einer Lehrstellen-Bewerberin nach dem Vorstellungsgespräch per SMS schrieb: «Hallo wie geht es dir? Hast du Zeit und Laune mit mir morgen Sonntag an den See baden zu gehen? Wir könnten dann unter 4 Augen unsere Besprechung fortsetzen ...?» Laut Bundesgericht ist er als Arbeitgeber verpflichtet, die Persönlichkeit seiner Angestellten zu achten. Das gilt in besonderem Masse im Lehrverhältnis. Mit seinem Angebot, Berufs- und Privatleben zu vermischen, hat der Betroffene ein absolut unangebrachtes Verhalten gezeigt und seine beherrschende Position missbraucht. Das führte zum Entzug der Bewilligung.
2C_378/2010 vom 10.5.2011
Keine Stiefkindadoption für lesbisches Paar
Einer lesbischen Frau in eingetragener Partnerschaft ist zu Recht verwehrt worden, die Tochter ihrer Freundin zu adoptieren. Ob die von ihr behauptete Diskriminierung gegenüber Ehepaaren vorliegt, hat das Bundesgericht in seinem Sitzungsentscheid offenlassen können. Da ihre Partnerschaft bei Einreichung des Adoptionsgesuches erst drei Jahre gedauert hat und Ehegatten die Kinder ihres Partners von Gesetzes wegen erst nach fünf Ehejahren adoptieren dürfen, liegt mit der verweigerten Adoption von vornherein keine Ungleichbehandlung vor. Im Übrigen ist das gesetzliche Adoptionsverbot für gleichgeschlechtliche Paare gemäss den an der Beratung gemachten Äusserungen klar und eindeutig. Wenn denn eine Änderung herbeigeführt werden sollte, sei dies Sache des Gesetzgebers. Aus völkerrechtlicher Sicht sei das Adoptionsverbot für gleichgeschlechtliche Paare nicht zu beanstanden.
5A_774/2010 vom 5.5.2011; schriftliche Begründung ausstehend
pj
Zur Publikation vorgesehen
Staats-/Verwaltungsrecht
Ein Zwangsmassnahmengericht ist befugt, in von ihm geleiteten Verfahren, wie Anordnung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft, die amtliche Verteidigung der betroffenen Person anzuordnen. Obwohl in der neuen StPO nicht ausdrücklich dazu ermächtigt, muss es diesbezüglich als verfahrensleitende Behörde gemäss Art. 61 StPO gelten.
1B_195/2011 vom 28.6.2011
Art. 39 RPV bietet keine Grundlage für den freiwilligen Abbruch und Wiederaufbau einer Liegenschaft in einer Streubausiedlung.
1C_382/2010 vom 13.4.2011
Das Aargauer Verwaltungsgericht hat zu Recht die verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen definiert, die Gemeinden beim Sprachtest für Einbürgerungswillige einhalten müssen, namentlich Mitteilung des verlangten Sprachniveaus und ein brauchbares Testverfahren unter Beizug einer Fachperson.
1D_1/2011 vom 13.4.2011
Eine Haft wird nicht gesetzeswidrig, wenn die Staatsanwaltschaft die Frist zur Einreichung eines Haftantrags (48 Stunden nach Festnahme laut Art. 224 StPO) zwar überschreitet, das Zwangsmassnahmengericht indes schneller als verlangt entscheidet (ebenfalls 48 Stunden gemäss Art. 226 StPO), sodass insgesamt 96 Stunden nicht überschritten werden. Die beiden Instanzen zustehende Maximalfrist von 48 Stunden darf im Übrigen nur in begründeten Einzelfällen ausgeschöpft werden.
1B_153/2011 vom 5.5.2011
Das Bundesgericht kritisiert das Vorgehen des Vorsitzenden der Strafkammer des Zürcher Obergerichts, der sich mit seiner Empfehlung zum Rückzug der Beschwerde an einen Verteidiger selber in den Ausstand manövriert hat. Zwar liegt kein Grund für den Ausstand der ganzen Kammer vor. Allerdings weckt das Vorgehen des Vorsitzenden «erhebliche grundsätzliche Bedenken» und steht im Widerspruch zu seiner Pflicht, die Unabhängigkeit und die Offenheit des Verfahrens sicherzustellen.
1B_407/2010 vom 4.5.2011
Die Sicherheitshaft gemäss StPO muss auch dann befristet angeordnet werden (maximal drei Monate, in Ausnahmefällen sechs), wenn zuvor keine Untersuchungshaft bestanden hat.
1B_222/2011 vom 1.6.11
Bei der Prüfung des Widerrufsgrundes von Art. 63 Abs. 1 lit. a AuG i.V.m Art. 62 lit. b AuG (längerfristige Freiheitsstrafe, gemäss BGE 135 II 377 erfüllt, wenn Dauer über ein Jahr) dürfen mehrere unterjährige Strafen nicht addiert werden.
2C_415/2010 vom 15.4.2011
Auch unter der StPO können verdächtigte Personen nicht durchsetzen, dass ihnen Einsicht in die Verfahrensakten bereits vor ihrer ersten polizeilichen Einvernahme gewährt wird (Nichteintreten auf entsprechende Beschwerden, da kein nicht wiedergutzumachender rechtlicher Nachteil).
1B_261/2011 vom 6.6.2011
Die Ausweisung von straffälligen EU-Angehörigen darf vor Beendigung der Strafe oder Massnahme angeordnet werden. Die verlangte «gegenwärtige» Gefährdung bedeutet nicht zwingend, dass diese im Zeitpunkt der Entlassung vorliegen muss.
2C_903/2010 vom 6.6.2011
Strafrecht
Die von der Polizei auf einer als Fundstück abgegebenen Kamera gesichtete Filmaufnahme der Raserfahrt ihres Eigentümers darf nicht als Beweismittel zu seiner Verurteilung wegen groben Verkehrsregelverletzungen verwendet werden.
6B_849/2010 vom 14.4.2011
Wegen Besitzes von harter Pornografie (Art. 197 Abs. 3bis StGB) kann verurteilt werden, wer nach dem Besuch einschlägiger Internetseiten die temporären Internetdateien auf seinem Computer nicht löscht. Entscheidend sind die Computerkenntnisse, insbesondere das Wissen um die Existenz des Cache-Speichers.
6B_744/2010 vom 12.5.2011
Der Betreiber eines Zürcher Erotikklubs muss als Arbeitgeber der bei ihm tätigen Prostituierten gelten (Frauen zahlten eine Pauschale zur Benützung des Etablissements, Betreiber nahm Eingangskontrolle vor). Schuldspruch wegen Verletzung von Art. 117 Abs. 1 AuG bestätigt.
6B_39/2011 vom 10.6.2011
Zivilrecht
Das alimentenbevorschussende Gemeinwesen ist berechtigt, vom Arbeitgeber des Unterhaltsschuldners mittels Schuldneranweisung (Art. 291 ZGB) zu verlangen, vom Einkommen aktuelle und künftige Alimente zuhanden der Gemeinde einzuzahlen.
5A_882/2010 vom 16.3.2011
Eine Adoption durch den Stiefvater ist von der adoptierten volljährigen Person nicht mit der Begründung anfechtbar (Anfechtungsklage nach Art. 269a ZGB), dass der leibliche Vater sie nun anerkennen wolle und der Adoptivvater damit einverstanden sei.
5A_640/2010 vom 14.4.2011
Das Bundesgericht hält am BGE 132 I 201 von 2006 fest, dass ein anwaltliches Stundenhonorar von 180 Franken für Pflichtmandate ausreicht.
4C_2/2011 vom 17.5.11
Die Pflicht, bei der Anordnung einer FFE ein Sachverständigengutachten einzuholen (Art. 397e Ziff. 5 ZGB) kann nicht mit dem Argument umgangen werden, dass die infolge Alkoholproblemen verwahrloste Person nicht an einer Geisteskrankheit leide.
5A_335/2011 vom 7.6.2011
Ein Profi-Fussballer von Neuenburg Xamax hat zu Recht fristlos gekündigt (Art. 337 Abs. 1 OR), nachdem er vom Trainer wegen eines einmaligen Ungehorsams definitiv aus der ersten Mannschaft verbannt und von diesem öffentlich beleidigt worden ist.
4A_53/2011 vom 28.4.2011
Sozialversicherungsrecht
Die Schweizerische Ausgleichskasse darf Versicherten aus EU-Staaten die AHV-Rente in ihrem Heimatland in Euro auszahlen. Zwar gibt es dazu weder im FZA noch im CH-Recht eine explizite Vorschrift. Die Rechtsprechung in der EU und eine analoge Anwendung der Regeln über die freiwillige AHV- und IV-Versicherung sprechen aber für eine Auszahlung in der Währung des Wohnsitzstaates.
9C_777/2010 vom 15.6.2011
Konkubinatspartner können gegenüber der Arbeitslosenversicherung im Falle einer Trennung nicht von der Sonderregelung für Ehegatten gemäss Art. 14 Abs. 2 AVIG profitieren (Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit, wenn infolge Trennung, Scheidung, Tod des Partners oder ähnlichen Gründen eine unselbständige Erwerbstätigkeit aufgenommen werden muss).
8C_564/2010 vom 11.4.2011
Art. 13 Abs. 4 AVIG i.V.m. Art. 12a AVIV (Verdoppelung der Beitragszeit für die ersten 30 Tage im befristeten Arbeitsverhältnis bei Berufsgruppen mit häufig wechselnder befristeter Anstellung) ist nicht auf Stripteasetänzerinnen mit Kurzaufenthaltsbewilligung anwendbar.
8C_967/2010 vom 20.4.2011
pj
Strassburg aktuell
Beschwerde gegen Minarettverbot gescheitert
Missachtet das 2009 in die schweizerische Bundesverfassung eingefügte Verbot des Baus von Minaretten die Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) und das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK)? Diese Frage wird der Gerichtshof vorerst nicht beantworten. Die im Dezember 2009 eingereichten Beschwerden des Sprechers der Genfer Moschee, dreier muslimischer Vereine und einer Stiftung scheiterten an einer formalen Hürde. Die Beschwerdeführer konnten die Mehrheit der zuständigen Kammer nicht davon überzeugen, dass sie Opfer einer allfälligen Konventionsverletzung sind. Diese Prozessvoraussetzung ist in Art. 34 EMRK vorgesehen. Die Beschwerdeführenden behaupteten zwar, die Verfassungsänderung verletze ihre religiösen Gefühle. Sie machten aber nicht geltend, das Verbot habe eine konkrete Auswirkung auf sie. Sie waren daher keine unmittelbaren Opfer einer vermeintlichen EMRK-Verletzung.
In seltenen Ausnahmefällen hat der Gerichtshof allerdings auch Beschwerden von potenziellen Opfern beurteilt, auf die eine bestimmte staatliche Vorschrift zwar (noch) nicht angewandt worden ist, sie aber in ihren Konventionsrechten beeinträchtigt oder in naher Zukunft zu beeinträchtigen droht. Dies galt etwa für die homosexuelle Männer in Nordirland, Irland und Zypern betreffende Strafbarkeit nicht öffentlicher homosexueller Akte. Es galt auch für die im bosnischen Recht ausgeschlossene Wählbarkeit von Juden und Roma in bestimmte hohe Staatsämter, welche zwei prominente Politiker zu potenziellen Opfern werden liess. Im Falle des Minarettverbots war der Gerichtsmehrheit der Bezug jedoch zu wenig eng. Die Beschwerdeführer argumentierten nicht, dass sie in nächster Zeit den Bau einer Moschee mit Minarett planen. Zwar schloss der Gerichtshof nicht aus, dass die Verfassungsbestimmung in fernerer Zukunft einmal auf sie angewendet werden könnte. Diese blosse Möglichkeit vermöge aber nicht zu genügen.
Darüber hinaus kann die schweizerische Justiz nach Auffassung des Gerichtshofs im Falle der Ablehnung eines Baugesuchs für ein Minarett prüfen, ob das verfassungsrechtliche Minarettverbot mit der EMRK vereinbar ist. Als Beleg führt der EGMR ein vom Vertreter der Schweiz erwähntes Bundesgerichtsurteil 2C_221/2009 vom 21. Januar 2010 an. In jenem Urteil habe das oberste schweizerische Gericht die auf Männer beschränkte Pflicht zum Militärdienst (Art. 59 Abs. 1 BV) und die wehrpflichtige Männer treffende Pflicht zur Ersatzabgabe (Art. 59 Abs. 3 BV) auf ihre Vereinbarkeit mit dem konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) überprüft.
Die Beschwerden wurden daher als unzulässig bezeichnet, wobei der Entscheid der 2. EGMR-Kammer nicht einstimmig fiel.
Zulässigkeitsentscheid der 2. Kammer N° 65840/09 «Ouardiri c. Schweiz» und N° 66274/09 «Ligue des Musulmans de Suisse u.a. c. Schweiz» vom 28.6.2011
Massnahmen gegen Kindesentführung genügen
Im Juni 2003 orientierten die türkischen Behörden das Bundesamt für Justiz (BJ) über eine Kindsentführung: Der sechsjährige Nevzat Abdullah Küçük befinde sich mit seiner lediglich besuchsberechtigten Mutter in Bern. Die Türkei ersuchte das BJ, alle Massnahmen für eine sofortige Rückkehr des Kindes zu treffen, denn dem Vater war 2001 nach der Scheidung das alleinige Sorgerecht zugesprochen worden. Da Mutter und Onkel mit dem Kind untergetaucht waren, dauerte es 14 Monate, bis Nevzat in Basel aufgespürt wurde. Im November