Verwaltungsrecht
Anrecht auf Sozialhilfe trotz Vorsorgeguthaben
Zur Vermeidung von Sozialhilfeleistungen muss das Freizügigkeitsguthaben nur ausnahmsweise aufgelöst werden. Ein Sozialhilfeantrag ist nicht rechtsmissbräuchlich, weil der Antragsteller mit dem Freizügigkeitsguthaben Schulden getilgt hat.
Sachverhalt:
Nachdem die Stadt Dietikon den Antrag von X. auf Sozialhilfe unter Verweis auf dessen Guthaben bei seiner Pensionskasse abgewiesen hat, tilgte X. mit einem Teil dieses Guthabens seine privaten Schulden und brauchte den anderen Teil für seinen Lebensunterhalt auf. Darauf stellte X. erneut einen Antrag auf Sozialhilfe. Dietikon lehnte diesen als rechtsmissbräuchlich ab. Dagegen erhob X. am 2. August 2011 beim Bezirksrat Beschwerde und verlangte, die Sozialhilfeleistungen seien ihm rückwirkend auszurichten.
Aus den Erwägungen:
I. b) Nach den Vorgaben der Bundesverfassung sind die Renten der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (AHV/IV) so festzulegen, dass diese den Existenzbedarf angemessen decken (Art. 112 Abs. 2 lit. b BV), wohingegen die berufliche Vorsorge (zusammen mit der AHV/IV) die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise ermöglichen soll (Art. 113 Abs. 2 lit. a BV). Freizügigkeitsguthaben, die aus der beruflichen Vorsorge fliessen, bezwecken also nicht die Existenzsicherung.
Verwendet also der Bezüger einer Freizügigkeitsleistung diese zur Tilgung von Schulden, so kann er womöglich seine gewohnte Lebenshaltung nicht mehr angemessen fortsetzen, vereitelt aber nicht seine durch die AHV- bzw. IV-Leistungen gewährleistete Existenzsicherung. Auch im Falle des Vorbezugs des Freizügigkeitsguthabens (also vor dem Bezug einer Altersrente der AHV) kommt diesem nicht der Zweck der Existenzsicherung zu. Entsprechend hat das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich festgehalten, dass die vorzeitige Auflösung von Altersguthaben der beruflichen Vorsorge zur Vermeidung von Sozialhilfeleistungen für einen Sozialhilfeempfänger nur ausnahmsweise zumutbar sei, z.B. wenn im Zeitpunkt des BVG-Rücktrittsalters hinreichende finanzielle Mittel zu erwarten sind oder wenn infolge einer unheilbaren Krankheit dieses Alter nicht erreicht werden dürfte (Entscheid vom 12. April 2001, VB.2000.00411).
Indem der Rekurrent das bezogene Freizügigkeitsguthaben nachweislich zur Tilgung von Schulden verwendet hat, strebte er vor dem Bezug von Sozialhilfe eine Bereinigung seiner finanziellen Verhältnisse an. Ausserdem beugte er dem Risiko vor, von seinen Gläubigern erfolgreich betrieben zu werden und seine Situation durch das Anfallen von Betreibungskosten noch weiter zu verschlechtern. Angesichts dieser Gegebenheiten kann nicht von einem klaren Willen ausgegangen werden, nur deshalb eine Notlage herbeizuführen, um Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Die Geltendmachung seines Anspruchs auf wirtschaftliche Hilfe war daher im Sinne der zitierten Rechtsprechung nicht rechtsmissbräuchlich.
Präsidialverfügung des Bezirksrates Dietikon vom 18. Oktober 2011
Sozialversicherungen
Partnerrente auch ohne ständiges Zusammenwohnen
Die Auszahlung einer Partnerrente darf von einer mindestens fünf Jahre dauernden Lebenspartnerschaft abhängig gemacht werden, nicht aber von einer ständigen Wohngemeinschaft. Massgebend ist der Wille zu einer Lebensgemeinschaft.
Sachverhalt:
B. war bei der Pensionskasse Q. berufsvorsorgeversichert. Am 8. Juni 2008 kam er bei einem Unfall ums Leben. Zusammen mit F. hatte B. einen im Mai 2004 geborenen Sohn. Q. lehnte die Auszahlung einer Partnerrente an die Lebenspartnerin von B., F., ab, da diese nicht fünf Jahre mit B. zusammengelebt habe. Gegen den Entscheid der Pensionskasse Q. reichte F. Klage beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern ein, welches die Klage abwies. Dagegen erhob F. Beschwerde in öffentlich-rechtlicher Angelegenheit vor Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
1. Nach Art. 20a Abs. 1 BVG kann die Vorsorgeeinrichtung in ihrem Reglement neben den Anspruchsberechtigten nach den Artikeln 19 (überlebender Ehegatte) und 20 (Waisen) begünstigte Personen für die Hinterlassenenleistungen vorsehen, u.a. natürliche Personen, die vom Versicherten in erheblichem Masse unterstützt worden sind, oder die Person, die mit diesem in den letzten fünf Jahren bis zu seinem Tod ununterbrochen eine Lebensgemeinschaft geführt hat oder die für den Unterhalt eines oder mehrerer gemeinsamer Kinder aufkommen muss (lit. a).
Gemäss Art. 22 Ziff. 2 Satz 1 «Kassenreglement und Bestimmungen für die zusätzliche Vorsorge» der Beschwerdegegnerin in der vom 1. Januar 2007 bis 31. Dezember 2008 gültig gewesenen Fassung (nachfolgend: Vorsorgereglement) besteht ein Anspruch auf eine Partnerrente beim Tod einer versicherten Person ebenfalls bei einem Konkubinatsverhältnis, sofern unmittelbar vor dem Tod während mindestens fünf Jahren ununterbrochen ein gemeinsamer Haushalt geführt wurde und der Tod vor dem ordentlichen Rücktrittsalter eintritt.
2.2 Die Beschwerdeführerin bestreitet die Zulässigkeit der reglementarischen Verschärfung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzung einer fünfjährigen Lebenspartnerschaft um das Kriterium eines fünfjährigen gemeinsamen Haushaltes nicht, rügt jedoch die vorinstanzliche Auffassung, Konkubinatspaare würden «per definitionem» zusammenwohnen, als bundesrechtswidrig. Gemäss BGE 134 V 369 sei eine ständige und ungeteilte Wohngemeinschaft kein begriffsnotwendiges Element der Lebensgemeinschaft.
3.3 Mit dem Erfordernis eines unmittelbar vor dem Tod während mindestens fünf Jahren ununterbrochen geführten gemeinsamen Haushalts stellt Art. 22 Ziff. 2 Satz 1 des Vorsorgereglements eine grundsätzlich zulässige weitere Voraussetzung für den Anspruch auf eine Partnerrente auf. Wie schon die Vorinstanz zutreffend erkannt hat, kann indessen nicht eine ständige ungeteilte Wohngemeinschaft an einem festen Wohnort verlangt werden. Ein solches Verständnis trüge den gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen und wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht Rechnung.
Oft können Lebenspartner aus beruflichen, gesundheitlichen oder anderen schützenswerten Gründen nicht die ganze Zeit, beispielsweise nur während eines Teils der Woche, zusammenwohnen. Massgebend muss sein, dass die Lebenspartner den manifesten Willen haben, ihre Lebensgemeinschaft, soweit es die Umstände ermöglichen, als ungeteilte Wohngemeinschaft im selben Haushalt zu leben (vgl. BGE 134 V 369 E. 7.1 S. 379 f.). In diesem Sinne kann der vorinstanzlichen Auffassung, wonach bei einer Unterbrechung von mehr als drei Monaten per se nicht mehr von einem ununterbrochen gemeinsam geführten Haushalt gemäss Art. 22 Ziff. 2 des Vorsorgereglements gesprochen werden könne (vorne E. 2.1), nicht beigepflichtet werden.
5.2.1 Die Vorinstanz hat festgestellt, das Führen eines gemeinsamen Haushalts könne erst ab April 2004 als nachgewiesen gelten (vorne E. 2.1). Diese Feststellung ist insofern aktenwidrig, als gemäss Schreiben der Einwohnergemeinde Z. vom 3. Februar 2010 die Beschwerdeführerin und der verstorbene Versicherte vom 6. Januar bis 20. Oktober 2004 «im gemeinsamen Haushalt wohnhaft gewesen sind». Aufgrund der im vorinstanzlichen Verfahren eingereichten Unterlagen sodann hatten die beiden vom 1. Juni bis 30. September 2003 in Untermiete bei Bekannten in X. und vom 1. Oktober 2003 bis 31. März 2004 bei einer älteren Frau und ihrer Tochter in einem Chalet in Y. zusammengewohnt. Im Übrigen kann es für die Frage eines gemeinsamen Haushaltes bei einem zeitgemässen Verständnis ohnehin nicht darauf ankommen, ob die Partner in einem Ferienhaus wohnen oder in Untermiete oder sich zusammen (längere Zeit) auf Reisen begeben.
5.2.2 Weiter steht mit Bezug auf die von der Vorinstanz als sporadisch bezeichneten Einreisen und Aufenthalte in der Schweiz aufgrund der Akten fest, dass der Versicherte nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes im Mai 2004 mindestens zweimal wieder in sein Heimatland zurückkehrte. Dabei wurde er indessen jeweils von der Beschwerdeführerin begleitet (vgl. Wohnsitzbescheinigungen der Einwohnergemeinde D. vom 10. Juni 2008). Von einem fehlenden gemeinsamen Haushalt in diesen Zeitabschnitten kann entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin jedenfalls nicht gesprochen werden, wird ein gemeinsamer Haushalt doch nicht dadurch aufgehoben, dass sich die daran Beteiligten auf Reisen begeben. Der Umstand sodann, dass der Versicherte bis zum Erhalt der Aufenthaltsbewilligung nach der Anerkennung der Vaterschaft am 10. Februar 2004 nach Ablauf der Arbeitsbewilligung jeweils die Schweiz verlassen musste, letztmals Ende September 2003, war einzig fremdenpolizeirechtlich begründet.
Damit wird der aus den gesamten ersichtlichen Umständen sich aufdrängende Schluss nicht entkräftet, dass die Beschwerdeführerin und ihr verstorbener Partner vor- und nachher tatsächlich miteinander unter einem Dach zusammenlebten. In diesem Zusammenhang weist die Beschwerdeführerin zu Recht darauf hin, dass die Angabe von P. als Wohnsitz in der Vaterschaftsanerkennung der damaligen rechtlichen Situation entsprach und daraus allein nicht auf einen fehlenden Willen, zusammen im selben Haushalt zu leben, geschlossen werden kann. In welchem genauen Zeitpunkt der Versicherte nach seiner Ausreise Ende September 2003 wieder in die Schweiz zurückkehrte, kann offenbleiben. Jedenfalls war dies offenbar nicht erst im Februar 2004, wie die Beschwerdegegnerin vorbringt.
Die Beschwerdeführerin hatte im Schreiben vom 12. August 2008 an die Vorsorgeeinrichtung angegeben, der Versicherte sei bereits nach wenigen Wochen als Besucher mit einem Touristenvisum wieder hier gewesen. Diese Angabe wird durch das Schreiben der Einwohnergemeinde Z. vom 3. Februar 2010, wonach die Beschwerdeführerin und ihr verstorbener Lebenspartner vom 6. Januar bis 20. Oktober 2004 zusammen «im gemeinsamen Haushalt» gewohnt hatten (vorne E. 5.2.1), bestätigt. Diese Darstellung, an welcher zu zweifeln kein Anlass besteht, dokumentiert ebenfalls den aus den übrigen Akten sich ergebenden festen Willen des Versicherten, mit der Beschwerdeführerin nicht nur eine Lebensgemeinschaft zu bilden, sondern auch mit ihr und dem gemeinsamen Sohn zusammen im selben Haushalt zu leben.
Dabei kann es auf dessen Form und Ausprägung nicht entscheidend ankommen, richtet sich doch das Vorsorgereglement als vorformulierter Vertragsinhalt an einen unbestimmten Adressatenkreis, in dem die verschiedensten Arten gemeinsamen Haushaltens sozial üblich sind, vom fest etablierten Wohnen in den eigenen vier Wänden bis zur Lebensgemeinschaft, wie sie hier von einem jungen Paar wechselnden Aufenthalts, zum Teil auf Reisen und mit Unterbrüchen, insgesamt aber auf einem klar ersichtlichen und durchgehenden Hintergrund gemeinsamen Zusammenwohnens gestaltet wurde.
Nach dem Gesagten ist entgegen der Auffassung der Vorinstanz das Erfordernis eines unmittelbar vor dem Tod des Versicherten (im Juni 2008) während mindestens fünf Jahren ununterbrochen geführten gemeinsamen Haushalts nach Art. 22 Ziff. 2 des Vorsorgereglements für den Anspruch auf eine Partnerrente zu bejahen.
Urteil 9C_902/2010 der II. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 14. September 2011
Sachverhalt nicht genügend abgeklärt: Rückweisung
Der aktuelle Gesundheitszustand ist abzuklären, wenn sich aus den Akten Fragen zur momentanen Arbeitsfähigkeit ergeben. Es darf nicht einfach unbesehen auf ein früheres Gutachten abgestellt werden.
Sachverhalt:
Nachdem sie vom Verwaltungsgericht dazu verpflichtet worden war, beauftragte die IV-Stelle Luzern (IV-Stelle) das Ärztliche Begutachtungsinstitut (ABI) Basel mit einer polydisziplinären Begutachtung von X. und wies dessen Begehren zum Leistungsbezug mit Verfügung vom 28. Februar 2008 erneut ab, was vom Verwaltungsgericht am 27. Juli 2009 bestätigt wurde. Am 27. August 2009 stellte X. wiederum ein Gesuch auf Leistungen, da sich sein Gesundheitszustand verschlechtert habe. Die IV¬Stelle lehnte das Gesuch mit Verfügung vom 24. März 2010 ab, da es versicherungspsychiatrisch gesehen keinen Hinweis für die Neueinschätzung des psychischen Gesundheitsschadens gebe. Daraufhin gelangte X. an das Verwaltungsgericht.
Aus den Erwägungen:
2. bb) Dem Basler ABI-Gutachten vom 28. Juni 2007 ist grundsätzlich volle Beweiskraft zuzuerkennen. Dies geht aus dem rechtskräftigen Urteil des Verwaltungsgerichts Luzern vom 27. Juli 2009 hervor.
3. Unbestrittenermassen besteht seit dem Bericht vom 7. Juli 2008 eine im Kern unveränderte Diagnose der behandelnden Psychiater.
Im Urteil vom 27. Juli 2009 kam das Verwaltungsgericht in Erwägung 4 zum Schluss, dass weder der Bericht von Dr. C. vom 7. Juli 2008 noch jener der Klinik St. Urban vom 5. Februar 2009 neue relevante Befunde, Umstände oder Hinweise enthalte, welche nicht bereits anlässlich der ABI-Begutachtung thematisiert und gewürdigt worden seien, weshalb ein konkretes Indiz zum Abweichen von der Zumutbarkeitsbeurteilung des ABI fehle. Darauf wird verwiesen. Diese Berichte vermögen demnach keine Verschlechterung des Gesundheitszustandes seit dem 28. Februar 2008 auszuweisen, eine solche kann also nicht allein aus der vom ABI-Gutachten abweichenden Diagnose abgeleitet werden.
4. Bleibt zu prüfen, ob aus den vorhandenen späteren Arztberichten trotz gleich gebliebener Diagnose eine massgebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers ersichtlich ist.
Obwohl durch den Vergleich der Austrittsberichte der Klinik St. Urban eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes aktenkundig ist, fehlt es vorliegend an einer schlüssigen und zuverlässigen Angabe über das Ausmass der Verschlechterung. Denn insbesondere der Bericht vom 5. Februar 2009 wies ausdrücklich darauf hin, dass die genannte Arbeitsfähigkeit von mutmasslich 50 Prozent noch besser abgeklärt werden müsse. Die Beschwerdegegnerin erachtete jedoch eine Neueinschätzung nicht für nötig, dies offensichtlich gestützt auf den Bericht des RAD, welcher am 11. Januar 2010 ausführte, es ergäben sich keine Hinweise für die Notwendigkeit einer Neueinschätzung des psychischen Gesundheitszustandes (IV-Protokoll 11.1.2010). Diese Beurteilung kann angesichts der geschilderten gesundheitlichen (psychischen) Entwicklung des Beschwerdeführers nicht nachvollzogen werden.
Mittels einer erneuten psychiatrischen Begutachtung ist deshalb vorliegend die aus psychiatrischer Sicht im Zeitpunkt der Verfügung vom 24. März 2010 noch bestehende Arbeitsfähigkeit zu ermitteln.
5. Ginge man vorliegend entgegen der ursprünglichen Einschätzung des ABI-Gutachtens von einer bestehenden anhaltenden somatoformen Schmerzstörung aus, wäre weiter zu prüfen, ob eine mitwirkende, psychisch ausgewiesene Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität und Konstanz gegeben ist. Denn eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung ist grundsätzlich ein psychisches Leiden mit Krankheitswert. Sie ist aus rechtlicher Sicht Voraussetzung, nicht aber hinreichende Basis für die Annahme einer invalidisierenden Einschränkung der Arbeitsfähigkeit (BGE 130 V 352; BG-Urteil 8C_976/2010 vom 23.2.2011).
Laut der Rechtsprechung gehört eine leichte bis mittelgradige depressive Episode zum gleichen Symptomkomplex wie die anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.4), weshalb sie keine eigenständige psychische Komorbidität von erheblicher Schwere, Dauer und Intensität begründe. Dies wurde in der neuesten Rechtsprechung etwas relativiert, indem BG-Urteil 8C_958/2010 vom 25. Februar 2011 in Erwägung 6.2.2.2 eine mittelgradige depressive Episode aufgrund umfangreicher Therapien als psychisches Leiden von nicht unerheblicher Schwere bezeichnete, dessen Auswirkungen es als glaubhaft erscheinen liesse, dass die zumutbare Willenskraft für die Schmerzüberwindung vermindert sei. Dabei sei bei der Festlegung der zu beachtenden Arbeitsfähigkeit auch das Vorliegen IV-fremder Faktoren zu beachten.
In zwei weiteren Urteilen wurde festgehalten, dass es nicht offensichtlich unrichtig sei, wenn davon ausgegangen werde, dass eine leichte bis mittelgradige depressive Episode eine IV-rechtlich relevante Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit bewirke (BG-Urteile 9C_980/2010 vom 20.6.2011 E. 5.3 und 9C_1041/2010 vom 30.3.2011 E. 5, mit Hinweisen).
Der Beschwerdeführer befindet sich seit Februar 2008 in psychiatrischer Behandlung bei Dr. C. Zudem war er seit Erlass der letzten massgebenden Verfügung in einer achtwöchigen tagesklinischen Rehabilitation beim MZL (Bericht MZL vom 7.7.2008) sowie zweimal für einen mehrwöchigen stationären Aufenthalt in der Klinik St. Urban (Berichte von St. Urban vom 5.2.2009 und 12.11.2009) und unterzog sich während der ganzen Zeit einer regelmässigen antidepressiven Medikation. Dies alles deutet auf eine nicht unerhebliche graduelle Schwere des psychischen Leidens hin. In Anbetracht der neusten Rechtsprechung kann deshalb vorliegend nicht einfach davon ausgegangen werden, dass eine allfällige mittelgradige depressive Episode nicht als Komorbidität im Sinne der Rechtsprechung zu gelten hätte, welche eine willensmässige Schmerzüberwindung erschweren würde. Auch in Bezug auf die aktuell zu stellenden Diagnosen und deren Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit besteht vorliegend Abklärungsbedarf.
6. Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass der medizinische Sachverhalt, wie er sich im massgebenden Zeitpunkt der Verfügung vom 24. März 2010 präsentierte, entgegen der Auffassung der IV-Stelle Luzern aus psychiatrischer Sicht nicht genügend abgeklärt war. Eine schlüssige Einschätzung der Arbeitsfähigkeit ist demzufolge nicht möglich, da ein relevanter Sachverhalt (aktueller psychiatrischer Gesundheitszustand) nicht abgeklärt ist. Die Sache ist daher an die IV-Stelle zurückzuweisen.
Urteil S 10 201/gia der Sozialversicherungsrechtlichen Abteilung des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 5. August 2011
Verwaltungsrecht
Auch überhöhte Wohnkosten sind zu bezahlen
Eine sozialhilfebedürftige Person muss vor ihrem Umzug die neue Wohngemeinde nicht anfragen, ob die Miete übernommen wird. Die Gemeinde muss einen überhöhten Mietzins zahlen, bis eine zumutbare günstigere Wohnung zur Verfügung steht.
Sachverhalt:
Der ausgesteuerten B. wurde ihre Wohnung in Aeugst am Albis gekündigt, worauf sie in Affoltern am Albis eine Wohnung zu einem Mietzins von 1400 Franken mietete. Aeugst am Albis zahlte im ersten Monat die Differenz zu dem in der Mietzinsrichtlinie der Gemeinde Affoltern am Albis vorgesehenen Maximalbetrag von 1050 Franken. Der Sozialausschuss von Affoltern am Albis zahlte ab dem Folgemonat bloss den vorgesehenen Maximalbetrag von 1050 Franken. Dagegen rekurrierte B. beim Bezirksrat, der den Rekurs am 7. April 2011 abwies. Mit Beschwerde vom 24. Mai 2011 rief B. das Verwaltungsgericht an.
Aus den Erwägungen:
4.1 Die von einer Fürsorgebehörde erlassenen Richtlinien zur Übernahme von Wohnungskosten sind rechtlich als Dienstanleitung zu qualifizieren und vermögen gegenüber dem Hilfesuchenden keine direkte Wirkung zu entfalten. Darauf gestützte Behördenentscheide müssen demnach primär dem kantonalen Sozialhilferecht und den Skos-Richtlinien entsprechen (VGr, 23. September 2010, VB.2010.00333, E. 3.2, mit Hinweisen).
Die Mietzinsrichtlinien der Beschwerdeführerin sehen für einen Einpersonenhaushalt einen maximalen Mietzins von 1050 Franken pro Monat vor. Es ist fraglich, ob die offenbar seit Jahren nicht mehr angepassten Mietzinsrichtlinien noch den aktuellen Gegebenheiten entsprechen bzw. ob es realistisch ist, in Affoltern am Albis eine Wohnung zu finden, deren Mietzins im Rahmen der Mietzinsrichtlinien der Gemeinde liegt. Unzulässig wäre es jedenfalls, bewusst tiefe Ansätze zu wählen, um so den Zuzug von Sozialhilfebedürftigen abzuwehren. Letztlich kann dies aber offen gelassen werden, da der Mietzins von monatlich 1400 Franken, welchen die Beschwerdeführerin für ihre aktuelle Wohnung zu zahlen hat, ohnehin als überhöht im Sinn von Kap. B.3 der Skos-Richtlinien erscheint.
4.2 Die Beschwerdegegnerin ist der Auffassung, die Fürsorgebehörde Aeugst am Albis hätte abklären müssen, ob der Mietzins in Affoltern am Albis übernommen werde. Gemäss Kap. B.3 der Skos-Richtlinien sollte das bisherige Sozialhilfeorgan bei einem Wegzug aus der Gemeinde zwar abklären, ob der künftige Mietzins in der neuen Gemeinde akzeptiert wird. Die Wegzugsgemeinde betrifft aber keine diesbezügliche Pflicht. Unterlässt sie die Abklärung, läuft sie allenfalls Gefahr, dass sie für den ersten Monat am neuen Wohnort einen erhöhten Mietzins entrichten muss (vgl. dazu Kap. C.1.7).
Ebenso wenig ist der Hilfesuchende dazu verpflichtet, vor dem Umzug in die neue Gemeinde Kontakt mit der dortigen Sozialbehörde aufzunehmen. Kap. C.1.7 der Skos-Richtlinien verpflichtet das bisher zuständige Sozialhilfeorgan zur Ausrichtung der wirtschaftlichen Hilfe auch für den Monat nach dem Umzug. Diese Regelung bezweckt, dass die unterstützten Personen genügend Zeit haben, um ihren Anspruch auf Sozialhilfe am neuen Ort abklären zu lassen, und auch das neue Sozialhilfeorgan die wirtschaftliche Hilfe sorgfältig festsetzen kann. Damit gehen die Skos-Richtlinien davon aus, dass die Kontaktaufnahme zwischen dem Hilfesuchenden und der neu zuständigen Sozialhilfebehörde erst nach dem Wohnortswechsel erfolgt. Die Beschwerdeführerin hat demnach keine Pflicht verletzt, wenn sie sich vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nicht an die Beschwerdegegnerin wandte.
4.4 Überhöhte Wohnkosten sind grundsätzlich so lange zu übernehmen, bis eine zumutbare günstigere Wohnung zur Verfügung steht (Skos-Richtlinien, Kap. B.3). Davon kann aber abgewichen werden, wenn die unterstützte Person keine oder nur ungenügende Suchbemühungen unternimmt. Verlässt eine hilfsbedürftige Person ohne Not eigenmächtig und freiwillig ein für sie zumutbares Logis, um in eine andere, teurere Wohnung einzuziehen, muss die Sozialbehörde die Mehrkosten nicht übernehmen (VGr, 6. April 2005, VB.2005.00020, E. 3.2). Anders verhält es sich, wenn der Umzug wie vorliegend unfreiwillig erfolgt. Mietet ein Hilfesuchender, der seine bisherige Wohnung verlassen muss, eine Wohnung, von der er weiss, dass deren Mietzins über den lokalen Mietzinsrichtlinien liegt, hat die Gemeinde den vollen Mietzins dann nicht zu übernehmen, wenn ihm ein treuwidriges Verhalten vorzuwerfen ist (vgl. Hänzi, S. 124).
Vorliegend war der Beschwerdeführerin bekannt, dass der Mietzins der Wohnung in Affoltern am Albis die dort geltenden Mietzinsrichtlinien um 350 Franken pro Monat übersteigt; dennoch mietete sie die neue Wohnung. Daraus allein lässt sich aber nicht auf ein treuwidriges Verhalten schliessen. Zu beachten ist vielmehr, dass sich die Beschwerdeführerin nach der Kündigung ihrer Wohnung gemäss Darstellung der Sozialen Dienste Affoltern intensiv um eine neue Wohngelegenheit bemüht hat. Die Wohnungssuche gestaltete sich jedoch als sehr schwierig, weshalb es nachvollziehbar ist, dass die Beschwerdeführerin mit dem Näherrücken des Auszugstermins (Ende September 2010) immer besorgter wurde. Unter diesen Umständen ist es ihr nicht vorzuwerfen, dass sie die Gelegenheit ergriff und Ende Juli 2010 den Mietvertrag für eine Wohnung unterzeichnete, deren Mietzins über den Richtlinien liegt. Ein treuwidriges Verhalten wäre ihr dann vorzuwerfen, wenn der neue Mietzins geradezu krass über den Richtlinien liegen würde oder wenn ihr die Sozialen Dienste gangbare Alternativen aufgezeigt hätten, was beides aber nicht der Fall ist. Demgemäss ist die Beschwerdegegnerin verpflichtet, die vollen Wohnkosten von 1400 Franken pro Monat im Budget zu berücksichtigen.
4.5 Der Beschwerdegegnerin steht es allerdings frei, der Beschwerdeführerin aufzuerlegen, eine den Mietzinsrichtlinien entsprechende Wohnung zu suchen, wobei auch eine 1-Zimmer-Wohnung zumutbar sein kann. Für den Fall, dass die Beschwerdeführerin nur ungenügende Suchbemühungen ausweist oder den Umzug in eine verfügbare zumutbare Wohnung verweigert, wäre ihr anzudrohen, dass nur noch der Mietzins gemäss der allenfalls zu revidierenden (vgl. E. 4.1) Richtlinien ausbezahlt würde.
Urteil VB.2011.00333 der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 18. August 2011.
Zivilprozessrecht
Gesuchstellung ist Rechtsvertretungsaufwand
Die Entlassung aus dem Fürsorgerischen Freiheitsentzug entspricht auch dann einer Gutheissung des Entlassungsgesuches, wenn sie vor dem Gerichtsentscheid erfolgt. Die Vorbereitung des Gesuches ist keine Sekretariatsarbeit. Der unentgeltliche Rechtsbeistand ist angemessen zu entschädigen.
Sachverhalt:
Nachdem X. am 22. September 2011 beim Einzelgericht des Bezirkes Horgen seine sofortige Entlassung aus der Psychiatrischen Klinik verlangte, wurde er am 26. September noch vor der Hauptverhandlung entlassen. Das Einzelgericht kürzte die geforderte Entschädigung für die unentgeltliche Rechtsvertretung von X. um rund 566 Franken auf rund 287 Franken. Dagegen erhob der betroffene Anwalt Z. Beschwerde beim Obergericht des Kantons Zürich.
Aus den Erwägungen:
2. Wird die Person vor dem Entscheid über das Gesuch entlassen und das Verfahren daher als gegenstandslos abgeschrieben, so ist dies mit Blick auf die Prozessentschädigung wie eine Gutheissung des Gesuchs zu behandeln.
3.1 Aus dem vom Gesuchsteller angeführten BGE 122 V 278 folgt, dass auch eine Partei, welcher aufgrund einer externen Vereinbarung mit Dritten an sich keine eigenen Kosten angefallen wären, Anspruch auf eine angemessene Entschädigung hat. So verhält es sich auch vorliegend mit Blick auf den Verein Psychex, der (mindestens teilweise) kostenlose Dienstleistungen erbringt.
3.2 Im Verfahren betreffend gerichtliche Beurteilung des fürsorgerischen Freiheitsentzuges ist dagegen § 7 AnwGebV massgeblich. Die Grundgebühr für die Vertretung in Verfahren der fürsorgerischen Freiheitsentziehung beträgt danach in der Regel 100 bis 2000 Franken (§ 7 AnwGebV). In diesem Rahmen ist die Entschädigung festzusetzen, und es sind sämtliche Bemessungsgrundlagen gemäss § 2 AnwGebV zu beachten.
Mit Blick auf den vorliegenden Fall ist dabei zu berücksichtigen, dass der Gesuchsteller noch vor der Verhandlung über sein Entlassungsgesuch aus der Klinik entlassen wurde. Dessen ungeachtet hatte sich die Rechtsvertretung indes in den Fall einzuarbeiten und die von der Vorinstanz zugestellten Unterlagen zur Kenntnis zu nehmen, zumal die Entlassung erst am Tag vor der Hauptverhandlung erfolgte.
3.3 Was die Ausführungen der Vorinstanz zur Honorarnote von Rechtsanwalt Z. angeht, kann es nicht angehen, sämtliche darin enthaltenen Aufwendungen der Psychex als «Sekretariatsarbeit» zu würdigen und gestützt auf diese Überlegung die Entschädigung entsprechend zu kürzen.
Im Ergebnis würde demnach die gesamte Arbeit an der Verfassung des Entlassungsgesuchs vom 22. September 2011 und die vorhergehende Instruktion durch den Gesuchsteller als «Sekretariatsarbeit» vom relevanten Aufwand abgezogen, und entschädigt würde nur die Vorbereitung der Hauptverhandlung nach Erhalt der Verfügung vom 23. September 2011. Dies kann nicht angehen.
Vielmehr ist auch die Vorbereitung des Entlassungsgesuchs vom 22. September 2011 als Rechtsvertretungsaufwand einzuschätzen.
4. In Berücksichtigung der erwähnten Umstände erscheint eine Parteientschädigung von 750 Franken zuzüglich Barauslagen angemessen.
Urteil PA11000-O/U der II. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 18. Oktober 2011
Strafprozessrecht
Verwertungsverbot trotz technischer Probleme
Aufzeichnungen von Telefongesprächen zwischen Mandant und Anwältin müssen aus den Strafverfahrensakten ausgesondert und vernichtet werden. Dies gilt auch, wenn dies technisch kompliziert ist oder die Datenintegrität dabei verletzt wird.
Sachverhalt:
Im Strafverfahren gegen X. wurden mittels Echtzeitüberwachung Telefongespräche mit seiner Verteidigerin auf einer CD aufgezeichnet. Nachdem die Verteidigerin im Rahmen der Akteneinsicht Kenntnis von der Aufzeichnung erhalten hatte, hat sie bei der Staatsanwaltschaft dagegen opponiert. Das Untersuchungsrichteramt hat gegen X. Anklage erhoben und gefordert, dass das Gericht über die Verwendung der CD zu befinden habe. Die Verteidigerin beantragte darauf bei der Anklagekammer, die aufgezeichneten, vom Berufsgeheimnis erfassten Informationen seien zu löschen.
Aus den Erwägungen:
5. Vom Berufsgeheimnis gemäss Art. 171 StPO sind Anwälte direkt betroffen (Art. 13 BGFA). Sie sind zur Wahrung des Geheimnisses verpflichtet. Die Verletzung des Berufsgeheimnisses ist strafbar (Art. 321 StGB). Nach Art. 13 Abs. 1 BGFA ist der Anwalt selbst im Falle der Einwilligung des Geheimnisherrn sowie der Entbindung durch die zuständige Behörde berechtigt, die Aussage zu verweigern. Anders als die Angehörigen anderer Zeugnisverweigerungsberechtigten ist der Anwalt gestützt auf Art. 171 Abs. 2 StPO deshalb auch nicht zur Aussage verpflichtet, wenn er von der Geheimhaltungspflicht entbunden worden ist (Andreas Donatsch in: Andreas Donatsch / Thomas Hansjakob / Viktor Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, N 52 zu Art. 171).
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass dem anwaltlichen Verteidiger im Zusammenhang mit den im Strafverfahren gegen die beschuldigte Person aufgezeichneten und vom Anwaltsgeheimnis umfassten Informationen eigene Rechte zustehen. Insoweit ist der Anwalt in seinen Rechten unmittelbar betroffen und kann insbesondere ohne Mitwirkung der beschuldigten Personen auf dem Beschwerdeweg die Löschung von aufgezeichneten und dem Berufsgeheimnis unterstehenden Informationen verlangen.
Daran vermag nichts zu ändern, dass der anwaltliche Verteidiger für die von ihm vertretene beschuldigte Person im Hauptverfahren vor Gericht einen gleichartigen Antrag stellen könnte (im Sinn von Art. 318 Abs. 2 StPO). Das erwähnte Recht auf Anspruch der Löschung von dem Berufsgeheimnis unterstehenden Informationen kann grundsätzlich unabhängig vom beim Gericht hängigen Hauptverfahren geltend gemacht werden. Dies hat umso mehr Geltung im vorliegenden Fall, weil bereits im Verfahren vor der Staatsanwaltschaft die Löschung beantragt wurde, worüber indes die Staatsanwaltschaft nicht entschied bzw. der Entscheid gemäss Anklageschrift dem Gericht überlassen wurde. Die Eintretensvoraussetzungen sind gegeben.
6. Bei der Überwachung anderer Personen (als solche, die einer Berufsgruppe mit Zeugnisverweigerungsrecht gemäss den Art. 170-173 StPO angehören) sind Informationen, über welche eine in diesen Artikeln genannte Person das Zeugnis verweigern könnte, aus den Verfahrensakten auszusondern und sofort zu vernichten; sie dürfen nicht verwendet werden (Art. 271 Abs. 3 StPO).
Gestützt auf diese klare gesetzliche Regelung gelten Informationen über Gespräche zwischen einer beschuldigten Person und ihrer anwaltlichen Verteidigung als geschützte Geheimnisse, weshalb sie aus den Verfahrensakten auszusondern und sofort zu vernichten sind. Der Ansicht der Staatsanwaltschaft, wonach bei der Vernichtung bzw. Löschung zwischen den Dokumenten (Protokolle des Kommunikationsverkehrs) und den (elektronischen bzw. technischen) Datenträgern zu unterscheiden sei, kann nicht gefolgt werden. Der gesetzgeberische Wille auf Aussonderung, sofortige Vernichtung und Nichtverwendung von dem Anwaltsgeheimnis unterliegenden Informationen ist klar und keiner Interpretation zugänglich, welche ein Abweichen zu rechtfertigen vermöchte.
Dagegen spricht auch nicht der Grundsatz der Datenintegrität, wonach es der auswertenden Behörde nicht möglich sein soll, einzelne Gespräche (z.B. entlastende) zu löschen (vgl. Thomas Hansjakob in: Andreas Donatsch / Thomas Hansjakob / Viktor Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, N 15 zu Art. 271). Der Grundsatz der Datenintegrität kann nur für gesetzlich rechtmässig erhobene Beweise gelten. Dem Anwaltsgeheimnis unterliegende Informationen dürfen aber aufgrund des Zeugnisverweigerungsrechts grundsätzlich nicht erhoben und müssen sofort vernichtet werden. Damit hat bereits der Gesetzgeber eine Abwägung zwischen dem absoluten Anspruch auf Wahrung des Anwaltsgeheimnisses und einem allfälligen prozessualen Interesse an der integralen Erhaltung erhobener Daten vorgenommen.
Die weiteren Einwendungen der Staatsanwaltschaft beziehen sich auf praktische Durchführungsprobleme bei der Ausscheidung anwaltlicher Gesprächsaufzeichnungen. Im Strafprozess ist indessen immer noch der gesetzgeberische Wille an der Einhaltung eines rechtsstaatlichen Verfahrens massgebend. Technische Abläufe sind nach den in der StPO verankerten Grundsätzen auszurichten, und der klar zum Ausdruck gebrachte gesetzgeberische Wille kann nicht unter Hinweise auf - tatsächliche oder vermeintliche - Vollzugsprobleme ausser Kraft gesetzt werden.
Mit anderen Worten haben Strafbehörden und ISC-EJPD die praktische Ausgestaltung der Überwachungdes Fernmeldeverkehrs nach den gesetzlichen Grundsatzentscheidungen zu richten und können nicht umgekehrt EDV-mässig begründete Aufwandminimierungen zu einer Erosion rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze führen.
Faktische Vollzugsprobleme bei der Löschung von Datenträgern in Bezug auf dem Anwaltsgeheimnis unterliegende Informationen stellen deshalb keinen genügenden Grund dar, die gesetzlich zwingend vorgeschriebene Ausscheidung und Vernichtung (einschliesslich der Löschung auf elektronischen Datenträgern) nicht vorzunehmen. Dem klaren gesetzlichen Willen des Gesetzgebers ist Nachachtung zu verschaffen. Die Staatsanwaltschaft ist anzuweisen, sämtliche der im Strafverfahren aufgezeichneten und vom anwaltlichen Berufsgeheimnis erfassten Informationen zu löschen.
Diesem zwingenden Anspruch der Beschwerdeführerin auf Löschung ihrer im Strafverfahren gegen (...) aufgezeichneten Gespräche kann auch nicht die Tatsache entgegengehalten werden, dass das Strafverfahren in der Zwischenzeit beim Kreisgericht St. Gallen anhängig ist. Die Staatsanwaltschaft hat es unterlassen, während des Zeitraums ihrer Verfahrensleitung für die vom Gesetz zwingend vorgeschriebene Löschung der aufgezeichneten Verteidigungsgespräche besorgt zu sein. Es wird deshalb auch ihre Aufgabe sein, für eine Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands zu sorgen.
Urteil AK.2011.82-AK der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 19. April 2011
Unklares Arztzeug-nis kein Grund für Kontumaz-Urteil
Urteilt das Gericht in Abwesenheit des Angeklagten, weil dessen Verhandlungsunfähigkeit im Arbeitsunfähigkeitszeugnis nicht ausdrücklich bescheinigt wird, verletzt es die Verteidigungsrechte, auch wenn der Angeklagte zuvor die Aussage verweigert hat.
Sachverhalt:
Die Einzelrichterin E. hat X. wegen Sachbeschädigung sowie Hinderung einer Amtshandlung am 17. Dezember 2010 in Abwesenheit schuldig gesprochen. Tags zuvor hat X. E. ein Arztzeugnis eingereicht, welches ihm die Arbeitsunfähigkeit vom 16. bis 19. Dezember 2010 attestierte und teilte mit, dass er nicht an der Verhandlung würde teilnehmen können. Mit Berufung an das Obergericht von Zürich gegen das Urteil von E. verlangt X. insbesondere die Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens.
Aus den Erwägungen:
b) Mit Urteil vom 17. Dezember 2010 sprach die Einzelrichterin in Strafsachen am Bezirksgericht Zürich den Angeklagten der mehrfachen Sachbeschädigung (Art. 144 Abs. 1 StGB) und der Hinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB) schuldig und bestrafte ihn mit einer bedingt vollziehbaren Geldstrafe von fünfzig Tagessätzen zu fünfzig Franken. Bezüglich der weiteren eingeklagten Straftaten erging ein Freispruch (Urk. 53, S. 37).
c) Gegen dieses Urteil liess der Angeklagte mit Eingabe vom 7. Januar 2011 rechtzeitig die Berufung erklären (Urk. 42; § 414 Abs. 1 StPO/ZH, § 140 Abs. 1 GVG, Art. 453 Abs. 1 StPO). Er strebt einen Freispruch an, beanstandet aber vorab, dass die Anklage den Anforderungen von § 162 StPO/ZH nicht genüge.
Ausserdem habe ihn die Einzelrichterin in unentschuldigter Abwesenheit verurteilt, obwohl er am 16. Dezember 2010 unter Beilage eines ärztlichen Zeugnisses mitgeteilt habe, dass er an der auf den folgenden Tag anberaumten Hauptverhandlung nicht teilnehmen könne. Dies müsse zur Wiederholung des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens führen (Urk. 46).
d) Der Angeklagte wurde ordnungsgemäss zur Hauptverhandlung vorgeladen (Urk. 24/3) und nahm die Vorladung am 10. November 2010 entgegen (Urk. 24/7). Am 16. Dezember 2010 schrieb er dem Gericht, er sei gemäss beiliegendem Arztzeugnis «verhindert am 17.12.10. Prozess-Nr. GG100466». Im besagten, am 16. Dezember 2010 ausgestellten Zeugnis attestierte Dr. med. R. dem Angeklagten eine vollständige Arbeitsunfähigkeit zufolge Unfalls für die Zeit vom 16. bis 19. Dezember 2010.
e) Die Einzelrichterin erwog, der Angeklagte habe zwar mitgeteilt, dass er nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen könne, und auch ein Arztzeugnis eingereicht, aber kein Verschiebungsgesuch gestellt. Nachdem er während der gesamten Strafuntersuchung die Aussage verweigert habe, sei das Gericht nicht gehalten, sich beim Angeklagten zu erkundigen, ob er eine Verschiebung der Verhandlung beantragen wolle. Zudem bestätige das Arztzeugnis lediglich eine Arbeitsunfähigkeit wegen Unfalls. Da der Angeklagte somit der Hauptverhandlung ohne entschuldbare Gründe ferngeblieben sei, werde das Urteil aufgrund der Akten gefällt (§ 195 Abs. 1 StPO/ZH).
f) aa) Aufgrund des eingereichten Arztzeugnisses ist davon auszugehen, dass sich der Angeklagte am Tag vor der vorinstanzlichen Hauptverhandlung wegen eines Unfalls in ärztliche Behandlung begab. Der Arzt attestierte ihm für diesen und die drei folgenden Tage eine vollständige Arbeitsunfähigkeit. Dieses Arztzeugnis reichte der Angeklagte unverzüglich dem Gericht ein und verband damit die Mitteilung, dass er tags darauf nicht zur Hauptverhandlung erscheinen könne.
Zwar trifft zu, dass er nicht ausdrücklich um eine Verschiebung der Tagfahrt ersuchte. Es lag aber auf der Hand, dass er mit seiner Eingabe genau dies erreichen wollte. Er stellte ja auch nicht ausdrücklich das Gesuch, ihn vom persönlichen Erscheinen vor Gericht zu dispensieren, was zudem keinen Sinn gehabt hätte, zumal der Angeklagte damals noch nicht anwaltlich verteidigt war.
f) bb) In dieser Situation war es der Einzelrichterin zwar unbenommen, das Arztzeugnis als unzureichende Entschuldigung zu betrachten, weil darin nur die Arbeits- und nicht explizit auch die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten bescheinigt wurde. Sie hätte dies aber dem Angeklagten mitteilen und ihm Frist zur Nachreichung eines entsprechend präzisierten Arztzeugnisses ansetzen müssen.
f) cc) Die Argumentation, dass sie den Angeklagten ohne diesbezügliche Weiterungen in unentschuldigter Abwesenheit habe verurteilen dürfen, weil er in der Untersuchung konsequent die Aussage verweigert habe, ist nicht stichhaltig. Dies gilt umso mehr, als der Angeklagte der staatsanwaltlichen Vorladung Folge geleistet (Urk. 11) und auch die Postsendung mit der Vorladung zur Hauptverhandlung korrekt in Empfang genommen hatte (Urk. 24/7). Die Aussage zu verweigern war jederzeit sein Recht. Unter diesen Umständen und in Anbetracht der Einreichung eines Arztzeugnisses durfte die Einzelrichterin keinesfalls unterstellen, dass der Angeklagte an einer Teilnahme am Gerichtsverfahren gar nicht interessiert sei.
f) dd) Die Einzelrichterin hätte bei dieser Sachlage entweder die Verhandlung verschieben oder diese unter dem Vorbehalt der Nachreichung eines präzisierten Arztzeugnisses durchführen können, jedenfalls aber die Urteilsfällung aussetzen müssen. Indem sie stattdessen sogleich ein Kontumazialurteil fällte, verletzte sie die Verteidigungsrechte des Angeklagten in grundlegender Weise. Dieser Mangel kann im Berufungsverfahren nicht mehr geheilt werden, da der Angeklagte ansonsten einer Instanz verlustig ginge. Die Sache ist daher zur Wiederholung der Hauptverhandlung und zu neuer Urteilsfällung an die Vorinstanz zurückzuweisen (§ 427 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH).
Beschluss SB110485-O/U/kw der II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 4. August 2011
Jugendgefängnis während Verfahren ständig überprüfen
Die vorsorgliche Unterbringung eines Jugendlichen während des Strafverfahrens muss in einer spezialisierten Massnahmeneinrichtung erfolgen. Wird er übergangsweise in einem Jugendgefängnis untergebracht, muss dies mindestens monatlich überprüft werden.
Sachverhalt:
Die Jugendanwaltschaft beschuldigte den noch nicht ganz 16-jährigen X. der versuchten Tötung und verfügte im Anschluss an die Untersuchungshaft die vorsorgliche stationäre Unterbringung in der Jugendabteilung des Gefängnisses Limmattal. Vor Obergericht verlangte X. erfolglos die Entlassung aus der Unterbringung. Gegen den Entscheid des Obergerichts reichte X. Beschwerde ans Bundesgericht ein. Darin verlangte er die Unterbringung in einer «geeigneten» Institution.
Aus den Erwägungen:
3. Der Beschwerdeführer macht Folgendes geltend: Zwar sei er unterdessen mit einer vorsorglichen Unterbringung grundsätzlich einverstanden. Deren (auch nur provisorischer) Vollzug in einem Jugendgefängnis auf unbestimmte Zeit verletze jedoch Bundesrecht bzw. seine Grundrechte (Art. 15 Abs. 2 JStG, Art. 10 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 5 Ziff. 1 lit. d EMRK). Es dränge sich daher seine Umplatzierung (innert sieben Tagen nach Eingang des bundesgerichtlichen Urteils) in eine besser geeignete Einrichtung auf. Eventualiter habe die Versetzung bis spätestens 19. Oktober 2011 zu erfolgen. Der Jugendanwaltschaft sei in diesem Sinne «eine Art Übergangsfrist zur dringlichen Suche eines passenden Orts zu gewähren». Der angefochtene Entscheid (inklusive Kostendispositiv) sei insofern aufzuheben.
4.2 Sämtliche vorsorglichen Schutzmassnahmen im Sinne von Art. 12 ff. i.V.m. Art. 5 JStG müssen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismässigkeit gemäss Art. 36 Abs. 3 BV wahren, das heisst, die Massnahme muss zur Zielerreichung geeignet und erforderlich sein, und es muss eine vernünftige Relation bestehen zwischen dem Eingriff und dem angestrebten Ziel (Urteil des Bundesgerichtes 1B_32/2011 vom 15. Februar 2011 E. 2.6; vgl. Hansueli Gürber / Christoph Hug / Patrizia Schläfli, in: Basler Kommentar StGB, 2. Aufl. 2007, vor Art. 1 JStG N. 20 und Art. 10 JStG N. 5; vgl. auch Marianne Heer, in: Basler Kommentar StGB, 2. Aufl. 2007, Art. 56 StGB N. 34 ff.).
Als für den Schutz des Jugendlichen unumgänglich (i.S.v. Art. 15 Abs. 2 lit. a JStG) kann sich eine vorsorgliche stationäre Massnahme etwa erweisen, wenn er während einer laufenden Schutzmassnahme immer wieder entweicht, da insoweit nur mittels Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung sichergestellt werden kann, dass der Jugendliche die erforderliche psychotherapeutische Behandlung erhält (Urteil des Bundesgerichtes 1B_32/2011 vom 15. Februar 2011 E. 2.7; vgl. Gürber / Hug / Schläfli, a.a.O., Art. 15 JStG N. 11).
Gemäss der Fachliteratur könne sich eine solche Massnahme (besonders bei Drittgefährdung im Sinne von Art. 15 Abs. 2 lit. b JStG) auch aufdrängen, wenn ein Jugendlicher jegliche Zusammenarbeit verweigert, therapeutisch-erzieherisch «unerreichbar» ist und zudem weitere schwere Delikte begeht bzw. sich in immer grössere Schwierigkeiten verstrickt (vgl. Gürber / Hug / Schläfli, a.a.O., Art. 15 JStG N. 11). Zwar werde die Möglichkeit einer kurzfristigen vorläufigen Unterbringung «in Krisensituationen» in einer geschlossenen Einrichtung von Art. 15 Abs. 2 JStG nicht ausdrücklich erwähnt. Aus den Materialien ergebe sich jedoch eine entsprechende Kompetenz der zuständigen Behörde (etwa bis zum Vorliegen einer psychiatrischen Begutachtung oder zur Bewältigung einer akuten Krise bzw. zur Planung und Einleitung der geeigneten Schutzmassnahmen).
4.3 Im Übrigen handelt es sich bei der vorsorglichen Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung - während der Strafuntersuchung und vor Erlass eines jugendstrafgerichtlichen Urteils - um strafprozessuale Haft im Rahmen des vorsorglichen Vollzugs einer jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahme (vgl. Art. 5 JStG). In diesem Zusammenhang dürfen die einschlägigen Verfahrensbestimmungen (und grundrechtlichen Garantien) der Jugend-Untersuchungshaft nicht faktisch unterlaufen werden. Untersuchungs- und Sicherheitshaft werden im Jugendstrafprozess nur in Ausnahmefällen und erst nach Prüfung sämtlicher Möglichkeiten von Ersatzmassnahmen angeordnet (Art. 27 Abs. 1 JStPO). Ausserdem muss die Jugend-Untersuchungshaft nach spätestens einem Monat von Amtes wegen überprüft (bzw. jeweils neu verlängert) werden (Art. 27 Abs. 3 JStPO i.V.m. Art. 227 StPO).
5. Die Jugendanwaltschaft hat im vorliegenden Fall (anstelle von Untersuchungshaft) eine vorsorgliche Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung (Jugendabteilung des Gefängnisses Limmattal) verfügt. Daher ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen von Art. 15 Abs. 2 JStG erfüllt sind (vgl. BGer-Urteil 1B_32/2011 vom 15. Februar 2011 E. 2.6-2.8).
5.4 Für eine möglichst baldige Umplatzierung des Beschuldigten in Nachachtung des Verhältnismässigkeitsgebotes spricht zunächst, dass (auch stationäre) vorsorgliche Unterbringungen in der Regel (und soweit möglich) in einer spezialisierten erzieherisch-therapeutischen Massnahmeneinrichtung für Jugendliche erfolgen sollten. Jugendgefängnisse dienen (vor dem gerichtlichen Entscheid) primär dem Vollzug von Untersuchungs- und Sicherheitshaft (vgl. Art. 28 JStPO). In diesem Zusammenhang ist auch den grundrechtlichen Garantien des jugendstrafprozessualen Freiheitsentzuges sinngemäss Rechnung zu tragen (vgl. Art. 27 Abs. 1 und 3 JStPO; Art. 31 Abs. 4 und Art. 32 Abs. 1 BV). Als vorübergehende Notlösung (bis zum Freiwerden eines besser geeigneten Platzes) erscheint die provisorische und zeitlich beschränkte Unterbringung in einem Jugendgefängnis jedoch nicht bundesrechtswidrig (vgl. Gürber / Hug / Schläfli, a.a.O., Art. 15 JStG N. 10-11; Riesen-Kupper, a.a.O., N. 8-12). Ein völliger Ausschluss einer entsprechenden befristeten Übergangslösung erschiene (gerade in schwierigen Fällen wie dem vorliegenden) jedenfalls wenig sachgerecht und widerspäche dem Sinn und Zweck von Art. 15 Abs. 2 JStG.
5.5 Die Oberjugendanwaltschaft weist in ihrer Stellungnahme vom 2. September 2011 darauf hin, dass die angefochtene vorsorgliche Unterbringung im Jugendgefängnis nur «vorübergehend» angeordnet worden sei, nämlich «bis eine geeignete Anschlussplatzierung möglich ist». Für solche vorübergehenden Einweisungen genüge das Vollzugsregime der Jugendabteilung des Gefängnisses Limmattal den Anforderungen von Art. 15 Abs. 2 JStG. Allerdings sei klar, dass die vorsorgliche Unterbringung «nicht längerfristig» im Jugendgefängnis vollzogen werden könne. Sobald sich eine geeignete Institution bereit erkläre, den Beschwerdeführer aufzunehmen, werde ein Übertritt verfügt werden. Er befinde sich auf der Warteliste für einen Eintritt in die jugendforensische Station der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, welche «voraussichtlich im November 2011 eröffnet» werde. Die Jugendanwaltschaft kläre auch noch weitere Platzierungsmöglichkeiten ab.
5.6 In Abwägung sämtlicher Gesichtspunkte drängt sich im vorliegenden Fall folgendes Vorgehen auf: Zwar erscheint im jetzigen Zeitpunkt ein (provisorischer) Vollzug der vorsorglichen stationären Unterbringung in der Jugendabteilung des Gefängnisses Limmattal (bis zum Auffinden einer geeigneteren Einrichtung) noch bundesrechtskonform. Eine provisorische vorsorgliche Schutzmassnahme nach Art. 15 Abs. 2 JStG verletzt in Fällen wie dem vorliegenden auch nicht die Unschuldsvermutung von Art. 32 Abs. 1 BV. Die Jugendanwaltschaft ist jedoch anzuhalten, weiterhin intensiv nach einem Platz in einer geeigneten erzieherisch-therapeutischen Massnahmeneinrichtung Ausschau zu halten. Spätestens
einen Monat nach Eröffnung des vorliegenden Urteils wird sie zu entscheiden haben, ob eine Versetzung aus dem Jugendgefängnis in eine spezialisierte Massnahmeneinrichtung für Jugendliche möglich ist. Nötigenfalls (und auf einen beschränkten Zeithorizont hin) haben analoge weitere Prüfungen (nach jeweils spätestens einem Monat) zu erfolgen. Die Beschwerde ist in diesem Sinne teilweise gutzuheissen (vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG).
Urteil 1B_437/2011 der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 14. September 2011
Gerichte des Bundes aktuell
Privatfernsehen darf einseitig sein
Private Fernsehsender sind nicht verpflichtet, vor Wahlen und Abstimmungen völlig neutral zu berichten. Laut dem Sitzungsentscheid der II. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts ist nur die SRG als Service-public-Anbieter dem Gebot der Vielfalt verpflichtet, zu dem auch die Vielfalt der Ansichten gehört. Privaten Anbietern ist dagegen eine gewisse Einseitigkeit erlaubt. Allerdings sind Private gleich wie die SRG dem Gebot der Sachgerechtigkeit unterworfen. Dieses verlangt zwar nicht, dass sämtliche Argumente umfassend ausgebreitet werden müssen. Immerhin sind aber andere Meinungen - soweit wichtig - aufzuzeigen. Reine politische Propaganda und manipulative Berichterstattung wäre in diesem Sinne sicher nicht mehr sachgerecht. Eine Sendung vom 7.2.2010 auf Cash TV im Vorfeld der Abstimmung über die Anpassung des BVG-Umwandlungssatzes ist entgegen der Ansicht der UBI nicht zu beanstanden.
2C_880/2010 vom 18. November 2011; schriftliche Begründung ausstehend
Berner Behörden erhalten Therapiebericht
Ein im Kanton Bern wegen Mordes verurteilter Mann muss es hinnehmen, dass die Berner Behörden den Bericht über seine abgebrochene Therapie in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies erhalten. Er hatte dort freiwillig beim Psychiatrisch-Psychologischen Dienst (PPD) ab 2008 eine Einzeltherapie zur Aufarbeitung seiner Tat besucht, diese Ende 2009 aber abgebrochen. In der Folge forderte er, dass der Bericht des PPD über den Verlauf der Therapie nicht an das Berner Amt für Freiheitsentzug und Betreuung herauszugeben sei, welches für den Vollzug der Strafe zuständig ist. Laut Bundesgericht besteht für die Weitergabe eine ausreichende gesetzliche Grundlage. Zudem stellt die Therapiearbeit im Strafvollzug keine «Privatangelegenheit» dar, sondern eine Pflicht des Straftäters gegenüber der Allgemeinheit. Der Bericht über die deliktorientierte Therapie ist eine wesentliche Entscheidgrundlage für die Planung und die Gestaltung des weiteren Strafvollzugs und bildet zudem die Basis für eine Prognose über die Gefährlichkeit und die Rückfallgefahr.
6B_4/2011 vom 28. November 2011
Stimmvolk mangelhaft informiert
Der Bundesrat hat das Volk vor der Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform II zwar mangelhaft informiert. Der Urnengang vom Februar 2008 wird aber aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes nicht wiederholt. Laut dem in öffentlicher Beratung gefällten Entscheid der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung hätte der Bundesrat offenlegen müssen, dass sich die finanziellen Konsequenzen der Vorlage in weiten Bereichen gar nicht prognostizieren lassen, anstatt im Abstimmungsbüchlein seine viel zu tief ausgefallenen Voraussagen zu präsentieren. Die damalige Informationslage hat dem Stimmvolk im Ergebnis keine korrekte Meinungsbildung ermöglicht.
u.a. 1C_182/2011 vom 20. Dezember 2011; schriftliche Begründung ausstehend
Grundschule nicht per Fernunterricht
Eltern können ihre Kinder die obligatorische Schulzeit nicht im Fernunterricht absolvieren lassen, bei dem der Stoff per Videoteaching, Webcam und das Lesen des bereitgestellten Unterrichtsmaterials vermittelt wird. Nach Ansicht der II. öffentlichrechtlichen Abteilung ist Fernunterricht mit dem in Art. 62 BV verankerten Anspruch auf einen ausreichenden Grundschulunterricht nicht vereinbar. Verlangt wird dabei eine Ausbildung, welche die Chancengleichheit des Kindes wahrt. Der Grundschulunterricht muss in diesem Sinne nicht nur schulisches Wissen vermitteln, sondern auch die soziale Kompetenz der Kinder fördern. Beim Fernunterricht findet die Förderung der sozialen Kompetenz - wenn überhaupt - nur marginal statt.
2C_593/2010 vom 20. September 2011
Bundesamt für Migration handelt treuwidrig
Das BFM handelt treuwidrig, wenn es Asylsuchende in laufenden Verfahren dazu auffordert, zwecks Beschaffung von Ausweispapieren die heimatlichen Behörden zu kontaktieren (mit Folge des allfälligen Nichteintretens im Unterlassungsfall gemäss Art. 32 AsylG). Das Bundesverwaltungsgericht erinnert daran, dass der Flüchtlingsstatus anerkannter Flüchtlinge widerrufen werden kann, wenn sie Handlungen vornehmen, die «auf eine Wiederherstellung der normalen Beziehungen zum Heimatland» abzielen, wozu etwa die Beantragung eines Passes zählt. Laut den Richtern verletzt das BFM das Gebot von Treu und Glauben sowie das Verbot widersprüchlichen Verhaltens, wenn es genau dies von Gesuchstellern im hängigen Asylverfahren verlangt. Eine Mitwirkungspflicht bei der Beschaffung von Reisepapieren besteht erst beim Vorliegen eines vollziehbaren Wegweisungsentscheides.
Urteil E-1995/2009 vom 24. August 2011
Feuerwerk wie Sprengstoff behandelt
Fussballfans, die am Eingang des Stadions mit versteckten pyrotechnischen Gegenständen (wie Bengalfackeln) erwischt werden, können wegen versuchten Verstosses gegen das Sprengstoffgesetz (Art. 15 Abs. 5 SprstG) verurteilt werden. Laut Strafrechtlicher Abteilung des Bundesgerichts gilt das Erreichen der Eingangskontrolle als «point of no return». Personen, die an dieser Stelle versteckte «Pyros» auf sich tragen, werden am späteren Abbrennen nur noch durch das Eingreifen der Security gehindert. Kein einigermassen vernünftiger Mensch setzt sich dem Risiko einer Kontrolle und Festnahme aus, um die Bengalfackeln oder Ähnliches dann nicht auch zu zünden.
u.a. 6B_614/2011 vom 14. Dezember 2011
Dignitas muss Zahlung offenlegen
Dignitas muss der Zürcher Staatsanwaltschaft die Belege für einen «Sonderbeitrag» herausgeben, den zwei Frauen vor ihrem Freitod an den Sterbehilfeverein überwiesen haben. In Aufzeichnungen der Toten war die Rede gewesen von der Überweisung eines «Sondermitgliedschaftsbeitrags». Laut Bundesgericht besteht für die Pflicht zur Herausgabe (Entsiegelung) der fraglichen Belege ein hinreichender Verdacht auf eine mögliche Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord aus selbstsüchtigen Gründen. Dies, weil Hinweise vorliegen, dass mehr als der statutengemässe Betrag zur Abgeltung des Aufwandes für die Freitodbegleitung bezahlt wurde. Die verlangte Offenlegung der Akten im konkreten Fall bedeutet nicht, dass Dignitas jegliche Zahlungen in sämtlichen Fällen transparent machen muss.
1B_516/2011 vom 17. November 2011
Kein Einzug des Dirnenlohns
Der Verdienst von illegal in der Schweiz tätigen Prostituierten darf vom Staat nicht als Deliktsgut eingezogen werden. Das Bundesgericht hat einer Frau recht gegeben, bei der die Aargauer Behörden 14 000 Franken Freierlohn gefunden und eingezogen hatten. Das Gericht erinnert an seinen kürzlich gefällten Grundsatzentscheid zur unzulässigen Einziehung des Lohnes aus Schwarzarbeit von illegal tätigen Ausländern (6B_1000/2010), wonach der Verdienst in solchen Fällen trotz rechtswidrigem Aufenthalt und fehlender Arbeitsbewilligung aus gültigem Arbeitsvertrag und damit «objektiv legalem Rechtsgeschäft» stammt. Das trifft laut Gericht auch zu, wenn das Einkommen aus illegaler Prostitution stammt. Die Prostitution gilt zwar weiterhin als sittenwidrig, sie ist aber im Sinne des Strafrechts nicht widerrechtlich. Bei der selbstbestimmten Ausübung der Prostitution handelt es sich vielmehr um eine zulässige Tätigkeit, die unter dem Schutz der Wirtschaftsfreiheit steht.
6B_188/2011 vom 26. Oktober 2011
Gutachten für Begegnungszone
Auch bei der Umwandlung einer Tempo-30-Zone in eine Begegnungszone ist grundsätzlich durch das in Art. 108 der Signalisationsverordnung geforderte Gutachten abzuklären, ob die Massnahme nötig, zweck- und verhältnismässig ist oder andere Massnahmen vorzuziehen sind. Das Bundesgericht hat der gegenteiligen Auffassung des Berner Verwaltungsgerichts widersprochen und dem Astra in diesem Punkt recht gegeben. Allerdings kann in solchen Fällen auch ein etwas weniger ausführliches Gutachten genügen.
1C_370/2011 vom 9. Dezember 2011
pj
Zur Publikation vorgesehen
Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
- Die Erfordernisse der Sachgerechtigkeit und Ausgewogenheit (Art. 4 Abs. 2 RTVG) sollen im Einzelfall nicht derart streng gehandhabt werden, dass die für die demokratische und pluralistische Gesellschaft erforderliche journalistische Freiheit und Spontaneität verlorengeht. Die SRG hat mit dem im «10 vor 10» gesendeten Beitrag «Die FDP und die Pharmalobby» das Gebot der Sachgerechtigkeit nicht verletzt.
2C_710/2010 vom 18. November 2011
- Erhebung und Auswertung der an verschiedenen Tatorten zustande gekommenen Mobiltelefon-Verbindungen (rückwirkender Antennensuchlauf im Rahmen einer Rasterfahndung) kann trotz fehlender ausdrücklicher Gesetzesgrundlage in der StPO zulässig sein. Voraussetzungen: Gegen die unbekannte (aber grundsätzlich individualisierbare) Täterschaft besteht der dringende Tatverdacht eines Verbrechens, die Massnahme muss Ultima Ratio darstellen, es dürfen nur Randdaten erhoben werden (u.a. ein- und ausgehende Nummern), die angepeilte verdächtige Schnittmenge der abgeglichenen Randdaten muss voraussichtlich klein sein.
1B_376/2011 vom 3. November 2011
- Ausländischen Personen ohne gültigen Aufenthaltstitel darf die Heirat nicht grundsätzlich verwehrt werden. Das Bundesgericht macht Vorgaben zur menschenrechtskonformen Umsetzung der «Lex Brunner» (Art. 98 Abs. 4 ZGB). Liegen keine Hinweise auf einen Missbrauch vor und dürfte die betroffene Person nach ihrer Heirat ohnehin wieder in die Schweiz zu ihrem Partner kommen, so haben die Fremdenpolizeibehörden für die Heirat eine befristete Aufenthaltsbewilligung auszustellen.
2C_349/2011 vom 23. November 2011
- Atheisten müssen es hinnehmen, wenn ein Kanton aus ihren allgemeinen Steuern auch die Löhne von Pfarrern finanziert (hier Bern). Die Bezahlungen allgemeiner Steuern und Abgaben kann nicht unter Berufung auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) abgelehnt werden.
2C_360/2010 vom 22. November 2011
- Der Kanton Zug muss Massnahmen zur Gleichstellung von Mann und Frau (Art. 8 Abs. 3 BV) ergreifen. Die ersatzlose Abschaffung der Kommission für Chancengleichheit von Mann und Frau kann zu einer verfassungswidrigen Situation führen. Was der Kanton Zug genau zu tun hat, bleibt ihm selber überlassen, da sich aus der Kantonsverfassung, der BV oder aus internationalen Übereinkommen keine Verpflichtung zu einer bestimmten institutionellen Massnahme ableiten lässt.
1C_549/2010 vom 21