Sozialversicherung
Gutachten sind auf ihren Beweiswert zu überprüfen
Geht ein Bericht des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) nicht auf geklagte Störungen und geltend gemachte Diagnosen ein, kommt ihm kein Beweiswert zu. Die IV-Stelle muss dann weitere Abklärungen treffen.
Sachverhalt:
Nach mehreren Unfällen meldete sich X. bei der eidgenössischen Invalidenversicherung (IV) zum Bezug von Leistungen an. Nach der Konsultation des RAD und den Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle Aargau den Anspruch auf berufliche Massnahmen sowie auf Rente mit Verfügung vom 11. Mai 2010. X. erhob dagegen Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau und reichte einen Arztbericht von Dr. med. Torbica nach.
Aus den Erwägungen:
5. Der Versicherungsträger und das Gericht (vgl. Art. 61 lit. c in fine ATSG) haben die Beweise frei, das heisst ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen.
Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 134 V 231, E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352).
6.2 Die Beschwerdegegnerin stützte sich bei Erlass der Verfügung auf den Bericht des Dr. med. Hoch vom RAD. Dabei handelt es sich um einen Bericht im Sinne von Art. 49 Abs. 3 der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV). Nach dieser Vorschrift stellen die regionalärztlichen Dienste den IV-Stellen für jeden geprüften Fall einen schriftlichen Bericht mit den notwendigen Angaben zu. Dieser enthält die Ergebnisse der medizinischen Prüfung und eine Empfehlung zur weiteren Bearbeitung des Leistungsbegehrens aus medizinischer Sicht.
Diese Berichte sind weder medizinische Gutachten im Sinne von Art. 44 ATSG noch Untersuchungsberichte gemäss Art. 49 Abs. 2 IVV. Ihre Funktion besteht darin, den medizinischen Sachverhalt zusammenzufassen und zu würdigen. Dazu gehört auch, bei sich widersprechenden medizinischen Akten eine Wertung vorzunehmen und zu beurteilen, ob auf die eine oder die andere Ansicht abzustellen oder aber eine zusätzliche Untersuchung vorzunehmen sei. Nach der Rechtsprechung ist es dem Sozialversicherungsgericht nicht verwehrt, gestützt auf im Wesentlichen oder sogar ausschliesslich vom am Recht stehenden Versicherungsträger intern eingeholte medizinische Unterlagen zu entscheiden. In solchen Fällen sind an die Beweiswürdigung jedoch strenge Anforderungen in dem Sinne zu stellen, dass auch bei nur geringen Zweifeln an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der ärztlichen Feststellungen ergänzende Abklärungen vorzunehmen sind (Urteil des Bundesgerichts 9C_341/2007 vom 16. November 2007 E. 4 mit Hinweisen).
Zunächst ist festzuhalten, dass Dr. med. Hoch mit keinem Wort auf die vom Beschwerdeführer geklagten Sehstörungen und den geklagten Tinnitus eingeht. Diese wurden jedoch von Dr. med. Zangger, Facharzt FMH für Neurologie und Physikalische Medizin und Rehabilitation, Rehaklinik Bellikon, in seinem Bericht vom 9. März 2006 festgehalten. Er verneinte einen Zusammenhang mit den Unfällen (VB 1 24 S. 2), doch im Rahmen des IV-Verfahrens spielt diese Frage keine Rolle, wichtig ist nur, ob sich diese geklagten bestehenden Beschwerden auf irgendeine Weise auf die Arbeitsfähigkeit auswirken. Dazu wird jedoch in den Akten nicht Stellung genommen.
Dem Austrittsbericht vom 3. Oktober 2005 der Rehaklinik Bellikon ist immerhin zu entnehmen, dass sich der Patient auch mit diesen Beschwerden arbeitsfähig fühlte (VB 1 26 S. 2). Dem Bericht von Dr. med. Juchli, Facharzt FMH für Hals-, Nasen-, Ohren-Krankheiten, Aarau, vom 25. April 2006 (VB 1 28) ist zudem zu entnehmen, dass keine eigentliche Tinnitusbetreuung nötig sei. Dies ändert aber nichts daran, dass der RAD-Bericht nicht vollständig ist. Es ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer gemäss seinen Ausführungen in der Beschwerde sich inzwischen in seiner Sehfähigkeit stark eingeschränkt fühlt. Weitere Abklärungen scheinen angezeigt.
Dr. med. Torbica, praktische Ärztin, Zofingen, hat in ihrem Bericht vom 11. März 2009 unter anderem eine depressive Entwicklung festgehalten. Dr. med. Carstens, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Zofingen, hatte in seinem Bericht vom 5. Mai 2008 als Diagnose eine psychogene Anpassungsstörung mit zunehmender Schmerz- und Beschwerdeproblematik im Sinne einer Symptomausweitung festgehalten (VB 1 104). Aus dem Bericht geht zudem hervor, dass sich der Beschwerdeführer in Einzelpsychotherapie befindet und Psychopharmaka erhält.
Dr. med. Hoch beanstandet, dass die Diagnose Anspassungsstörung nicht nachvollziehbar und die Diagnose «depressive Entwicklung» zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ungenügend sei. Zudem beanstandet er, dass keine Verschlüsselung nach ICD vorliegt. Wenn die vorhandenen Unterlagen im psychischen Bereich jedoch ungenügend sind, wäre der RAD gehalten gewesen, diesbezügliche weitere fachärztliche Abklärungen, sei es intern oder extern, zu veranlassen, um den relevanten Sachverhalt abzuklären. Aufgrund des im Verfahren geltenden Untersuchungsgrundsatzes besteht seitens des Beschwerdeführers lediglich eine Mitwirkungspflicht und nicht eine Beweisführungslast. Wenn die vorliegenden Berichte ungenügend sind und von weiteren Abklärungen wie hier neue massgebliche Erkenntnisse erwartet werden können, sind diese zu veranlassen. Die Beweisführungslast darf nicht wie in diesem Fall implizit dem Beschwerdeführer überwälzt werden, indem bloss festgehalten wird, die medizinischen Akten sind ungenügend und damit ein Gesundheitsschaden nicht ausgewiesen.
Zu den Ausführungen des Meniskusschadens ist festzuhalten, dass es für das IV-Verfahren nicht relevant ist, ob dieser traumatisch bedingt ist oder nicht. Wesentlich ist nur, ob er sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt. Dr. med. Hoch verneint dies. Das heisst, er verneint nur, dass dieser die Arbeitsfähigkeit dauerhaft um 50 Prozent einschränkt. Dies begründet er damit, dass die entsprechenden klinischen Symptome fehlten. Es wird jedoch nicht klar, auf welche Arztberichte er sich stützt.
Dr. med. Torbica hat in ihrem Bericht lediglich als Diagnose eine mediale Meniskusläsion im Knie links angegeben und berichtet, dass der Beschwerdeführer starke Belastungsschmerzen im linken Knie angegeben habe (VB 9). Dr. med. Liftmann, Röntgeninstitut, Aarau, gab am 24. Oktober 2008 als Indikation für das MRI nur Kniebelastungsschmerzen links an.
Dr. med. Torbica schätzte die Arbeitsfähigkeit in adaptierter Tätigkeit auf 50 Prozent. Auf ihren Bericht kann mangels Beweiswert zwar nicht abgestellt werden, dennoch hätte sich Dr. med. Hoch dazu äussern müssen. Zudem wird mit dieser Feststellung (50 Prozent) eine weniger weit gehende Einschränkung nicht ausgeschlossen. Auf den Bericht von Dr. med. Hoch kann nach diesen Ausführungen nicht abgestellt werden. Auch den übrigen in den Akten befindlichen Berichten kommt für den im IV-Verfahren massgebenden fraglichen Zeitraum (bis zwei Jahre vor der IV-Anmeldung, das heisst ab Dezember 2006) kein Beweiswert zu.
Die Beschwerdegegnerin wird daher den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers umfassend abzuklären haben. Erst danach wird sich der Anspruch auf berufliche Massnahmen und Rente beurteilen lassen. Die angefochtenen Verfügungen vom 11. Mai 2010 sind daher aufzuheben und die Sache an die Beschwerdegegnerin zur weiteren Abklärung und anschliessenden Neuverfügung zurückzuweisen.
Urteil VBE.2010.414 der 4. Kammer des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 13. April 2011
Ergebnis der Observation falsch beurteilt
Beweist eine Observation keine eindeutige Verbesserung des Gesundheitszustandes, darf die IV-Rente ohne eine eingehende medizinische Abklärung nicht sistiert werden. Die Rechtmässigkeit der Observation muss vorerst nicht geprüft werden.
Sachverhalt:
Gestützt auf eine Observation sistierte die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich (IV-Stelle) die Dreiviertelsrente von X. mit Verfügung vom 2. November 2010. X. erhob bei dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Beschwerde mit dem Antrag, die Verfügung sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zwecks Ausrichtung weiterer Leistungen zurückzuweisen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragte X. insbesondere, es sei über die Rechtmässigkeit der Observation zu befinden.
Aus den Erwägungen:
4.4.1 Bei der Zusprechung der Rente stellte das hiesige Gericht im Urteil vom 28. Februar 2003 (Urk. 7/96) in erster Linie auf das Gutachten der Klinik B. vom 14. Dezember 2000 (Urk. 7/67) und den Bericht von Dr. med. C., Spezialarzt für Otorhinolaryngologie, Hals- und Gesichtschirurgie, vom 9. Juni 2001 (Urk. 7/82) ab, die sich als schlüssig, detailliert und nachvollziehbar erwiesen hatten (E. 5.2).
Ausgehend vom Ergebnis der medizinischen Abklärung erachtete es das Gericht als erwiesen, dass der Beschwerdeführerin unter Berücksichtigung der verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen als kaufmännische Angestellte oder in einer anderen angepassten Tätigkeit auf Dauer kein Pensum von mehr als 50 Prozent zumutbar sei. Aggravatorische Tendenzen bestünden nicht, sondern die Beschwerdeführerin sei überdurchschnittlich willensstark und habe wiederholt alles daran gesetzt, ihre Erwerbsfähigkeit in grösstmöglichem Umfang zu erhalten (E. 5.7). Das damalige Eidgenössische Versicherungsgericht bestätigte den Entscheid mit Urteil vom 26. März 2004.
4.2 Im März und Juni 2004 wurde die Beschwerdeführerin im Auftrag der Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, der Unfallversicherung der Beschwerdeführerin, untersucht.
Mit Verfügung vom 24. März 2005 sprach auch die Unfallversicherung der Beschwerdeführerin eine Invalidenrente, gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 65 Prozent, zu (Urk. 7/132).
4.3 Den Standpunkt, aus fachärztlicher Sicht entspreche das Bewegungsverhalten der Beschwerdeführerin demjenigen einer gesunden Person, wohingegen funktionelle Einschränkungen und Anzeichen einer physischen oder psychischen Behinderung, die eine andauernde Arbeitsunfähigkeit bewirkten, nicht zu erkennen seien, stützte die Beschwerdegegnerin auf die Stellungnahme von RAD-Arzt Dr. med. F., Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie, vom 15. Oktober 2010. Dieser führte aus, aufgrund des Observationsmaterials müsse an den von der Beschwerdeführerin geschilderten Schmerzen gezweifelt werden. Das Bewegungsverhalten der Beschwerdeführerin entspreche demjenigen einer gesunden Person. Funktionelle Einschränkungen seien keine zu erkennen und es fehlten Anzeichen für eine physisch oder psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sei eine Veränderung des Gesundheitszustandes im Sinne einer Verbesserung eingetreten. Die in den Video-Aufzeichnungen dargestellten Aktivitäten liessen eine Restarbeitsfähigkeit in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit und in einer Verweistätigkeit vermuten (Urk. 7/200, S. 5).
4.5 Die Videosequenzen, die die Beschwerdeführerin betreffen (Urk. 12/1 und Urk. 12/6-8), zeigen durchwegs ein beschränktes Bewegungsspektrum. Die Beschwerdeführerin wurde in erster Linie beim Gehen beobachtet, beim Einsteigen in ein Auto oder beim Verlassen desselben, beim Öffnen oder Schliessen von Autotüren. Zu sehen ist verschiedentlich auch, wie die Beschwerdeführerin den Kopf wendet, sich bückt oder gewisse Handreichungen vornimmt. Offensichtlich schmerzbedingte Bewegungseinschränkungen oder Schonhaltungen fallen nicht auf.
Zu beachten ist, dass es sich bei den beschriebenen Aktivitäten ausschliesslich um körperlich leichte handelt. Solche sind der Beschwerdeführerin auch nach bisheriger Erkenntnis in erwerblicher Hinsicht im Umfang von mindestens einem halbtägigen Pensum zumutbar. Die Videosequenzen lassen keine Rückschlüsse auf die gesamte oder gegebenenfalls eine kontinuierliche Belastung der Beschwerdeführerin in der beobachteten Zeit zu. Kenntnis der Gesamtbelastung innerhalb einer Beobachtungsperiode ist jedoch für eine zuverlässige Beurteilung vorauszusetzen, da die Beschwerdeführerin unter belastungsabhängigen Beschwerden leidet, die umso höher sind, je intensiver die verschiedenen Belastungen sind.
Die Feststellung des RAD-Arztes, das Bewegungsverhalten der Beschwerdeführerin entspreche demjenigen einer gesunden Person, ist somit anhand der Ergebnisse der Überwachung nicht in dieser Eindeutigkeit nachvollziehbar.
4.7 Zusammenfassend kann der Schlussfolgerung der Beschwerdegegnerin, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sei eine Verbesserung des Gesundheitszustandes eingetreten, nicht gefolgt werden. Aufgrund des Ergebnisses der Observation ist eine Verbesserung keineswegs offensichtlich, sondern liegt lediglich im Bereich des Möglichen. Um dies zu klären, sind eingehende medizinische Abklärungen nötig. Solche hat die Beschwerdegegnerin am 11. November 2010 (Urk. 7/178) denn auch in die Wege geleitet.
Dass eine verwertbare Restarbeitsfähigkeit besteht, steht einem Weiterbezug der Rente nicht entgegen. Die Beschwerdeführerin bezieht lediglich eine Teilrente. Die Tätigkeit als kaufmännische Angestellte oder eine vergleichbar belastende ist ihr im Umfang von 50 Prozent zumutbar. Die für die sofortige Sistierung der Rente als vorsorgliche Massnahme erforderliche Dringlichkeit ist nicht gegeben. Das Interesse der Beschwerdeführerin am Weiterbezug der Rente ist bei gegebener Sachlage grösser zu gewichten als das mögliche Ausfallrisiko der Beschwerdegegnerin bei einer allfälligen Rückforderung von Rentenleistungen.
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten gutzuheissen. Auf die Visionierung des Observationsmaterials im Rahmen einer Gerichtsverhandlung (vgl. Urk. 1, S. 3 f., Ziff. 7 Urk. 15) ist zu verzichten. Auch auf die weiteren prozessleitenden Anträge (Urk. 1, S. 2 f., Ziff. 4-6) braucht bei diesem Verfahrensausgang nicht weiter eingegangen zu werden.
Urteil IV.2011.00177 der II. Kammer des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 12. Juli 2011
Kürzung der Rente mit Massnahmen zur Eingliederung
Wird einem 60-jährigen Automechaniker nach langer Abwesenheit vom Arbeitsmarkt die IV-Rente revisionsweise herabgesetzt, müssen vorher Massnahmen zur Eingliederung durchgeführt werden. Eine Selbsteingliederung ist nicht zumutbar.
Sachverhalt:
Die IV-Stelle sprach dem am 3. April 1949 geborenen Automechaniker R. eine ganze Invalidenrente mit Wirkung ab 1. Januar 2002 zu. Im Rahmen eines Revisionsverfahrens setzte die IV-Stelle die Invalidenrente per 1. Dezember 2009 auf eine Viertelsrente herab. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene Beschwerde ab. R. gelangte darauf mit einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht und beantragte die erneute Ausrichtung einer ganzen Invalidenrente.
Aus den Erwägungen:
3.1 Der Anfang April 1949 geborene Beschwerdeführer war bis zum Auftreten der gesundheitlichen Probleme mit dem Rücken stets als Automechaniker erwerbstätig gewesen. Nach der Rentenzusprache mit Verfügung vom 22. Mai 2002 ist er keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen. Im Zeitpunkt der Rentenaufhebung per 1. Dezember 2009 war er rund 60 Jahre und 8 Monate alt.
3.2 Nach der verbindlichen Feststellung des kantonalen Gerichts ist der Beschwerdeführer in einer leidensangepassten Tätigkeit mit Wechselhaltung, beispielsweise Verpackungs-, Kontroll- und Scannarbeiten oder leichte Montagetätigkeiten, vollständig arbeitsfähig. Bei einer vollzeitlichen Ausübung einer leidensangepassten Tätigkeit könne er aufgrund der Tabellenlöhne (privater Sektor, einfache und repetitive Tätigkeiten) unter Gewährung eines Abzugs von 10 % ein Invalideneinkommen von Fr. 55 238.- erzielen, was bei einem Validenlohn von Fr. 94 604.- einen Invaliditätsgrad von gerundet 42 % ergebe. Zu diesem Ergebnis sind die Verwaltung und das kantonale Gericht gelangt, indem sie den Beschwerdeführer auf den Weg der Selbsteingliederung verwiesen haben, ohne die Verwertbarkeit der wiedergewonnenen Arbeitsfähigkeit konkret zu prüfen und allenfalls eine berufliche Eingliederungsmassnahme an die Hand zu nehmen. Es ist daher zu prüfen, ob ein Regelfall sofortiger erwerblicher Verwertbarkeit der Arbeitsfähigkeit vorliegt. Auszugehen ist vom Grundsatz, dass aus einer medizinisch attestierten Verbesserung der Arbeitsfähigkeit in der Regel unmittelbar auf eine Verbesserung der Erwerbsfähigkeit geschlossen und damit ein entsprechender Einkommensvergleich (mit dem Ergebnis eines tieferen Invaliditätsgrades) vorgenommen werden kann (Urteil 9C_163/2009 vom 10. September 2010, E.4.2.2 mit Hinweisen = SVR 2011 IV Nr. 30, S. 86). Eine rentenbestimmende Invaliditätsbemessung setzt aber auch im Revisionsfall (Art. 17 ATSG) voraus, dass angezeigte Eingliederungsmassnahmen durchgeführt worden sind. Dementsprechend ist der Eingliederungsbedarf im Falle einer Revision oder Wiedererwägung in gleicher Weise wie im Rahmen einer erstmaligen Invaliditätsbemessung abzuklären. Wie das Bundesgericht in einem neuesten Urteil erkannt hat, ist diese Praxis jedoch auf Sachverhalte zu beschränken, in denen die revisions- oder wiedererwägungsweise Herabsetzung oder Aufhebung der Invalidenrente eine versicherte Person betrifft, die das 55. Altersjahr zurückgelegt hat oder die Rente mehr als 15 Jahre bezogen hat (Urteil 9C_228/ 2010 vom 26. April 2011).
3.3 Die Übernahme der beiden Abgrenzungskriterien bedeutet nicht, dass die darunter fallenden Rentner/innen in dem revisions- (Art. 17 Abs. 1 ATSG) bzw. gegebenenfalls wiedererwägungsrechtlichen (Art. 53 Abs. 2 ATSG) Kontext einen Besitzstandsanspruch geltend machen könnten; es wird ihnen lediglich zugestanden, dass - von Ausnahmen abgesehen - aufgrund des fortgeschrittenen Alters oder einer langen Rentendauer die Selbsteingliederung nicht mehr zumutbar ist. Eine solch ausnahmsweise zumutbare Selbsteingliederung trotz fortgeschrittenen Alters wurde im Urteil 9C_68/2011 vom 16. Mai 2011 bei einem zum Zeitpunkt der Rentenaufhebung 60-jährigen Versicherten bejaht, weil er agil (spielte Tennis, fuhr Ski), gewandt (gepflegtes und konzentriertes Auftreten) und im gesellschaftlichen Leben integriert war.
3.4 IV-Stelle und kantonales Gericht haben den Beschwerdeführer auf den Weg der Selbsteingliederung verwiesen, ohne die Verwertbarkeit der Arbeitsfähigkeit konkret zu beurteilen und allenfalls eine berufliche Eingliederungsmassnahme an die Hand zu nehmen. Die Berufsberatung der IV-Stelle hat denn auch lediglich die Akten geprüft und ist zum Schluss gekommen, der Versicherte sei auf dem Arbeitsmarkt «deutlich eingeschränkt», da ihm nur noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten zumutbar seien und er sich in einem fortgeschrittenen Alter befinde, weshalb sich ein Abzug vom Tabellenlohn von 10 Prozent rechtfertige. Das kantonale Gericht ist stillschweigend von einer zumutbaren Selbsteingliederung ausgegangen.
Im vorliegenden Fall ist in Betracht zu ziehen, dass der Beschwerdeführer im Alter von gegen 53 Jahren seine angestammte Tätigkeit als Automechaniker niedergelegt hat und seither keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen ist. Zum Zeitpunkt der Rentenaufhebung hatte er bereits das 60. Altersjahr vollendet und stand rund 4 1/3 Jahre vor dem ordentlichen AHV-Alter. Die jahrelange Abwesenheit vom Arbeitsmarkt, seine sich auf den Beruf des Automechanikers beschränkende berufliche Erfahrung und sein Wiedereintritt in den Erwerbsprozess kurz vor dem AHV-Alter verbieten den Schluss, dass er sich auf dem allgemeinen ausgeglichenen Arbeitsmarkt selbst eingliedern könnte. Unter diesen Umständen ist die Rentenherabsetzung ohne vorherige Durchführung von Eingliederungsschritten bundesrechtswidrig.
Urteil 9C_367/2011 der II. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 10. August 2011
Anwaltsrecht
Regressprozess: Doppelmandat zulässig
Ein Anwalt darf das Mandat der Suva übernehmen,
auch wenn er in Vertretung des Unfallopfers mit der betroffenen Haftpflichtversicherung einen Vergleich mit Verschwiegenheitsklausel geschlossen hat. Er verstösst damit nicht gegen das Standesrecht.
Sachverhalt:
Im Rahmen der Vertretung des Unfallopfers Y. schloss Rechtsanwalt X. mit der Haftpflichtversicherung Z. einen Vergleich mit Vertraulichkeitsklausel. Nachdem die Suva erfolglos Regressforderungen gegen die Z. geltend gemacht hatte, entband Y. X. vom Anwaltsgeheimnis und X. reichte im Namen der Suva Klage gegen die Z. auf Bezahlung der Regressforderungen ein.
Auf Anzeige von Z. hin büsste die Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte des Kantons Zürich X. aufgrund des Anwaltsgesetzes (BGFA) wegen Verletzung der Vertraulichkeitsklausel. Dagegen gelangte X. erfolglos an das Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich. X. reichte Beschwerde an das Bundesgericht ein und verlangte die Aufhebung des Bussenentscheids der Aufsichtskommission.
Aus den Erwägungen:
1.4 Der Anwalt darf den Inhalt von Vergleichsverhandlungen dem Gericht oder anderen Behörden insbesondere dann nicht bekannt geben, wenn sie ausdrücklich als vertraulich bezeichnet wurden (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2A.658/2004 vom 3. Mai 2005, E. 3, in: RtiD 2005 II 288, mit Hinweis auf Standesregeln; Walter Fellmann, in: Kommentar zum Anwaltsgesetz, Fellmann / Zindel [Hrsg.], 2. Aufl. 2011, N. 24 und 24a zu Art. 12 BGFA; Kaspar Schiller, Schweizerisches Anwaltsrecht, 2009, S. 378, Rz. 1530; Bohnet / Martenet, Droit de la profession d'avocat, 2009, S. 509 f., Rz. 1187 f.; Michel Valticos, in: Commentaire romand, Loi sur les avocats, 2010, N. 58 zu Art. 12 BGFA). Der Beschwerdeführer bestreitet das nicht, macht aber geltend, die vereinbarte Diskretionsklausel finde gegenüber der Suva keine Anwendung, wenn diese ihre Regressansprüche geltend mache.
1.6 Unstreitig ist, dass die Suva im Rahmen der bundesgesetzlich geregelten Sozialversicherungen Leistungen an ihre Versicherte Y. erbracht hat. Dementsprechend klärt die Suva den Sachverhalt ab, sobald sie vom Unfall Kenntnis erhält (aArt. 47 Abs. 1 UVG, AS 1982 1676). Ihre Versicherte hat dabei soweit möglich mitzuwirken und alle erforderlichen Auskünfte wahrheitsgetreu und unentgeltlich zu geben (aArt. 47 Abs. 3 Satz 1 UVG sowie Art. 55 der Verordnung vom 20. Dezember 1982 über die Unfallversicherung [UVV; SR 832.202]).
Zur Ermittlung des Sachverhalts kann der Sozialversicherer zudem die Bundes-, Kantons- oder Gemeindebehörden unentgeltlich in Anspruch nehmen (aArt. 47 Abs. 2 UVG). Ausserdem geben die Verwaltungs- und Rechtspflegebehörden des Bundes, der Kantone, Bezirke, Kreise und Gemeinden sowie die Organe der anderen Sozialversicherungen den mit der Durchführung des Unfallversicherungsgesetzes betrauten Organen auf schriftliche und begründete Anfrage im Einzelfall kostenlos diejenigen Daten bekannt, die erforderlich sind unter anderem für den Rückgriff auf haftpflichtige Dritte (aArt. 101 lit. d UVG und Art. 54 UVV).
Die Behörden leisten auch nach den seit dem 1. Januar 2003 geltenden Regelungen im selben Umfang Amts- und Verwaltungshilfe (Art. 32 ATSG und der weiterhin gültige Art. 54 UVV). Ebenso haben die Versicherten nach Art. 28 Abs. 1 ATSG sowie dem bereits erwähnten und nach wie vor geltenden Art. 55 UVV beim Vollzug der Sozialversicherungsgesetze mitzuwirken. Das bezieht sich auch auf das Regressverfahren nach Art. 72 ff. ATSG (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 17 zu Art. 28 ATSG; vgl. auch Ghislaine Frésard-Fellay, Le recours subrogatoire de l'assurance-accidents sociale contre le tiers responsable ou son assureur, 2007, S. 92 ff., Rz. 294 ff.; Gerhard Stoessel, Das Regressrecht der AHV/IV gegen den Haftpflichtigen, 1982, S. 65).
1.7 Diese Regelungen sind namentlich darauf ausgerichtet, dass die Sozialversicherungen - hier die Suva - beim Haftpflichtigen wirksam Regress nehmen können. Die Sozialversicherungen bzw. ihre Versicherten, welche Erstere durch ihre Beiträge finanzieren, sollen durch den Regress entlastet werden (BGE 124 III 222, E. 3, S. 225 mit Hinweisen). Deshalb können die Sozialversicherungen von Behörden und Gerichten sowie von den bei ihnen versicherten Personen, denen sie im Zusammenhang mit dem Unfall Leistungen erbringen, umfassende Auskunft verlangen, um anschliessend die Rückgriffsansprüche durchsetzen zu können.
Der Haftpflichtige bzw. der Unfallverursacher und seine Haftpflichtversicherung sollen nicht dadurch bessergestellt werden, dass statt eines einzigen Anspruchstellers - des Unfallgeschädigten - noch weitere Anspruchsteller - die Sozialversicherungen - ihnen gegenüber auftreten (vgl. BGE 124 III 222, E. 3 S. 225; 124 V 174, E. 3b, S. 177; 119 II 289, E. 5b, S. 294; Urteil 4P.322/ 1994 vom 28. August 1995, E. 2c; je mit Hinweisen). Alles was die Suva zur Durchsetzung ihrer Rückgriffsansprüche gegen den Haftpflichtigen unternimmt, tut sie aus der Rechtsposition des Geschädigten heraus. Sie tritt gleichsam in dessen Fussstapfen und verfolgt ihren Rückgriff gegen den Haftpflichtigen «mit der Brille des Geschädigten» (Marc Hürzeler, in: Personenschadensrecht, Hürzeler / Tamm / Biaggi [Hrsg.], 2010, Rz. 432 und 439).
Insoweit kann die erwähnte Auskunftspflicht der Versicherten nicht durch eine Diskretionsklausel, welche im Rahmen eines Vergleichs zwischen diesen einerseits und dem Unfallgegner oder dessen Haftpflichtversicherer anderseits vereinbart wird, ausgeschlossen oder eingeschränkt werden. Die Unfallgeschädigte war demnach gegenüber der Suva nicht zur Verschwiegenheit verpflichtet, soweit letztere Informationen zur Geltendmachung ihrer Regressansprüche benötigte. Das betrifft auch den Inhalt des Vergleiches.
1.8 Die Diskretionsklausel hat gegenüber dem Beschwerdeführer grundsätzlich die gleiche Wirkung wie gegenüber der Geschädigten. Was Letztere bekannt geben darf, muss auch er nicht verschweigen. Daran ändert der Umstand nichts, dass er bei Abschluss des Vergleichs mit der Möglichkeit eines Regressprozesses rechnen musste. Allerdings verfügt der Beschwerdeführer als Rechtsvertreter über besondere Kenntnisse des vergleichsweise abgeschlossenen Verfahrens, die er bei einer Übernahme eines Mandats der Suva verwenden könnte und über die ein beigezogener anderer Anwalt auch aufgrund der Informationspflicht der Geschädigten nicht ohne Weiteres verfügt.
Die kantonalen Instanzen betonen in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Diskretion von Vergleichsverhandlungen. In diesem Sinne wird der Inhalt von Vergleichsgesprächen bei Gerichten regelmässig nicht protokolliert. Dadurch soll - auch im öffentlichen Interesse - die gütliche Beilegung von Streitigkeiten gefördert werden. Wenn Parteien eigene Aussagen, die sie im Rahmen von Vergleichsverhandlungen machen, später in Gerichtsverfahren entgegengehalten werden könnten, würden sie regelmässig nicht mehr offen über den Streitfall und über Möglichkeiten zu dessen Erledigung sprechen (vgl. erwähntes Urteil 2A.658/2004 E. 3.3; Schiller, a.a.O., S. 378 Rz. 1530; Fellmann, a.a.O., N. 24 und 24a zu Art. 12 BGFA).
Wohl kennt der Beschwerdeführer den Inhalt und die Hintergründe der Vergleichsgespräche. In dieser Situation befindet sich jedoch jeder Anwalt, der zum Beispiel nach gescheiterten Vergleichsverhandlungen, an denen er teilgenommen hat, einen Prozess anstrengt oder weiterführt. Er muss dann nicht wegen der Kenntnis des Inhalts der Vergleichsgespräche das Mandat niederlegen. Nicht anders kann es sich vorliegend verhalten. Gewiss könnte das Wissen des Beschwerdeführers über den Inhalt der Vergleichsgespräche zwischen Y. und der Z.-Versicherung in gewisser Weise der Suva zugute kommen. Wie jedoch ausgeführt, ist zum einen Y. der Suva umfassend auskunftsverpflichtet. Zum anderen darf es aufgrund der gesetzlich vorgesehenen Subrogation bzw. Regresssituation keinen Unterschied machen, dass für einen Teil der Schadenersatzansprüche die Suva an die Stelle der Unfallgeschädigten tritt. Zudem musste die Z. Versicherung schon anlässlich der Vergleichsverhandlungen mindestens damit rechnen, dass auch Sozialversicherungsträger mit Rückgriffsansprüchen an sie treten würden und Y. insoweit von Gesetzes wegen Auskunftspflichten hatte.
Demnach ist nicht zu beanstanden, dass die Suva vom Wissen des Anwalts aus dem Verfahren zwischen Y. und der Z.-Versicherung profitieren kann. Der Beschwerdeführer darf dem Gericht im Verfahren der Suva allerdings nicht bekannt geben, was anlässlich der Vergleichsverhandlungen im Verfahren zwischen Y. und der Z.-Versicherung gesagt worden ist. Ein solcher Vorwurf wird dem Beschwerdeführer jedoch nicht gemacht.
Das blosse Risiko, dass der Anwalt entsprechende Äusserungen machen könnte, genügt hingegen nicht, um ihm zu verbieten, die Suva zu vertreten. Wie dargelegt, ist dieses Risiko nicht grundsätzlich anders als bei einem Anwalt, der eine Partei nach gescheiterten Vergleichsverhandlungen im anschliessenden streitigen Verfahren - zulässigerweise - vor Gericht weiter vertritt.
1.9 Demzufolge erweist sich der gegen den Beschwerdeführer erhobene Vorwurf der Verletzung von Art. 12 lit. a BGFA als bundesrechtswidrig. Somit ist die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts aufzuheben.
Urteil 2C_900 der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 17. Juni 2011
Schiedsverfahren
Beständige Schiedsklausel
Wird der Kostenvorschuss für die schiedsrichterliche Beilegung einer Streitsache von beiden Parteien nicht geleistet, kann keine Partei einseitig die Zuständigkeit des Schiedsgerichts aufheben. Die Schiedsklausel bleibt bestehen.
Sachverhalt:
Der Partnerschaftsvertrag der Anwaltskanzlei C.A. & Partner enthielt eine Schiedsklausel, wonach sämtliche partnerschaftsvertraglichen Streitigkeiten von einem Einzelschiedsrichter endgültig zu entscheiden seien. Nach der Auflösung der Partnerschaft mit A. gelangte A. an den Einzelschiedsrichter, da über die finanziellen Folgen Uneinigkeit bestand. Weder A. noch die verbleibenden Partner leisteten den von dem Einzelschiedsrichter geforderten Vorschuss, worauf sich der Einzelschiedsrichter für nicht zuständig erklärte. A. rief darauf das Bezirksgericht Meilen an. Unter Berufung auf das Konkordat über die Schiedsgerichtsbarkeit (KSG) erklärte dieses sich für unzuständig, da die Schiedsabrede nach wie vor gelte. Das Obergericht stützte diesen Entscheid, das von A. angerufene Kassationsgericht trat auf die dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde nicht ein. A. erhob Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
2. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 30 Abs. 2 KSG. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz habe er mit der am 9. April 2008 beim Bezirksgericht Meilen eingereichten Klage den gleichen Streitgegenstand geltend gemacht wie bereits im Jahr 2001 vor dem Schiedsgericht. Gemäss Art. 30 Abs. 2 Satz 2 KSG seien die Parteien bezüglich dieses Streitgegenstands nicht mehr an die im Partnerschaftsvertrag enthaltene Schiedsklausel gebunden. Die Vorinstanz habe die Zuständigkeit des Bezirksgerichts zu Unrecht verneint.
2.1 Art. 30 Abs. 2 des auf den vorliegenden Fall anwendbaren KSG lautet wie folgt: «Leistet eine Partei den von ihr verlangten Vorschuss nicht, so kann die andere Partei nach ihrer Wahl die gesamten Kosten vorschiessen oder auf das Schiedsverfahren verzichten. Verzichtet sie, so sind die Parteien mit Bezug auf diese Streitsache nicht mehr an die Schiedsabrede gebunden.»
Die Vorinstanz führte aus, dass diese Norm nach Wortlaut und Systematik nur den Fall regle, in dem eine der Parteien den Vorschuss nicht leistet. Zum Fall, in dem beide Parteien den vom Schiedsgericht verlangten Vorschuss nicht geleistet haben, äussere sich Art. 30 Abs. 2 KSG hingegen nicht. Dennoch liessen sich die Folgen der beidseitigen Nichtleistung des verlangten Vorschusses «zwanglos» daraus ableiten. Denn ob beide Parteien von Anfang an oder nur eine der beiden von Anfang und die andere erst nach Ausübung eines entsprechenden Wahlrechts auf die Durchführung des Schiedsverfahrens verzichte, sei für die Folgen des Verzichts beider Parteien irrelevant, denn «im Endeffekt haben in beiden Fällen beide Parteien auf die Durchführung des hängigen Schiedsverfahrens verzichtet». Daher bewirke das beidseitige Nichtzahlen des Vorschusses nach dem Wortlaut von Art. 30 Abs. 2 KSG, dass die Parteien für «diese Streitsache» («pour la contestation en cause», «per la causa in lite») nicht mehr an die Schiedsabrede gebunden seien.
Die Vorinstanz erwog sodann, dass der Beschwerdegegner seine Klage beim Bezirksgericht u.a. auf Tatsachenelemente abstütze, die er erst im Jahr 2005 entdeckt habe. Somit könne es sich dabei nicht um die gleiche Streitsache handeln wie bei jener vor dem Schiedsgericht im Jahre 2001. Die Parteien seien hinsichtlich der beim Bezirksgericht eingereichten Klage folglich nach wie vor an die Schiedsvereinbarung gebunden. Das Bezirksgericht sei zu Recht nicht auf die Klage eingetreten.
2.2 Wie die Beschwerdegegner in ihrer Vernehmlassung zu Recht vorbringen, hat sich das Bundesgericht im Urteil 4P.2/2003 vom 12. März 2003 zum Verzicht auf das Schiedsverfahren gemäss Art. 30 Abs. 2 KSG geäussert. Unter Hinweis auf die herrschende Lehre hat das Bundesgericht ausgeführt, dass nur diejenige Partei, welche ihrerseits den auf sie entfallenden Teil des Kostenvorschusses geleistet hat, ein Wahlrecht zwischen der Zahlung des gesamten Kostenvorschusses und dem Verzicht auf das Schiedsverfahren hat (Urteil 4P.2/2003 vom 12. März 2003, E. 3.6; unter Hinweis auf Lalive / Poudret / Reymond, Le droit de l’arbitrage interne et international en Suisse, 1989, N. 3 zu Art. 30 KSG; Pierre Jolidon, Commentaire du Concordat suisse sur l’arbitrage, Bern 1984, S. 428 f.; Sträuli / Messmer / Wiget, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl., Zürich 1982, N. 6 zu § 247 aZPO ZH; Rüede / Hadenfeldt, Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht, 2. Aufl., Zürich 1993, S. 226, Ziff. 9a/cc).
Dies bedeutet, dass nur die nicht säumige Partei mittels Verzichtsausübung bewirken kann, dass die Bindungswirkung der Schiedsabrede in Bezug auf den hängigen Streitgegenstand gemäss Art. 30 Abs. 2 Satz 2 KSG entfällt. Leisten beide Parteien den Kostenvorschuss nicht, kann keine von ihnen einseitig das Dahinfallen der Schiedsvereinbarung gemäss Art. 30 Abs. 2 Satz 2 KSG herbeiführen (vgl. Jolidon, a.a.O., S. 428 in fine).
Im vom Beschwerdeführer im Jahr 2001 eingeleiteten Schiedsverfahren hat keine der Parteien den Kostenvorschuss bezahlt. Weder der Beschwerdeführer noch die Beschwerdegegner konnten somit das Dahinfallen der Schiedsvereinbarung gemäss Art. 30 Abs. 2 Satz 2 KSG herbeiführen. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist die Bindungswirkung der im Partnerschaftsvertrag vom 19. Dezember 1995 enthaltenen Schiedsklausel damit auch bezüglich des vom Beschwerdeführer im Schiedsverfahren des Jahres 2001 geltend gemachten Streitgegenstands nicht entfallen. Die Parteien haben die Schiedsklausel gemäss der Vorinstanz sodann auch rechtsgeschäftlich nicht aufgehoben, was vom Beschwerdeführer vorliegend nicht substanziiert bestritten wird. Die Parteien sind demnach für sämtliche Streitigkeiten aus dem Partnerschaftsvertrag nach wie vor an die Schiedsklausel gebunden. Die Vorinstanz ist im Ergebnis zu Recht zum Schluss gelangt, dass das Bezirksgericht zur Behandlung der Klage, mit welcher der Beschwerdeführer Ansprüche aus der Auflösung des Partnerschaftsvertrags geltend macht, nicht zuständig ist. Ob die beim Bezirksgericht eingereichte Klage identisch ist mit der im Jahr 2001 erhobenen Schiedsklage, ist unerheblich.
Urteil 4A_574/2010 der I. Zivilrecht- lichen Abteilung des Bundesgerichts vom 21. März 2011
Strafprozessrecht
Strafbefehl mit Teilnahmerechten
Die Parteien haben im Strafbefehlsverfahren vorbehältlich des Rechtsmissbrauches das Recht, an sämtlichen Beweiserhebungen teilzunehmen. Gegen eine Verweigerung dieses Rechts kann Beschwerde eingereicht werden.
Sachverhalt:
Die Staatsanwaltschaft erliess gegen S. am 11. März 2011 einen Strafbefehl wegen gewerbsmässigen Betrugs. S. ergriff kein Rechtsmittel, worauf der Strafbefehl in Rechtskraft erwuchs. Zuvor hatte der Verteidiger von S. am 3. Februar 2011 bei der Staatsanwaltschaft die Teilnahme bei der Einvernahme der Mitbeschuldigten beantragt, was mit Verfügung vom 14. Februar 2011 abgelehnt wurde. Gegen diese Verfügung legte S. am 22. Februar 2011 Beschwerde beim Appellationsgericht Basel-Stadt ein und verlangte, ihm sei die Teilnahme an der Einvernahme der Mitbeschuldigten zu gewähren.
Aus den Erwägungen:
1.3 In der Literatur wird die Ansicht vertreten, der Beschwerdeausschlussgrund von Art. 394 lit. b StPO diene der Verfahrensbeschleunigung. Der Gesetzgeber habe bei Beweisanträgen bewusst der Beschwerdeflut einen Riegel geschoben, allerdings nur in den Fällen, in denen ein Beweisantrag ohne Rechtsnachteil vor dem erstinstanzlichen Gericht wiederholt werden kann (Stephenson / Thiriet, Basler Kommentar StPO, Ba- sel 2011, Art. 394 StPO N 5). Der Analogieschluss der Staatsanwaltschaft, dies müsse - gerade in dringenden Haftfällen - auch bei Beschwerden gegen die Verweigerung von Teilnahmerechten gelten, geht fehl.
Würde man diesen Gedanken konsequent zu Ende denken, so müsste insbesondere in Haftfällen, die innert weniger Wochen oder Monate per Strafbefehl oder Urteil erledigbar sind,dem Beschuldigten unter Hinweis auf das Beschleunigungsgebot jedes Beschwerderecht abgesprochen werden.
1.4.2 Im vorliegenden Fall dürfte die grundsätzliche Bedeutung der mit der Beschwerde aufgeworfenen Frage ebenso unbestritten sein wie die Tatsache, dass sich diese jederzeit und unter den gleichen Umständen wieder stellen kann. Zweifelhaft könnte sein, ob eine rechtzeitige gerichtliche Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre. Das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer wurde am 3. Februar 2011 eröffnet. Gleichentags ist der Antrag des Verteidigers auf Teilnahme an der Befragung von Mitbeschuldigten gestellt worden. Die angefochtene Verfügung datiert vom 14. Februar 2011; die Beschwerde vom 22. Februar 2011. Bereits am 12. April 2011 konnte der Schriftenwechsel geschlossen werden, und dies auch nur deshalb, weil die Parteienvertreter die ihnen für die Abfassung ihrer Stellungnahmen gesetzten Fristen teilweise bei weitem nicht ausgeschöpft haben.
Obwohl sich das Beschwerdeverfahren damit weitaus schneller als üblich abgewickelt hat, ist das Strafverfahren, das ihm zugrunde liegt, schon lange per Strafbefehl abgeschlossen worden. Es ist deshalb anzunehmen, dass im Strafbefehlsverfahren kaum je eine Beschwerde samt Schriftenwechsel vor dem Abschluss des Verfahrens behandelt werden kann, was ganz besonders in den Fällen zutrifft, in denen der Beschuldigte in Haft sitzt.
Da die grosse Mehrzahl der Strafverfahren durch Strafbefehl erledigt wird, muss folglich davon ausgegangen werden, dass eine rechtzeitige gerichtliche Prüfung im Einzelfall in absehbarer Zeit kaum je möglich wäre. Demzufolge ist im vorliegenden Fall die Beschwerdelegitimation auch ohne aktuelles Rechtsschutzinteresse zu bejahen, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist.
2.1 Vorweg gilt es festzuhalten, dass im vorliegenden Beschwerde- verfahren ausschliesslich zu klären ist, ob dem Verteidiger (und nicht dem Beschuldigten) ein Recht auf Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten zusteht.
2.4.1 Art. 146 Abs. 1 StPO normiert den Grundsatz der getrennten Befragung mehrerer Personen. Nach dieser Ordnungsvorschrift sind verschiedene Beschuldigte, Zeugen oder Auskunftspersonen einzeln und unter Ausschluss der anderen einzuvernehmen. Dieser Grundsatz ermöglicht es den Strafbehörden, sich ohne Einwirkung durch die Anwesenheit weiterer Verfahrensbeteiligter ein Bild über die einzuvernehmende Person und deren Wissen zu machen.
Daneben wird eine möglichst unverfälschte bzw. unbeeinflusste Äusserung der einvernommenen Person sichergestellt. Es wird vermieden, dass diese ihre Aussagen an diejenigen der anderen Personen anpasst oder die Aussage durch die Anwesenheit anderer Personen sonstwie beeinträchtigt bzw. verfälscht wird (Häring, Basler Kommentar StPO, Basel 2011, Art. 146 StPO N 1). Aufgrund dessen besteht nach der Ordnungsvorschrift von Art. 146 Abs. 1 StPO zunächst kein Anspruch von beschuldigten Personen, Zeugen etc., bei der Einvernahme von Mitbeschuldigten, anderen Zeugen usw. anwesend zu sein (Häring, a.a.O., Art. 146 StPO N 2; Schmid, StPO Praxiskommentar, Zürich / St.Gallen 2009, Art. 146 StPO N 1). Der Grundsatz der getrennten Einvernahme ist jedoch in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. Abgesehen von der Möglichkeit gemäss Art. 146 Abs. 2 StPO normiert Art. 147 Abs. 1 StPO ein allgemeines Teilnahmerecht der Parteien bei Beweiserhebungen (Häring, a.a.O., Art. 146 StPO N 2).
2.4.2 Gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO haben die Parteien das Recht, an sämtlichen Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte teilzunehmen. Teilgenommen werden kann an Einvernahmen und Augenscheinen: So an der Vernehmung der beschuldigten Personen, von Zeugen, Auskunftspersonen und Sachverständigen. Entgegen vielen kantonalen Regelungen, welche die Teilnahme im Vorverfahren auf die Befragung von Zeugen, Auskunftspersonen und Sachverständigen beschränkten, kann auch an der Einvernahme von Mitbeschuldigten teilgenommen werden.
Voraussetzung ist die Parteistellung im jeweiligen Verfahren (Schleiminger, Basler Kommentar StPO, Basel 2011, Art. 147 StPO N 4 f.; Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, Zürich / St. Gallen 2009, N 803 und 821 bis 823). Das Teilnahmerecht kann gemäss Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO eingeschränkt werden, wenn der begründete Verdacht besteht, dass eine Partei ihre Rechte missbraucht.
Diese Einschränkungsmöglichkeit besteht, wenn zureichende Anhaltspunkte vorliegen, dass die Partei ihre Anwesenheit oder das durch die Anwesenheit erlangte Wissen dazu missbrauchen würde, durch Verdunkelungshandlungen, so durch das Einwirken auf Beweismittel oder durch unzulässige Beeinflussung der einzuvernehmenden Person, die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen. Es reicht nicht aus, dass der Beschuldigte seine Aussage anpassen bzw. Mitbeschuldigte ihre Aussagen aufeinander abstimmen könnten (Schleiminger, a.a.O., Art. 147 StPO N 14).
2.4.3 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der sehr allgemein gehaltene Hinweis der Staatsanwaltschaft auf das Vorliegen von Kollusionsgefahr schon nicht ausreichen würde, um das Teilnahmerecht des Beschwerdeführers als Beschuldigtem zu beschneiden. Es versteht sich von selbst, dass dieser Hinweis erst recht nicht genügt, um den Verteidiger von der Teilnahme an der Befragung von Mitbeschuldigten auszuschliessen. Dafür müsste gemäss dem klaren Gesetzeswortlaut er selbst Anlass für die Beschränkung geben (Art. 108 Abs. 2 StPO). Dies wird von der Staatsanwaltschaft aber weder behauptet, noch ist ein solcher Anlass er- sichtlich. Demzufolge ist die Be- schwerde gutzuheissen.
Urteil BE.2011.20 des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 14. April 2011. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft ist das Bundesgericht in seinem Urteil 1B_320/2011 nicht eingetreten.
Gerichte des Bundes aktuell
Rückkehr nach Sri Lanka
Der Vollzug von Wegweisungen ist laut Bundesverwaltungsgericht künftig auch in die Ostprovinz Sri Lankas grundsätzlich zumutbar, ebenso wie in die Nordprovinz, dort allerdings mit Ausnahme des Vanni-Gebiets. Die Zumutbarkeit einer Rückkehr ist im Einzelfall zurückhaltend zu beurteilen. Mit ihrer neuen Lagebeurteilung haben die Richter in Bern die vom Bundesamt für Migration (BFM) im März eingeleitete Praxisänderung bestätigt. Die allgemeine Sicherheitslage im Land hat sich laut Gericht seit Beendigung des militärischen Konflikts zwischen der sri-lankischen Armee und den Tamil Tigers (LTTE) im Jahr 2009 erheblich verbessert und stabilisiert. Im Gegensatz zur Sicherheitslage habe sich jedoch die allgemeine Menschenrechtslage im Land verschlechtert, namentlich bezüglich der Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit. Mit einer erhöhten Verfolgungsgefahr zu rechnen haben insbesondere Oppositionelle, kritisch auftretende Medienschaffende, Menschenrechtsaktivisten, regimekritische NGO-Vertreter und Personen, die Opfer oder Zeuge schwerer Menschenrechtsverstösse wurden oder in diesem Zusammenhang juristische Schritte eingeleitet haben, sowie Rückkehrer aus der Schweiz, denen nahe Kontakte zur LTTE unterstellt werden.
E-6220/2006 vom 27.10.2011
Einsicht in Staatsschutzakten
Das in Art. 18 des Bundesgesetzes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS) geregelte Auskunfts- und Kontrollverfahren bei der Einsicht in Staatsschutzakten ist gemäss der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts menschenrechtskonform. Ersuchende Personen erhalten vom Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) oder anschliessend vom Präsidenten der für Datenschutz zuständigen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts nach Prüfung der Akten lediglich die standardisierte Mitteilung, dass entweder keine unrechtmässig bearbeiteten Daten vorhanden sind, oder dass dem Nachrichtendienst des Bundes im Falle fehlerhafter Datenbearbeitung eine entsprechende Empfehlung erteilt worden ist. Das Gericht ist in öffentlicher Beratung zum Schluss gekommen, dass die geheime Überwachung und Aufzeichnung von Personendaten mit der Praxis des EGMR grundsätzlich vereinbar ist. Die bloss indirekte Information über das Ergebnis der Prüfung ist mit den Vorgaben der EMRK ebenfalls in Einklang zu bringen. Entscheidend ist, dass der betroffenen Person mit der Möglichkeit der Anrufung des EDÖB eine wirksame Beschwerde zur Verfügung steht, wobei dessen allfälliger Empfehlung an die Staatsschutzbehörden verbindlicher Charakter zukommen muss. Ausschlaggebend ist zudem, dass betroffenen Personen nach Wegfall des Geheimhaltungsinteresses oder nach Ablauf der Aufbewahrungsdauer von Amtes wegen Auskunft und Einsicht zu erteilen sei.
1C_289/2011 vom 2.11.2011; schriftliche Begründung ausstehend
Integration auch ohne Karriere
Das Bundesgericht hat im Fall einer als Küchenhilfe tätigen Frau aus Togo festgehalten, dass eine erfolgreiche Integration keine besonders brillante berufliche Karriere voraussetzt. Zentral ist, dass die Person selber für ihre Bedürfnisse aufkommen kann, nicht auf Kosten der Sozialhilfe lebt und sich nicht verschuldet. Das ist auch mit einer wenig qualifizierten beruflichen Tätigkeit möglich. Die Richter in Lausanne erinnern weiter daran, dass auf mangelnde Integration nicht allein aus dem Fehlen eines grösseren Bekannten- oder Freundeskreises geschlossen werden darf. Die Betroffene hatte vor knapp zehn Jahren einen Schweizer geheiratet. Seit 2009 leben die beiden getrennt, die Frau im Kanton Waadt, ihr Gatte im Ausland. 2010 wurde die Aufenthaltsbewilligung der Frau widerrufen. Die Waadtländer Behörden müssen den Fall nun neu prüfen.
2C_430/2010 vom 11.10.2011
Falle war keine verdeckte Ermittlung
Die einer Luzerner Polizistin gestellte Falle stellt keine verdeckte Ermittlung dar. Die Betroffene war verdächtigt worden, Fundgeld in die eigene Tasche gesteckt zu haben. Um sie zu überführen, beauftragten Kollegen eine Privatperson, der Verdächtigten am Schalter eine angeblich gefundene Bauchtasche mit 150 Euro abzugeben. Die Beamtin unterliess es, in der Fundanzeige die 150 Euro zu erwähnen, und wurde deshalb festgenommen. Das Luzerner Obergericht sprach sie 2010 vom Vorwurf der Veruntreuung im Amt vollumfänglich frei, weil die Falle als verdeckte Ermittlung zu gelten habe. Da diese nicht von einem Richter genehmigt worden sei, könnten die daraus gewonnenen Erkenntnisse nicht verwendet werden. Laut Bundesgericht liegt keine verdeckte Ermittlung vor, da der Lockvogel in keiner Weise auf die Frau eingewirkt hat. Auch sei es beim Zusammentreffen noch zu keiner strafbaren Handlung gekommen. Die der Beamtin angelastete Veruntreuung habe sie erst später und völlig unabhängig vom Mittelsmann begangen.
6B_141/2011 vom 23.8.2011
Medikamentenabgabe durch Ärzte
Auch die Ärzte in den Städten Winterthur und Zürich dürfen Medikamente direkt an ihre Patienten abgeben. Die II. öffentlich-rechtliche Abteilung hat eine Beschwerde des Apothekerverbands und weiterer Betroffener abgewiesen und die vom Zürcher Stimmvolk 2008 beschlossene Neuregelung für bundesrechtskonform erklärt. Laut KVG ist es Sache der Kantone, ob sie den Ärzten die Abgabe von Arzneimitteln erlauben wollen. Dabei ist insbesondere die Zugangsmöglichkeiten der Patienten und Patientinnen zu einer Apotheke zu berücksichtigen (Art. 37 KVG). Laut der Richtermehrheit kann daraus nichts zu Gunsten der Apotheker abgeleitet werden. Die Selbstdispensation durch Ärzte dürfte nur dann untersagt werden, wenn andernfalls eine kritische Ausdünnung des Apotheken-Netzes drohen würde, was aber in keinem der Kantone zu beobachten ist, welche die Selbstdispensation kennen. Die ärztliche Abgabe verstösst laut Gericht zudem weder gegen die Wirtschaftsfreiheit noch gegen das Gebot der Rechtsgleichheit.
2C_53/2009 vom 23.9.11
Zuständigkeit bei Phishing-Attacken
Die Bundesanwaltschaft ist zuständig zur Verfolgung der meist im Ausland tätigen Hintermänner von Phishing-Attacken auf Banken und deren Kunden unter Einsatz von Computer-Trojanern. Sache der kantonalen Strafverfolgungsbehörden ist es dagegen, die für die Ausführung von Zahlungsaufträgen tätigen «Finanzagenten» zu verfolgen, welche in der Regel in der Schweiz selber agieren. Zu diesem Schluss kommt die I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts in einem ihr vorgelegten Streit um die sachliche Zuständigkeit.
BG.2011.27 vom 12.10.11
Keine Hass-Musik für Häftling
Einem Insassen der Strafanstalt Pöschwies ist das Bestellen von CDs deutscher Pagan-Metal-Bands mit gewaltverherrlichenden Texten zu Recht verwehrt worden. Die Lieder auf den CDs enthalten unter anderem Textstellen wie «Schlachtet sie nieder wie Vieh», «Nur einen kleinen Stich kostet die Sorglosigkeit» oder «Der Stahl in meinem Feinde». Laut Bundesgericht offenbaren die fraglichen Texte ein zumindest höchst problematisches Verhältnis zur Gewalt. Es sei zu verhindern, dass solche Texte in einer Strafanstalt zirkulieren könnten, in der sich Personen wie der Beschwerdeführer befinden würden, der sich in der rechtsextremen und der Hooligan-Szene aufgehalten habe.
6B_511/2011 vom 29.8.2011
Und nochmals Pokerturniere
Der bundesgerichtliche Entscheid gegen die Durchführung von Texas-Hold’em-Pokerturnieren ausserhalb von Casinos lässt keinen Platz für Ausnahmen. Das Gericht war 2010 bekanntlich zum Schluss gekommen, dass das Glück die Geschicklichkeit überwiege. Öffentliche gewerbliche Turniere dürften damit gemäss Spielbankengesetz nur in lizenzierten Spielbanken durchgeführt werden, nicht aber von privaten Anbietern. In der Folge widerrief die Spielbankenkommission über hundert anderslautende Verfügungen, deren Erlass im Jahr 2007 zum höchstrichterlichen Verdikt geführt hatte. Dagegen gelangten erneut mehrere Veranstalter ans Bundesverwaltungsgericht und machten geltend, dass das Bundesgericht im fraglichen Pilot-Entscheid nur eine ganz bestimmte Turniervariante von Texas-Hold'em geprüft habe. Zudem habe es nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass Texas-Hold'em-Turniere als Geschicklichkeitsspiele qualifiziert werden könnten. Die ESBK hätte deshalb zusätzlich abklären müssen, ob es zu dieser Frage neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder Testreihen gebe. Das Bundesverwaltungsgericht hat ihre Beschwerden nun aber abgewiesen.
B5845/2010 vom 14.10.2011 u.a.
pj
Zur Publikation vorgesehen
Staats-/Verwaltungsrecht
Die Androhung zur Begehung eines schweren Verbrechens (als Haftvoraussetzung gemäss Art. 221 Abs. 2 StPO) kann auch konkludent erfolgen. Das Aufschneiden der Pulsadern der Ehefrau kann insofern als Drohung des Mannes zur Verwirklichung einer vorsätzlichen Tötung erachtet werden.
1B_440/2011 vom 23.9.2011
Strafverfolgungsbehörden müssen zwingend eine Untersuchung durchführen, wenn bei folgenschweren Unfällen die strafrechtliche Verantwortung Dritter nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann. Nach Eingang einer Strafanzeige darf die Nichtanhandnahme (Art. 310 StPO) nur verfügt werden, wenn eindeutig feststeht, dass sachverhaltsmässig und rechtlich keine Straftat vorliegt.
1B_365/2011 vom 30.9.2011
Vorgaben zum Ablauf von Beschwerdeverfahren, wenn Staatsanwaltschaften die Aufhebung der U-Haft anfechten (in der StPO nicht vorgesehen, Lücke vom Bundesgericht geschlossen in BGE 137 IV 22, ohne allerdings die Details des Verfahren zu klären): 1. Staatsanwaltschaft muss unverzüglich Beschwerde erheben; 2. Die Freilassung ist danach um einige Stunden hinauszuzögern; 3. Das Gericht entscheidet zunächst superprovisorisch über die Fortführung der U-Haft; 4. Der superprovisorische Entscheid ist nach Aktenbeizug und Anhörung vorsorglich zu bestätigen
oder zu ändern; 5. Diese Regelung gilt dann bis zum endgültigen Entscheid über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft
1B_273/2011 vom 31.8.2011
Zivilrecht
Die in Art. 119 Art. 6 ZPO festgelegte Kostenlosigkeit des Verfahrens um unentgeltliche
Rechtspflege gilt einzig für das Gesuchs- nicht aber für das Rechtsmittelverfahren.
5A_405/2011 vom 27.9.2011
Mit Blick auf die Frist von sechs Wochen gemäss Art. 11 des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) ergibt sich, dass die Instruktionsmassnahmen (inklusive Ansetzung einer allfälligen Vermittlungsverhandlung) in einer
umgehend zu erlassenden Verfügung zu kondensieren sind. Auch bei Anordnung einer Mediation ist auf äusserste Speditivität zu achten.
5A_674/2011 vom 31.10.2011
Eine drohende Gegendarstellung kann vom Herausgeber (hier Konsumenteninfo, K-Tipp im Streit mit der ÖKK Kranken und Unfallversicherung) nicht mit einer Berichtigung auf der Leserbriefseite
umgangen werden.
5A_275/2011 vom 8.8.2011
Der pauschale Verzicht des Auftraggebers auf Retrozessionen ist nur gültig, wenn die betroffene Person über die zu erwartenden Retrozessionen vollständig und wahrheitsgetreu informiert ist.
4A_266/2010 vom 29.8.2011
Die Verweigerung einer superprovisorischen Massnahme gemäss Art. 265 ZPO ist nicht vor Bundesgericht anfechtbar.
4A_577/2011 vom 4.10.2011
Den Ausschluss eines anderen Stockwerkeigentümers (nach Art. 649b ZGB) kann nur verlangen,
wer sich selbst nicht grob gemeinschaftswidrig verhalten hat. Hat der Kläger jedoch mit seinem eigenen Benehmen zur belasteten Situation im fraglichen Haus beigetragen, so ist ihm auch das weitere Zusammenleben mit der verfeindeten Partei zuzumuten.
5A_534/2011 vom 13.10.2011
Strafrecht
Verkehrsdelikte dürfen auch künftig mit einem administrativen Führerausweisentzug und einer strafrechtlichen Sanktion geahndet werden. Auch gemäss der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verletzt die «Parallelbestrafung» den Grundsatz von «ne bis in idem» nicht.
1C_105/2011 vom 26.9.2011
Ein Schikane-Stopp zum Ausbremsen des nachfolgenden Fahrzeuglenkers kann als Nötigung
(Art. 181 StGB) bestraft werden. Durch eine Vollbremsung dieser Art wird das geduldete Mass an Beeinflussung Dritter ebenso eindeutig überschritten, wie dies bei der Ausübung von Gewalt oder dem Androhen eines ernstlichen Nachteils der Fall ist. Die ausgelöste Zwangssituation ist für den
Hintermann von einer solchen Intensität, dass seine freie Willensbetätigung eingeschränkt ist.
6B_385/2011 vom 23.9.2011
Die Sicherheitseinziehung des Fahrzeugs eines unbelehrbaren Verkehrssünders (Art. 69 StGB)
kann sich rechtfertigen, obwohl sich die betroffene Person mit dem Erlös aus der Verwertung
theoretisch sofort einen Ersatz beschaffen kann. Die Wiederbeschaffung ist immerhin mit Zusatzkosten verbunden, womit die Einziehung zumindest geeignet sein kann, weitere