1. Ausgangslage
Dieser Beitrag legt dar, dass das schweizerische Verfassungs- und Gesetzesrecht unbefristete Notverordnungsmassnahmen grundsätzlich nicht zulässt. Sie bilden damit keine tragfähige Rechtsgrundlage, um Fehlbare in einem nachgelagerten Strafverfahren individuell-konkret zu sanktionieren. Zunächst skizziert der Beitrag die Rahmenbedingungen für notrechtliche Verordnungen des Bundesrats (und teils Bundesparlaments) gemäss den allgemeinen Vorgaben der Bundesverfassung (BV) und des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes (RVOG). Sodann werden diese generellen Normen konkretisierend auf den gesundheitsrechtlichen Geltungsbereich des Bundesgesetzes über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (EpG) angewendet. Gestützt darauf wird sich ergeben, dass das schweizerische Verfassungs- und Gesetzesrecht weder in der besonderen noch der ausserordentlichen Lage nach Art. 6 und 7 EpG unbefristete Notverordnungen zulässt. Womit sich dann letztlich nur noch die Frage stellt, ob die Verletzung unbefristeter Verordnungsbestimmungen strafrechtlich gleichwohl sanktioniert werden kann. Auch diese Frage wird zu verneinen sein.1
2. Kompetenzen laut Bundesverfassung
2.1 Bundesrat: Aussenpolitik
Nach Art. 184 Abs. 3 BV kann der Bundesrat Verordnungen und Verfügungen erlassen, wenn «die Wahrung der Interessen des Landes es erfordert». Solche Verordnungen sind bereits nach klarem Verfassungswortlaut zu befristen (Art. 7c Abs. 2 RVOG). Wie es die Marginalie zu Art. 184 BV bereits klar impliziert («Beziehungen zum Ausland»), können Notverordnungen nach Art. 184 Abs. 3 BV nur den Bereich der Aussenpolitik bzw. auswärtigen Angelegenheiten betreffen. Da die meisten Massnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 – mit Ausnahme z.B. der Quarantäneregelung nach Auslandaufenthalten – aber keinen Auslandbezug aufweisen, ist vorliegend auf Art. 184 Abs. 3 BV nicht näher einzugehen.
2.2 Bundesrat: Innere und äussere Sicherheit
Nach Art. 185 Abs. 3 BV kann der Bundesrat sodann – wiederum unmittelbar gestützt auf jene Verfassungsnorm – Notverordnungen oder Verfügungen in Kraft setzen, um «eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen». Jene Norm zielt auf die innere und äussere Sicherheit – im Gegensatz zu Art. 184 Abs. 3 BV geht es um eigene Landesinteressen und nicht Aussenpolitik – ab und wird in der Lehre als der polizeilichen Generalklausel ähnlich2 oder (eher) lex specialis zu derselben verstanden.3
Auch auf Art. 185 Abs. 3 BV basierende Notverordnungen sind nach dessen klarem Wortlaut zu befristen. Das Gesetzesrecht sieht eine Befristung auf maximal sechs Monate vor; anschliessend muss der Bundesrat der Bundesversammlung einen Entwurf für eine Überführung des Verordnungsinhalts in ein formelles Gesetz oder zumindest eine parlamentarische Notverordnung vorlegen, ansonsten die bisherige bundesrätliche Verordnung ausser Kraft tritt (Art. 7d Abs. 2 lit. a RVOG).
Ebenso verliert eine bundesrätliche Notverordnung ihre Gültigkeit, wenn das Bundesparlament den bundesrätlichen Entwurf ablehnt oder die sie ersetzende gesetzliche oder bundesparlamentarisch-verordnungsmässige Rechtsgrundlage in Kraft tritt (Art. 7d Abs. 2 lit. b und c RVOG). So befristete der Bundesrat denn auch nicht ohne Grund in der ersten Covid-19-Welle seine relevanteste Notverordnung auf maximal sechs Monate (Art. 12 Abs. 3 Covid-19-Verordnung 2).
Nach der herrschenden Lehre, welcher sich der Autor weitgehend anschliesst, bleibt der Bundesrat auch im notrechtlichen Anwendungsbereich von Art. 185 Abs. 3 BV umfassend an Verfassung und Gesetze gebunden,4 während bisweilen auch eine umfassende Gesetzesbindung abgelehnt sowie postuliert wird, der Bundesrat sei beim Erlass von Notrecht nur, aber immerhin an die Bundesverfassung gebunden.5 Dies zumindest im Anwendungsbereich des intrakonstitutionellen, das heisst in der Bundesverfassung vorgesehenen Notrechts, wozu klarerweise auch Art. 185 Abs. 3 BV gehört. Extrakonstitutionelles Notrecht wäre nur bei Gefährdungen im Ausmass des Zweiten Weltkriegs zulässig und setzte selbst dann eine Vollmachtsübertragung durch das Bundesparlament voraus.6 Auf weitere Ausführungen hierzu kann infolge fehlender Relevanz für die hier interessierenden Fragen verzichtet werden; aktuell besteht keinerlei Veranlassung für ein Vollmachtenregime.
2.3 Bundesversammlung: Ausserordentliche Umstände
Schliesslich erlaubt Art. 173 Abs. 1 lit. c BV der Bundesversammlung den Erlass – nicht referendumsfähiger (Art. 141 Abs. 1 BV e contrario) – Notverordnungen, wenn «ausserordentliche Umstände» im Bereich innere und äussere Sicherheit oder Unabhängigkeit und Neutralität dies erfordern. Auch solche Verordnungen sind zu befristen7 und verlieren spätestens drei Jahre nach deren Inkraftsetzung ihre Gültigkeit (Art. 7d Abs. 2 lit. a Ziff. 2 RVOG i.V.m. Art. 7d Abs. 3 RVOG).
Auf weitere Details hierzu ist nicht näher einzugehen. Es kann aber bereits an dieser Stelle klar festgehalten werden, dass weder die BV noch das RVOG den Erlass unbefristeter Notverordnungen legitimieren.
3. Kompetenzen laut Epidemiegesetz
3.1 Ausserordentliche Lage
Nach Art. 7 EpG kann der Bundesrat, wenn es eine ausserordentliche (epidemologische) Lage erfordert, für das gesamte Land oder einzelne Landesteile die notwendigen Massnahmen anordnen. Die ausserordentliche Lage ist dabei die höchste Eskalationsstufe im dreistufigen Modell des EpG (normale, besondere und ausserordentliche Lage). Ergo stellt Art. 7 EpG eine Notstandsnorm dar, welche – so bereits die Botschaft zum heutigen, in der Referendumsabstimmung von September 2013 angenommenen EpG – rein deklaratorisch ist und gegenüber Art. 185 Abs. 3 BV keine eigene Bedeutung hat.8
Dieser klare Wille des Gesetzgebers, dem Bundesrat im Bereich der Gesundheitspolitik nicht mehr Notrechtskompetenzen zu geben als bei übrigen Notlagen, ist aufgrund der Gewaltenteilung verbindlich. Dies umso mehr, als bei jungen Gesetzen – und das heutige, sehr grundlegend revidierte EpG trat erst 2016 in Kraft – dem historischen Auslegungselement bzw. den Materialien (neben dem Wortlautprimat) methodisch besonderes Gewicht zukommt.9 Dass Art. 7 EpG keine weitere, über Art. 185 Abs. 3 BV hinausgehende Bedeutung zukommt, entspricht denn auch dem Stand der Literatur.10 Einzig Kley hält dafür, dass Art. 7 EpG nicht abschliessend sei; jedoch zielt er mit seiner Argumentation nur auf die sachliche Tragweite ab und möchte dem Bundesrat – entgegen Art. 185 Abs. 3 BV als weitgehende Polizeigeneralklausel zur akut-repressiven Gefahrenabwehr – via Art. 7 EpG auch das Recht gewähren, notrechtlich gewisse wirtschaftliche Ausgleichsmassnahmen zu treffen.11 Mit anderen Worten bejaht Kley keine Ausweitung der zeitlichen Notrechtsgeltung via Art. 7 EpG. Im Gegenteil kritisiert er mit deutlichen Worten den aktuellen Etatismus, zu wenig Föderalismus sowie selberdenkende Parlamentarier und plädiert deutlich für ein Gegengewicht zum Machtzuwachs der Exekutive in Notrechtszeiten.12 Diese Randbemerkung unterstreicht einmal mehr, dass Notrecht auch im Anwendungsbereich von Art. 7 EpG zwingend zu befristen ist.
3.2 Besondere Lage13
Demgegenüber stellt Art. 6 EpG eine formellgesetzliche Kompetenznorm für die besondere Lage dar. Die besondere Lage bildet dabei die mittlere Eskalationsstufe im dreistufigen EpG-Modell; sie rechtfertigt die Anwendung verfassungsmässigen Notrechts im engeren Sinne – im Gegensatz zu Art. 7 EpG – auch gemäss bundesrätlicher Botschaft noch nicht. Betreffend Massnahmen gegenüber Einzelpersonen oder der Bevölkerung beschränkt sich der Handlungsspielraum des Bundesrats überdies auf die in Art. 31 ff. EpG aufgelisteten Massnahmen.14 All dies verdeutlicht, dass der Bundesrat in der besonderen Lage – die eo ipso vorliegt, sobald die Kriterien des Art. 6 Abs. 1 EpG15 erfüllt sind – über Notrechtskompetenzen verfügt, jedoch nur in Bezug auf Handlungsinstrumente, die das EpG expressis verbis normiert. Sein Handlungsspielraum ist damit weniger weit als jener unter Art. 7 EpG bzw. Art. 185 Abs. 3 BV – womit bei einer teleologischen Betrachtung (ratio legis) unstreitig feststeht, dass auf Art. 6 EpG gestützte Notverordnungen ebenso zwingend befristet sein müssen, würde es doch Sinn und Zweck des dreistufigen EpG-Modells diametral widersprechen, wenn in der (durchaus leichteren) besonderen Lage weitreichendere, unbefristete (Massnahm-)Verordnungen statthaft wären, in der (schwereren) ausserordentlichen aber nicht.
Der Rückgriff auf Teleologie, Sinn und Zweck des dreistufigen Modells hebt dies besonders plastisch hervor, ist aber nicht zwingend erforderlich. Denn wie sogleich zu zeigen, gelangt eine Wortlautbetrachtung (in Verbindung mit einer gesetzessystematischen sowie historisch-materialienbasierten Normanalyse) notwendigerweise zum selben Auslegungsresultat.
So verlangt Art. 31 Abs. 3 EpG nämlich klar, dass bei Massnahmen gegenüber Einzelpersonen die Betroffenen vorgängig darüber aufzuklären sind, warum die Massnahmen angeordnet werden und wie lange diese voraussichtlich dauern. Noch deutlicher ist sodann Art. 31 Abs. 4 EpG: Darin steht unmissverständlich, dass eine Massnahme nicht länger dauern darf, als dass sie notwendig ist, «um eine ernsthafte Gefahr für die Gesundheit Dritter abzuwenden». Sie ist zudem «regelmässig zu überprüfen». In der Botschaft heisst es hierzu: «Eingriffe in die Grundrechte verlangen eine zeitliche Einschränkung auf das notwendige Minimum und eine regelmässige Überprüfung.» Und kurz darauf: «Es sind Verfahren einzurichten, welche den Betroffenen eine Überprüfung der Einschränkung der Grundrechte» gestatten.»16
Die Forderung nach einer zeitlichen Beschränkung und regelmässigen Überprüfung ist damit nichts anderes als eine explizite Befristungspflicht. Der Bundesrat darf eine befristete Massnahme zwar nochmals verlängern, nicht aber von Beginn weg unbefristete Massnahmen auf dem Wege einer Notverordnung erlassen. Die zwingende Befristungspflicht ist dabei nota bene keine reine Formspielerei. Vielmehr trägt sie – angesichts der notorischen Gefahr staatlichen Machtmissbrauchs – dem Umstand Rechnung, dass so die Individualfreiheit wirksamer geschützt wird, tragen doch unbefristete Notverordnungen viel eher das Risiko in sich, dereinst zum Dauerzustand zu werden, als befristete Massnahmen, welche jedes Mal neu und fundiert begründet werden müssen. Dies sollte empirisch-historisch hinreichend fundiert sein (inkl. CH-Vollmachtenregime).
Dies gilt denn auch nicht bloss für Massnahmen gegenüber Einzelpersonen, sondern auch für jene gegenüber der ganzen Bevölkerung. Auch diese dürfen nach dem klaren Wortlaut des Art. 40 Abs. 3 EpG nicht länger dauern als notwendig; sie müssen zudem regelmässig überprüft werden. Die Norm ist nahezu wortgleich wie Art. 31 Abs. 4 EpG. Daraus folgt auch für Massnahmen gegenüber der Gesamtbevölkerung eine strikte Befristungspflicht. Dasselbe gilt schliesslich auch für die Massnahmen im internationalen Personenverkehr, verweist Art. 41 Abs. 3 EpG ja explizit auf die vorstehenden Vorgaben, wozu auch die Befristungspflicht gemäss Art. 31 Abs. 4 EpG gehört.
Daraus folgt unter Berücksichtigung des Wortlautprimats wie auch einer systematischen, historischen und teleologischen Auslegung der relevanten Rechtsnormen, dass weder in der besonderen noch der ausserordentlichen Lage nach Art. 6/7 EpG unbefristete Notverordnungen oder Massnahmen ohne absehbares zeitliches Ende zulässig sind. Sie können ferner ebenso wenig aus dem RVOG oder den verfassungsrechtlichen Kompetenznormen (Art. 184/185 BV) abgeleitet werden. Es bleibt dabei: Das schweizerische Recht kennt ganz grundsätzlich keine Möglichkeit unbefristeter Notverordnungen.17
4. Nachprüfbarkeit im Strafverfahren18
4.1 Rechtsweggarantie (Art. 29a BV)
Nachdem hinreichend aufgezeigt wurde, dass unbefristete Notverordnungsnormen per se rechtswidrig sind, ist darzulegen, warum dieses Argument in aller Regel problemlos auch noch im Strafverfahren eingebracht werden kann. Ausgangspunkt hierzu ist die Rechtsweggarantie nach Art. 29a BV, wonach jede Person bei Rechtsstreitigkeiten Anspruch auf Beurteilung durch ein unabhängiges Gericht hat.
Es handelt sich um eine verfassungsrechtliche Minimalgarantie, welche jeder Person das Recht gewährt, in einer konkreten Streitsache mindestens eine gerichtliche Instanz durchlaufen zu dürfen, welche alle Sachverhalts- und Rechtsfragen, nicht jedoch Ermessensfragen mit umfassender Kognition prüft.19 Als Streitsachen gelten dabei nicht nur die von Art. 6 Ziff. 1 EMRK erfassten Streitigkeiten, sondern auch Verwaltungsrechtssachen und die Rechtmässigkeit des tatsächlichen Verwaltungshandelns; das schweizerische Verfassungsrecht geht mit gutem Grund über die EMRK-Mindestvorgaben hinaus und nimmt primär Entscheide mit vorwiegend politischem Charakter (Art. 86 Abs. 3 BGG) von der Rechtsweggarantie aus.20 Schliesslich räumt die Rechtsweggarantie keinen Anspruch auf eine abstrakte Normenkontrolle ein, sondern nur auf eine gerichtliche Beurteilung im individuell-konkreten Streitfall.21 Unstreitig bewirkt das Strafverfahren dabei eine akzessorische Normkontrolle, ihrerseits auch im Anwendungsbereich von Covid-Notrecht zulässig.22
4.2 Materieller Rechtmässigkeitsbegriff
Aus der vorstehend thematisierten Rechtsweggarantie folgt sodann, dass im Strafrecht meist der materielle Rechtmässigkeitsbegriff zur Anwendung gelangt. Mit anderen Worten kann man für Ungehorsam gegenüber amtlichen Verfügungen in der Regel nur verurteilt werden, wenn diese Verfügungen auch materiellrechtlich haltbar sind.
Eine Person kann nämlich allein dann im Einklang mit der Rechtsweggarantie für Ungehorsam gegenüber amtlichen Anordnungen bestraft werden, wenn andere Rechtsmittel zur Verfügung stehen bzw. gestanden haben, um das staatliche Handeln auf seine Rechtmässigkeit hin zu überprüfen. Beispielsweise lassen sich die Tatbestände Gewalt oder Drohung gegenüber Beamten (Art. 285 StGB) sowie Hinderung an einer Amtshandlung (Art. 286 StGB), welche – mit Ausnahme des geradezu nichtigen – auch rechtswidriges Handeln schützen,23 nur aufrechterhalten, da der Betroffene nachträglich eine Verfügung über Realakte (Art. 25a VwVG24) verlangen und auf diesem Wege die Rechtmässigkeit des amtlichen Handelns retrospektiv überprüfen lassen kann. (Jene Normen sind denn auch zentral für das Funktionieren eines Rechtsstaates, denn jede minimale Meinungsverschiedenheit mit Amtsträgern kann kaum ernstlich gewaltsam gelöst werden.)
Dasselbe gilt für die allgemeine Ungehorsamkeitsstrafe nach Art. 292 StGB; eine materielle Überprüfung der Verfügung, gegen die verstossen wurde, findet nur statt, wenn gegen diese kein Rechtsmittel möglich war oder eine Verfügung zwar angefochten, aber noch nicht rechtskräftig beurteilt wurde.25
Wie dargelegt, muss eine Abweichung von der Rechtsweggarantie sehr wohlbegründet sein. Diese Voraussetzungen sind in casu betreffend die Covid-Notrechtsnormen nicht erfüllt. In aller Regel dürfte die beschuldigte Person im Strafverfahren erstmals Gelegenheit erhalten, ihre Einwände betreffend (Un-)Zulässigkeit der notrechtlichen Massnahmen vorzubringen, zumal vorgelagerte Rechtsmittel nur in vergleichsweise seltenen Fällen möglich gewesen sein dürften. Beruft sich nun jemand darauf, er oder sie habe zwar eine notrechtliche Vorschrift verletzt, stelle aber die Zulässigkeit unbefristeter Massnahmen per se infrage, ist diese Rüge im Strafverfahren materiell zu behandeln. Da die Notrechtsbefristung eindeutig dem Schutz des Individuums dient, handelt es sich überdies um eine Gültigkeitsvorschrift im Interesse des Beschuldigten; ein Freispruch muss ergo zwingend erfolgen.
4.3 Beispiele für Covid-Notrecht ohne Befristung
Während in der ersten Welle die zentrale, den Lockdown regelnde Notverordnung klar befristet war (Art. 12 Abs. 3 Covid-19-Verordnung 2) und aktuell zumindest die harten, wirtschaftstangierenden Massnahmen des zweiten Lockdowns noch befristet sind,26 scheint es für die Exekutive bisweilen selbstverständlich geworden sein, gewisse Vorschriften im Privatbereich – ohne direkte ökonomische Auswirkungen – nicht einmal mehr zu befristen. Diese gefährden zwar nicht gerade die wirtschaftliche Existenz des Einzelnen, doch ist daran zu erinnern, dass wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit nicht schematisch voneinander trennbar sind (selbst wenn es objektiv schwerere und weniger schwere Eingriffe gibt).
Vor diesem Hintergrund ist es alles andere als unproblematisch, wenn die Maskenpflicht einstweilen unbefristet gilt (Art. 3a/3b Covid-19-Verordnung besondere Lage i.V.m. Art. 15 Covid-19-Verordnung besondere Lage) und auch in Nicht-Lockdownzeiten regelmässig Privattreffen von über 10 Leuten verboten waren (Art. 6 Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage). Ebenso ohne zeitliches Ende sind die diversen Quarantäneregelungen im internationalen Personenverkehr (Art. 7 Covid-19-Verordnung internationaler Personenverkehr e contrario). All dies erweist sich damit als grundsätzlich rechtswidrig und kann einer inzidenten Normkontrolle kaum standhalten.
5. Keine tragfähige Grundlage
Mit vorliegendem Beitrag konnte gezeigt werden, dass das Schweizer Recht per se keine unbefristeten Notverordnungen zulässt. Ergo fehlt es an einer tragfähigen Grundlage, entsprechende Verstösse strafrechtlich zu ahnden oder jene Normen mit Verwaltungszwang durchzusetzen.
Nun mögen manche Leute, durchaus auch Juristen, schockiert einwenden, in einer «so ernsten» Zeit wie der Coronakrise dürfe man nicht alles so eng sehen, schliesslich müsse man im Sinne grösstmöglicher Effizienz von implied powers ausgehen oder eine dynamische Rechtsfortbildung durch die Gerichte zulassen. Hierbei handelt es sich um einen Rechtsgeist, der aus der EU – mit ihren aktuell massiven Freiheitsbeschränkungen bis hin zu Ausgangssperren, was in der Schweiz glücklicherweise (noch?) weniger salonfähig ist – importiert wurde und auch ausserhalb einer Notrechtszeit die Rechtssicherheit massiv schwächt.27
Die Gewährleistung von Rechtssicherheit für das Individuum (in Bezug auf die ex natura angeborenen Rechtsgüter Leib und Leben, Freiheit sowie Eigentum) ist klarerweise eine der zentralsten Aufgaben eines jeden Rechtsstaates. Es geht damit nicht mehr nur um die Frage, dass aufgrund der tiefen Covid-19-Mortalität ausserhalb der Risikogruppe aus rein epidemiologischer Sicht nie eine ausserordentliche Lage nach Art. 7 EpG hätte ausgerufen werden dürfen.28 Vielmehr ist nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass Freiheit auch einen ökonomischen Wert hat, indem sie kostspielige Ausweichhandlungen obsolet macht und auch ganz generell Lebensqualität gewährt.
In diesem Sinne ist mit Spannung zu erwarten, ob es zu Grundsatzurteilen über die vorliegend aufgeworfenen Rechtsfragen kommen wird. Selbst wenn an deren Anfang – Stichwort akzessorische Normenkontrolle im Straf- oder Verwaltungsverfahren – oft ein Akt des zivilen Ungehorsams stehen dürfte: Wenn Gerichte rechtstreu entscheiden sowie unbefristeten Notrechtsnormen die Anwendung versagen, gewinnen letztlich eben doch wieder Individualfreiheit und Rechtsstaat.
1 Der vorliegende Beitrag berücksichtigt die Rechtslage bis und mit 31.1.2021.
2 Giovanni Biaggini, BV-Kommentar, Zürich 2017 (fortan: OFK BV), Art. 185 N 9.
3 St. Galler Kommentar – Die Schweizerische Bundesverfassung, Zürich/St. Gallen 2014, Urs Saxer, Art. 185 N 13 f.
4 OFK BV, Art. 184 N 10c; Andreas Kley, «Ausserordentliche Situationen verlangen nach ausserordentlichen Lösungen – ein staatsrechtliches Lehrstück zu Art. 7 EpG und Art. 185 Abs. 3 BV», in: ZBl 2020, S. 273. Daraus folgt, dass sogenannt gesetzesderogierendes, d.h. Bundesgesetze modifizierendes Notrecht nach der herrschenden Lehre unzulässig ist.
5 St. Galler Kommentar, a.a.O., Art. 185 N 103.
6 Kley, a.a.O, S. 276.
7 St. Galler Kommentar, a.a.O., Art. 173 N 73 f.
8 Botschaft EpG, BBl 2011, S. 365 f.
9 Statt vieler: BGE 144 I 242, E. 3.1.2.
10 Florian Brunner / Martin Wilhelm /Felix Uhlmann, «Das Coronavirus und die Grenzen des Notrechts», in: AJP 2020, S. 697 f.; Kaspar Gerber, «Rechtsschutz bei Massnahmen des Bundesrats zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie», in: Sui generis 2020, S. 262.
11 Kley, a.a.O., S. 273. Der Autor lehnt die entsprechende Auffassung dogmatisch-gewaltenteilungsbedingt dezidiert ab, gesteht aber ein, dass der weitreichende Lockdown ohne wirtschaftliche Ausgleichsmassnahmen noch weniger haltbar gewesen wäre als ohnehin schon. Jedoch stellen nach Haltung des Autors die notrechtlichen, polizeilich motivierten Massnahmen unstreitig öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkungen dar, die ohnehin unter dem Titel materielle Enteignung zu entschädigen sind (Art. 26 Abs. 2 BV). Dies erst recht, zumal auch polizeiliche Eigentumsbeschränkungen eine Entschädigungspflicht auslösen, wenn sie in eine bestehende Nutzung eingreifen (Basler Kommentar Schweizerische Bundesverfassung, Basel 2015, Bernhard Waldmann, Art. 26 N 98) und sich auch der betroffene Mieter – z.B. ein Gastronomieunternehmer, der eingemietet ist – auf die Eigentumsgarantie berufen kann (BGE 105 Ia 43, E. 1c). Fraglich ist dann bloss noch, ob die nur temporäre Einschränkung genug intensiv ist, um gleich wie eine langfristige Enteignung entschädigungspflichtig zu sein. Dies dürfte im Einzelfall des Öfteren zu bejahen sein, zumal zwei Lockdowns vielen Betrieben den Geschäftsumsatz für ein halbes Jahr (!) fast auf null herabgesetzt haben. Zwar mag dieses Auslegungsresultat zu finanziell unangenehmen Konsequenzen für die Staatskasse führen. Dies darf die Exekutive nicht an einer Entschädigung hindern. Sie wird sich dadurch auch bewusst, dass Massnahmen kosten und ökonomische Komponenten bei der Abwägung von Freiheit und Sicherheit nie völlig ausgeblendet werden dürfen. Wer so argumentiert, quantifiziert im Übrigen nicht das Menschenleben als solches, sondern bloss das allgemein-natürliche Lebensrisiko.
12 Kley, a.a.O., S. 276.
13 Voranzustellen ist, dass der Bundesrat in der besonderen Lage das Zepter nicht allein in der Hand hat und den Kantonen Spielraum für abweichende Regelungen einräumen darf (vgl. Art. 8 Covid-19-Verordnung besondere Lage). Diese dürfen aber Sinn und Zweck des Bundesrechts nicht torpedieren und müssen auch mit qualifiziertem Schweigen bundesrechtlich bewusst ungeregelte Bereiche respektieren, ansonsten Art. 49 Abs. 1 BV verletzt wird (näher: BGE 138 I 356, E. 5.4.2).
14 Botschaft EpG, BBl 2011 364 f.
15 Auf diese Kriterien ist vorliegend nicht en détail einzugehen. Angemerkt sei bloss, dass die automatisierende Anknüpfung an WHO-Definitionen (so explizit Art. 6 Abs. 1 lit. b EpG) mit Blick auf die nationale Souveränität zumindest nicht unproblematisch erscheint.
16 Botschaft EpG, BBl 2011, S. 387; Rechtsmittel gegen Corona-Notrechtsmassnahmen wurden dabei kaum geschaffen. Oft
kann sich eine Person erst wehren (auf dem Wege der akzessorischen Normenkontrolle), wenn sie – nach erfolgtem zivilem Ungehorsam – mit Verwaltungssanktionen oder Strafbescheiden konfrontiert ist; zu Rechtsschutzdefiziten (insbesondere auch wegen oftmals entzogener aufschiebender Wirkung bei Dringlichkeit in «Notlagen»). Vertiefend Gerber, a.a.O., S. 263 f.
17 Ergänzend festzuhalten ist, dass sich an dieser Beurteilung nichts ändern würde, wenn Normen in Form der Allgemeinverfügung ergingen. Erstens ist auch deren Rechtmässigkeit akzessorisch nachprüfbar und zweitens ist es nicht zulässig, mit der generell-konkreten Allgemeinverfügung generell-abstrakte Rechtsätze zu schaffen (näher: BGE 125 I 313, E. 2).
18 Aus Relevanzgründen ist vorliegend auf die inzidente Überprüfung der Rechtmässigkeit von Massnahmen in einem Strafverfahren einzugehen. Dies, da die meisten unbefristeten Massnahmen das Privatleben und nicht die Geschäftstätigkeit tangieren, sind letztere Massnahmen doch grossmehrheitlich befristet. Damit stellt sich die Frage von Betriebsschliessungen hier nur am Rande. Die vorliegenden Ausführungen dürften jedoch grösstenteils auch für streitige öffentlich-rechtliche Verfahren gelten.
19 St. Galler Kommentar, a.a.O., Art. 29a N 9.
20 OFK BV, Art. 29a N 4 und 10.
21 St. Galler Kommentar, a.a.O., Art. 29a N 12.
22 Gerber, a.a.O., S. 253 und 263.
23 StGB-Kommentar, 20. Aufl., Zürich 2018, Bernhard Isenring, Art. 285, N 13; Handkommentar Schweizerisches Strafgesetzbuch, 4. Aufl., Zürich 2020, Wolfgang Wohlers, Art. 285 N 4.
24 Es sei daran erinnert, dass die Verfügung über Realakte (Art. 25a VwVG) nicht gleichzusetzen ist mit der allgemeinen Feststellungsverfügung (Art. 25 VwVG). Letztere setzt ein einzelfallweise zu begründendes Feststellungsinteresse voraus und ist insoweit subsidiär zum allgemeinen Rechtsschutz, welcher aufgrund der Rechtsweggarantie (Art. 29a BV) zwingend zur Verfügung zu stellen ist.
25 StGB-Kommentar, a.a.O., Art. 292 N 7; Handkommentar, a.a.O., Art. 292 N 4.
26 Für die Änderung vom 13.1.2021 mit Befristung bis zum 28.2.2021 siehe AS 2021, S. 7 ff.
27 Empfehlenswert die bemerkenswert detaillierte Analyse von Hansjörg Seiler, «Einfluss des europäischen Rechts und der europäischen Rechtsprechung auf die schweizerische Rechtspflege», in ZBJV 2014, S. 265–368.
28 So auch Gerber, a.a.O, S. 264 mit explizitem Verweis auf bundesratseigene Aussagen.