Für Ramzi Kassem begann alles am 11. September 2001, dem Tag der Anschläge. Er ging zum Blutspenden für die Überlebenden, dann meldete er sich als Freiwilliger beim Roten Kreuz. Bald darauf wurden in New York und Umgebung Muslime verhaftet. Nun suchten Menschenrechtsorganisationen Arabisch-Dolmetscher. «Ich wusste nicht, ob ich mit diesen Gefangenen in Verbindung gebracht werden wollte, was das für meine Karriere bedeuten würde - aber ich studierte Jura, und...», Ramzi Kassem zögert, bevor er weiterspricht, «...und ich konnte Arabisch.»
So hatte er angefangen. Als Übersetzer. Noch bevor Ramzi Kassem zu einem der wichtigsten Anwälte der Häftlinge von Guantánamo wurde, noch bevor er sich ausmalen konnte, was es heisst, die erklärten Feinde Amerikas zu verteidigen, noch bevor er ahnte, dass er einige Jahre später alle zwei Wochen nach Kuba fliegen würde. Inzwischen vertritt der 33-Jährige acht Gefangene.
Am Anfang war alles juristisches Niemandsland
Am 11. Januar 2002 landete eine Frachtmaschine der Air Force auf der US-Naval-Base Guantánamo, an Bord: zwanzig Gefangene in einem «Dreiteiler», an Füssen, Händen und Hüfte gefesselt, mit einer Chirurgenmaske über dem Gesicht und einer verdunkelten Schutzbrille über den Augen. Sie waren von Kandahar, Afghanistan, bis nach Guantánamo geflogen worden. Dort erwartete sie das Camp X-Ray, ein Lager nur aus Käfigen, die von allen Seiten einsehbar waren. Im Laufe eines Monats brachte man 300 Gefangene hierher, die nicht mehr erhielten als einen Eimer für Exkremente und eine dünne Matratze ohne Decke. Bis heute wurden in Guantánamo 779 Menschen aus mehr als vierzig Ländern festgehalten. Aus Camp X-Ray ist inzwischen ein ganzer millionenschwerer Hochsicherheitskomplex geworden. Die Häftlinge leben nun in festen Stahlzellen ohne Fenster und natürliches Licht, zwei Stunden pro Tag dürfen sie ihre Zellen verlassen.
Am Anfang war alles juristisches Niemandsland, ein rechtsfreier Raum, den vor den Anwälten niemand betreten hatte. Die Regierung Bush hatte eine eigene Kategorie für diese Gefangenen geschaffen, um sie dem geltenden Recht der Genfer Konventionen zu entziehen: unlawful combatants. «Illegale Kämpfer», die im «Krieg gegen den Terror» gefangengenommen wurden, so die Vorstellung, könnten auch ohne Anklage festgehalten werden. Die Anwälte wussten nicht, ob das im Mittelalter etablierte Prinzip des Habeas Corpus, des Rechts eines jeden Individuums, vor willkürlicher Haft geschützt zu werden, in diesem Fall anerkannt würde. Es dauerte zwei Jahre, bis der Oberste US-Gerichtshof 2004 entschied, dass die Häftlinge überhaupt Anspruch auf eine anwaltliche Vertretung hätten.
Im ganzen Land suchten das Center for Constitutional Rights und die American Civil Liberties Union (ACLU) daraufhin nach zivilen Anwälten - manche sollten Militärverteidigern in den Prozessen vor Militärtribunalen zur Seite stehen, die meisten sollten die rund 100 Fälle betreuen, in denen noch nicht einmal Anklage erhoben war. Es meldeten sich Anwälte, die als Dozenten an juristischen Lehrstühlen wenig Geld verdienten, wie Ramzi Kassem, Anwälte aus grossen Wirtschaftskanzleien, die es sich leisten konnten, pro bono publico zu arbeiten, wie David Remes in Washington, und angestellte Juristinnen der ACLU wie Hina Shamsi. Es entstand eine einmalige Allianz aus Strafverteidigern und Professoren, Männern und Frauen, Christen, Juden und Muslimen, die von nun an jede Woche miteinander telefonierten, in Konferenzschaltungen mit bis zu 300 Teilnehmern ihre Strategien diskutierten und im Verlauf von zehn Jahren ihre Hoffnungen und Enttäuschungen miteinander teilten.
Briefträgerdienste zu den Familien
Über die Jahre haben die Anwälte nicht nur das Rechtssystem der USA kennengelernt, sondern auch Länder und Gesellschaften, die ihnen gänzlich fremd waren: Sie reisten zu den Verwandten ihrer Mandanten in Kuwait und Saudi-Arabien, besuchten die Geschäftspartner und Ehefrauen im Jemen und in Algerien. Sie brachten Fotos von Kindern nach Guantánamo, die sich über die Jahre, in denen ihre Väter dort einsassen, so verändert hatten, dass diese sie kaum wiedererkannten, sie brachten Briefe von Müttern zu ihren Söhnen, und manchmal waren diese Briefträgerdienste wichtiger als alle juristischen Schriftsätze, die sie formulierten.
«Am Anfang wussten wir gar nichts», sagt der Anwalt David Remes, «nicht, wer die Gefangenen waren, nicht, was Guantánamo bedeutete. Alles, was wir wussten, war, dass wir die Fälle dieser Menschen übernommen hatten.» David Remes, 57, sitzt elegant gekleidet in einem kleinen italienischen Café im West Village in New York. Er vertritt 18 Guantánamo-Gefangene, darunter 16 Jemeniten.
Einer seiner ersten Mandanten war Hassen Odaini aus dem Jemen. Geboren 1983, als Sohn eines jemenitischen Beamten im Büro für Politische Sicherheit, war Hassen im Alter von 18 Jahren 2001 zum Islamstudium nach Pakistan gegangen. Im März 2002 war er verhaftet worden. «Er war einfach in eine Razzia der pakistanischen Polizei geraten», erläutert David Remes, «und die übergab ihn an die Amerikaner.» Im Juni 2002 wurde Hassen nach Guantánamo gebracht und war fortan eine Nummer, die Internment Serial Number 681. Noch nicht einmal die Namen der Häftlinge wollte die amerikanische Regierung damals bekannt geben - mit dem Argument, das verletze deren Privatsphäre.
Bevor die Anwälte ihre Klienten sehen oder sprechen durften, mussten sie eine Security Clearance durchlaufen. Wollten sie Akteneinsicht nehmen, um das Beweismaterial zu prüfen, mussten sie nach Washington reisen, um dort in einem «sicheren Gebäude» die Unterlagen zu lesen. Im Fall von David Remes' Mandant Hassen Odaini dauerte es bis Oktober 2004, ehe Remes überhaupt Akteneinsicht nehmen durfte. Doch die Unterlagen der Regierung enthielten keinerlei Beweismaterial über Hassens Aktivitäten in Pakistan, mögliche Verbindungen zu Al-Kaida oder eine Beteiligung an Kampfhandlungen.
Um das Vertrauen der Mandanten gerungen
Um nach Guantánamo zu kommen, mussten die Anwälte die ersten Jahre nach Fort Lauderdale fliegen, dort umsteigen in eine zwölfsitzige Propellermaschine, dreieinhalb Stunden Flug, keine Toilette. Die Kosten für ein Gespräch mit einem Mandanten auf Guantánamo? Der Anwalt David Remes kalkuliert 6500 Dollar pro Tag, davon 1300 für einen Übersetzer. Da An- und Abreise je einen Tag dauern, macht der Dolmetscher allein 3900 Dollar aus. Manche Anwälte finanzieren diese Reisen durch Unterstützung ihrer Universitäten oder von Menschenrechtsorganisationen, manche, wie David Remes, greifen auch auf ihr privates Vermögen zurück, um die Häftlinge zu vertreten.
Beim Gespräch waren die Mandanten an Händen und Hüfte gefesselt und mit den Füssen an den Boden gekettet. «Wir mussten erst mal das Vertrauen dieser Menschen gewinnen», sagt Remes, «woher sollten sie wissen, dass wir nicht Verhörspezialisten waren?» Hier sassen Gefangene, die erstmals die Erfahrung machten, dass jemand ihnen helfen wollte. Manche Anwälte brachten bei ihrer ersten Begegnung Datteln oder Baklava mit.
Anwälte bei den Gefangenen angeschwärzt
Bei seinem ersten Besuch in Guantánamo hat David Remes vor allem zugehört. Er fragte nicht, wo seine Mandanten gewesen waren, was sie dort zu suchen hatten, was sie getan hatten, sondern nur, was ihnen seither angetan worden war. Kurz danach reiste Remes in den Jemen und suchte die Angehörigen seiner Mandanten auf, er wollte verstehen, woher die Beschuldigten stammen, wie sie in Gefangenschaft geraten konnten, er suchte nach Beweisen für ihre Unschuld. So schuf er Vertrauen.
«Doch kaum dass wir ein gutes Verhältnis aufgebaut hatten, wurde es systematisch unterwandert.» David Remes schüttelt heute noch den Kopf: «Die Wärter haben den Gefangenen erzählt, dass wir Juden wären.» Davon berichten alle Anwälte: von den Versuchen, die Gefangenen gegen ihre Verteidiger aufzubringen. Die Gefangenen wurden Stunden zu früh abgeholt, damit sie in der kubanischen Sonne auf ihre Verteidiger warten mussten. Den Anwälten wiederum wurde gesagt, ihre Mandanten weigerten sich, sie zu sehen. «Am Ende war es so schlimm», sagt David Remes, «dass ich manche Mandanten anflehen musste, mich nicht zu entlassen.»
In der Mehrzahl der Fälle gab es keine Hinweise auf eine Täterschaft, vermutlich würde es nie zu einer Anklage kommen. Die Anwälte waren voller Hoffnung, ihren Mandanten schnell helfen zu können. «Ich dachte, das kostet mich vielleicht drei Jahre», sagt Ramzi Kassem bitter. Mit jedem Tag, an dem er sich mit Guantánamo befasst, schwindet die Hoffnung ein bisschen mehr. «Wir waren sicher, dass wir diese Fälle gewinnen.»
In den ersten Jahren schien der Erfolg greifbar
Die ersten Jahre schienen den Anwälten recht zu geben: Zwar dauerte es bis zum Jahr 2008, bis der Oberste Gerichtshof im Grundsatzurteil «Boumediene vs. Bush» den Gefangenen das Recht auf Anhörung vor einem zivilen Gericht in den USA zusprach, aber nach und nach wurde die schwache Beweislage gegen zahllose Gefangene deutlich. 92 Prozent aller Häftlinge in Guantánamo waren gemäss Aussagen der Regierung nie Al-Kaida-Kämpfer, mindestens 22 Häftlinge waren dem Center for Constitutional Rights zufolge bei ihrer Verhaftung jünger als 18 Jahre, 600 Gefangene wurden schliesslich freigelassen. Warum sie Guantánamo verlassen durften und zahllose andere nicht, für deren Fälle die Beweislage ähnlich dürftig ist, bleibt ein Rätsel.
Im Fall von David Remes' jemenitischem Mandanten Hassen Odaini dauerte es bis zum Mai des Jahres 2010, also von der Verhaftung an gerechnet acht Jahre, bis ein Richter die Sache erstmals anhörte. Nach nur zwei Tagen schrieb Richter Henry H. Kennedy verärgert in seinem Urteil, die Regierung habe «einen jungen Mann aus dem Jemen von seinem 18. bis zu seinem 26. Lebensjahr auf Kuba in Gefangenschaft gehalten. Sie hat ihn davon abgehalten, seine Familie zu sehen, sein Studium zu beenden und eine Karriere zu beginnen. Die dem Gericht vorliegenden Beweise zeigen, dass der hohe Preis dieser Haft die Vereinigten Staaten überhaupt nicht sicherer gemacht hat. Es gibt keinerlei Hinweis auf irgendeine Verbindung von Odai-ni zu Al-Kaida. (...) Das Gericht beschliesst deswegen nachdrücklich, dass Odainis Haftbeschwerde stattgegeben werden muss.» Am 13. Juli 2010 schliesslich wurde Hassen Odaini freigelassen und in den Jemen ausgeflogen.
Appellationsgericht hebt jedes Urteil wieder auf
In den ersten Jahren nach «Boumediene» gewannen die Anwälte einen Grossteil ihrer Habeas-Corpus-Prozesse in erster Instanz. Doch vor dem Appellationsgericht in Washington, D.C., wurden diese Urteile wieder aufgehoben. Das Berufungsgericht revidierte ein positives Urteil nach dem anderen. Es argumentiert, letztlich sei es nicht Aufgabe der Gerichte, über die Freilassung und den Transfer von Gefangenen zu entscheiden, sondern Sache der Regierung. So ist ein Gericht dafür verantwortlich, dass es Gefangene gibt, die nie angeklagt werden, denen nie der Prozess gemacht wird, die freigelassen werden könnten - und dennoch in Haft bleiben, weil die Regierung eine Freilassung nicht anordnet oder den Transport in einen anderen Staat nicht bereitstellt.
In der Broad Street in New York liegt die Zentrale der ACLU, der American Civil Liberties Union. Hina Shamsi, 40, Anwältin und Expertin für Nationale Sicherheitspolitik, sitzt morgens in ihrem Büro im 17. Stock mit Blick auf den East River. Sie müsste im Jetlag sein, am Abend zuvor ist sie aus Pakistan zurückgekehrt, wo ihre Familie lebt. Doch von Müdigkeit keine Spur, Shamsi ist hellwach. Fragen zu ihrer Herkunft schiebt sie beiseite. Dass es ausgerechnet im Ausland geborene Muslime sind, die Amerika gegen sich selbst verteidigen, die das Land an seine Verfassung erinnern, das ist ihr nicht der Rede wert. Guantánamo ist für Shamsi nur eine Insel in einem Archipel geheimer Gefängnisse weltweit, einem System der Inhaftierung, für das es keine Kontrolle gibt, einem System, das nicht nur dem internationalen Recht zuwiderläuft, «sondern auch der amerikanischen Verfassung».
Direkt am Pier zu Füssen der ACLU liegt die Helikopterplattform des amerikanischen Präsidenten am Ufer des East River. Wann immer Barack Obama New York besucht, landet er hier, direkt unter dem Büro von Hina Shamsi. Was hatten sie für Hoffnungen auf den neuen Präsidenten gesetzt! Der Wahlkämpfer Obama hatte versprochen, Guantánamo zu schliessen. Direkt nach seinem Amtsantritt, am 22. Januar 2009, erliess der strahlende Sieger drei Executive Orders: Guantánamo solle binnen eines Jahres geschlossen werden. Schon vier Monate nach seinem Amtsantritt, im Mai 2009, vollzog Obama in einer Rede vor dem Nationalarchiv dann allerdings eine Kehrtwende. Eine Schliessung Guantánamos, Prozesse vor zivilen Gerichten, die er zuvor gefordert hatte, wurden danach immer unwahrscheinlicher.
171 Häftlinge aus 23 Ländern sind noch immer in Guantánamo inhaftiert, 89 davon gelten als cleared for release, als vorgesehen zur Entlassung - bei 46 Gefangenen erklärte die Regierung, sie könnten weder angeklagt noch freigelassen werden, womit sie unbegrenzt festgehalten werden, ohne Anklage oder Prozess.
Freie Wahl der Methode für die Zwangsernährung
Sie haben nicht mehr viel Hoffnung, die Anwälte, die seit zehn Jahren die einzige Hoffnung der Gefangenen in Guantánamo sind. Was sie noch bewirken können? «Dass mein Mandant Ahmed Zuhair, der sich im Hungerstreik befindet, selbst entscheiden darf, wie er zwangsernährt wird», sagt Ramzi Kassem. Vier Monate brauchte Kassem, bis er durchsetzen konnte, dass sein Mandant auswählen darf, welche Form der Zwangsernährung ihm am wenigsten Schmerzen bereitet. Das ist der deprimierend kleine Spielraum, den es juristisch noch gibt.
Ob sie manchmal ans Aufgeben gedacht haben? «Jeden Tag», sagt Ramzi Kassem, «jeden Tag.» Bis zu den Präsidentschaftswahlen im November werde sich ohnehin nichts ändern. Vielleicht nicht einmal danach. Wie sie da so sicher sein können? In Guantánamo gibt es mittlerweile eine kleine Bücherei. Da gibt es jetzt Harry Potter in fünf Sprachen. Das ist erfreulich. Es zeigt aber auch, dass niemand davon ausgeht, dass Guantánamo geschlossen wird.
Gekürzte Fassung eines Artikels aus der «Zeit» Nr. 3/2012.