Die Schweiz kennt nur noch wenige Bereiche, die sich der Statistik entziehen. Einer davon ist die Polizei. Genauer: die Schattenseiten der Polizeiarbeit. Das Bundesamt für Statistik besitzt keine Zahlen über Strafverfahren gegen Polizisten. Die Kantone melden solche Daten nicht weiter.
Dennoch kann die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundes bei den Recherchen helfen. Folgende Zahlen zur PKS stammen alle aus der interaktiven Datenbank STAT-TAB, die online zugänglich ist.
Ein erster Peilversuch führt über den Amtsmissbrauch gemäss Artikel 312 Strafgesetzbuch (StGB). Zwar ist dieser Tatbestand nicht für Polizisten reserviert – doch wo sich jemand juristisch zum Beispiel gegen eine Festnahme wehrt, dürfte er oder sie eine Anzeige wegen Amtsmissbrauchs machen. Die PKS registrierte 2009 insgesamt 66 solcher Anzeigen (es fehlen die Zahlen aus Appenzell-Innerrhoden und aus dem Tessin). Sie verteilen sich sehr ungleich: 28 Fälle betrafen allein den Kanton Basel-Stadt, 11 Zürich, 6 Bern und 5 Genf (weitere 4 VS und je 2 SZ, FR, SG, FR).
Indizien für Straftaten von Polizisten
Die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft verfügt angeblich über keinerlei Zahlen betreffend Verfahren gegen Polizisten. Hingegen kann der Erste Staatsanwalt von Basel-Stadt, Thomas Hug, präzise Angaben machen: «Im Jahr 2009 leitete die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt in 12 Fällen Verfahren gegen insgesamt 28 Polizeiangehörige ein.
Die vergleichsweise hohe Zahl beschuldigter Polizeiangehöriger basiert auf dem Umstand, dass mit drei Anzeigen insgesamt 16 Polizeiangehörige verzeigt wurden. Von diesen Anzeigen im Jahr 2009 wurden 5 Fälle eingestellt, in 2 erfolgte ein Nichteintreten auf die Strafanzeige und in einem Fall wurde Anklage erhoben. Bei 4 Fällen (17 Polizeiangehörige) ist die Untersuchung noch im Gang.» Zumindest für den Kanton Basel-Stadt bestätigt sich die Vermutung, dass Amtsmissbrauch in der PKS statistisch signifikant mit Polizeiarbeit zu tun hat.
Ein zweites und drittes Indiz liefert die Kriminalstatistik bei den Tatbeständen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte und Hinderung einer Amtshandlung: Hier geht es um Anzeigen, die die Polizei gegen Zivilpersonen erstattet. Jede dieser Anzeigen dokumentiert ein konflikthaftes Zusammentreffen von Polizisten und Bürgern. In der PKS stechen die Kantone mit grösseren Städten hervor. 2347 Fälle von Gewalt und Drohung gegen Beamte verzeichnet die PKS im vergangenen Jahr, davon 458 in Bern, 438 in Zürich, 213 in Luzern, 183 in Genf und 143 in Basel-Stadt.
2009 gab es 1726 Anzeigen wegen Hinderung einer Amtshandlung – eine Anzeige, welche die Polizei häufig gegen Personen verwendet, die ihr bei der Arbeit lästig werden, sei es durch passiven Widerstand oder als Augenzeugen und unliebsame Kommentatoren. 630 dieser Anzeigen (36 Prozent) stammten aus dem Kanton Zürich, 316 (18 Prozent) aus Genf, 280 (16 Prozent) aus Bern, 113 (7 Prozent) aus Luzern, 95 (6 Prozent) aus Freiburg und nur 39 (2 Prozent) aus dem Kanton Basel-Stadt.
Gegen mangelnden Respekt vor der Polizei
Es fällt auf, dass sich der relativ kleine Kanton Luzern in der Spitzengruppe der Anzeigen bewegt: Bei Gewalt und Drohung gegen Beamte nimmt er den dritten Rang ein, bei Hinderung einer Amtshandlung den vierten Rang. Woher kommt das? Der Kommandant der Luzerner Kantonspolizei, Beat Hensler, erklärt: «Wir haben seit Jahren ein wachsendes Problem mit dem mangelnden Respekt vor der Polizei. Polizisten werden angepöbelt, angespuckt und auch tätlich angegriffen. Deshalb haben wir vor zwei Jahren als neue Strategie beschlossen, solche Vorfälle konsequent anzuzeigen. Das schlägt sich nun in der Statistik nieder.» Von diesen Anzeigen seien weniger Fussball-Hooligans betroffen, mit denen Luzern durchaus auch Probleme habe, sondern jüngere, meist betrunkene Männer im Ausgang.
Vom Velo weg wie ein Schwerverbrecher verhaftet
Eine «Aktion Respekt» startete letztes Jahr auch die Stadtpolizei Zürich. Gemeint war der Respekt der Bürger vor der Polizei, nicht der Respekt der Polizei vor den Bürgern. Fernsehzuschauern blieb die Nachrichtensendung «10 vor 10» vom 3. Dezember 2009 in nachhaltiger Erinnerung: Da wird ein Velofahrer an der Langstrasse wie ein Schwerverbrecher an die Wand gedrückt und verhaftet. Drei Augenzeugen, die sich über die unverhältnismässige Härte empören, kommen ebenfalls für eine Nacht hinter Gitter. Was denn der erste der drei Verhafteten verbrochen habe?, fragt der Reporter. Ein Polizist, der noch auf dem am Boden liegenden Mann kniet, sagt ihm ins Mikrofon: «Er ist nicht zurück, dann hat er nicht die Hand aus der Hosentasche genommen. Und nachher ... äh, habe ich ihn an der Hand gehalten. Und dann sind seine Kollegen gekommen und dann hat er mich gehalten - und dann habe ich mich entschieden, ihn zu verhaften.» In so schönem Originalton bekommt man selten vorgeführt, wie eine Situation einseitig eskaliert.
Angefangen hatte es mit einem falsch fahrenden Velofahrer, und es endete mit einem Verstärkungsaufgebot der Polizei, darunter zwei Mann, die mit Gummigeschossgewehren breitbeinig in der Langstrasse stehen, und mit mehreren Verhafteten. Das alles, um der Zürcher Stadtpolizei mehr Respekt zu verschaffen.
Diese Szenen in Erinnerung, liest man die Zürcher Zahlen in der Statistik mit anderen Augen: 438-mal Gewalt und Drohung gegen Beamte, 630-mal Hinderung einer Amtshandlung. Bei einer derart grossen Zahl unfreundlicher Begegnungen von Polizei und Bürgern muss auch die Fehlerquote ansehnlich sein. Etwa dass Polizisten eine Person missbräuchlich festnehmen. Und dies wiederum müsste sich in Verfahren wegen Amtsmissbrauchs widerspiegeln. Doch die PKS zählte 2009 nur 11 solche Verfahren im Kanton Zürich - und ob sie sich alle gegen Polizisten richteten, wissen die Statistiker nicht.
Verfahren gegen Polizei als Staatsgeheimnis
Im Kanton Zürich sind auch von hilfsbereiten Amtsstellen nur Schätzungen über die Zahl der Anzeigen gegen Polizisten zu erhalten. Die beiden Polizeikorps mauern: Für die Staatsanwaltschaft gelte das Amtsgeheimnis - das Korps habe deshalb keine Informationen. Das antworteten die Mediensprecher beider Korps in zum Teil gleichlautenden Formulierungen, die auf gegenseitige Absprache hindeuten.
Auf mehrfache Rückfrage räumte der Sprecher der Stadtpolizei ein, dass es eine Dienstanweisung gebe, wonach ein Polizist eine solche Strafanzeige seinem Vorgesetzten melden müsse. Es ist anzunehmen, dass bei der Kantonspolizei eine ähnliche Weisung existiert. Mit anderen Worten: Die Polizeiführung hat sehr wohl einen Überblick über die Verfahren gegen ihre Polizisten. Nur behandelt sie das als Staatsgeheimnis. Selbst der staatlichen Statistik gegenüber.
Hohe Hürden, niedrige Erfolgsaussichten
Eine Strafanzeige gegen die Polizei hat viele Hindernisse zu überwinden. In den Kantonen Zürich, St. Gallen und Appenzell-Innerrhoden muss jede Anzeige gegen ein Mitglied einer Behörde ein Ermächtigungsverfahren durchlaufen. So entscheidet in Zürich seit 2005 die Anklagekammer des Obergerichts über die Eröffnung von Strafuntersuchungen gegen Behörden und Beamte (Paragraf 22 Absatz 6 StPO). Eine solche Vorprüfung sei analog dem seit 1958 geltenden Ermächtigungsverfahren zur Strafverfolgung eines Bundesangestellten, entschied das Bundesgericht 2004 im Fall des Kantons St. Gallen (1P.657/2003) und sah darin keinen Verstoss gegen die Rechtsgleichheit. Einerseits gehe es darum, «die Beamten vor unbegründeten, insbesondere mutwilligen Strafuntersuchungen zu schützen», anderseits sei die Anklagekammer «eine unabhängige Instanz, die weder mit der Polizei noch den Gemeindebehörden oder den Untersuchungsrichtern in einem engeren Zusammenarbeitsverhältnis steht».
Im Jahr 2009 hat Zürich über die Zulässigkeit von 231 Strafverfahren entschieden. Wie viele davon Polizistenfälle waren, weiss auch die Präsidentin der Anklagekammer nicht - weil man darüber nicht Buch führt. «Die 231 Fälle betrafen zwar schwergewichtig Polizisten, aber auch Verkehrsbetriebe, Spitalbehörden etcetera», sagt Oberrichterin Annegret Katzenstein. «Durchschnittlich in 30 bis 40 Prozent der Fälle beschliesst die Anklagekammer die Eröffnung einer Strafuntersuchung. In den übrigen Fällen tritt sie nicht auf die Klage ein - das betraf im letzten Jahr rund 140 Fälle.»
Hat eine Anzeige einmal die Hürde der Anklagekammer genommen, so sind ihre Erfolgsaussichten immer noch klein.
Strafuntersuchungen gegen Behördemitglieder behandelt die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich. Doch wie viele Polizistenfälle darunter sind, kann der leitende Staatsanwalt Hans Maurer nicht sagen: «Es gibt keine Statistiken zu den einzelnen Berufsgruppen. Es werden weder Verfahren gegen Künstler, Medienschaffende, Gleisarbeiter, VBZ-Chauffeure, Bäcker, Sozialarbeiter und so weiter und halt auch keine gegen Polizeibeamte separat erfasst.» Auch die Erledigung der Verfahren werde nicht speziell erhoben, antwortet Maurer, doch sie «dürfte sich nach meiner Einschätzung etwa im Bereich von 65 Prozent Einstellungen, 20 Prozent Strafbefehle, 15 Prozent Anklagen bewegen».
Polizisten haben vor Gericht die besseren Karten
Zur Erinnerung: Die Anklagekammer hat 2009 etwa 90 Strafuntersuchungen zugelassen; 15 Prozent Anklagen bedeuten also 13 bis 14 Gerichtsverfahren im Jahr 2009 gegen Behördenmitglieder aller Art (Kanton, Gemeinden, Kirchen) - mit Schwergewicht wohl auf Polizisten. Die Fälle, in denen Polizisten vor Gericht stehen, sind für Medien interessant. Hier - ganz am Ende des Verfahrensweges - entsteht erstmals eine gewisse Öffentlichkeit und Transparenz. Dennoch zählt auch das Bezirksgericht Zürich seine Polizistenprozesse nicht.
Noch vor wenigen Jahren landeten die meisten Polizistenfälle bei einem einzigen Richter, der mittlerweile pensioniert ist. Er führte die Verfahren so, dass Gerichtsberichterstatter zuweilen den Eindruck hatten, ein angeklagter Polizist habe gleich zwei Verteidiger mitgebracht – seinen Anwalt und den Einzelrichter.
Diese Sondergerichtsbarkeit existiert heute nicht mehr. Richter Hans-Jürg Zatti erklärt diesen Umstand damit, dass Polizisten wegen Tatbeständen des Strafgesetzbuches angeklagt werden, die von allen Richtern und Richterinnen im ordentlichen Verfahren beurteilt werden können und müssen. «Die Beurteilung der Fälle erfordert kein juristisches Spezialwissen, wie dies etwa beim Urheberrecht oder Fällen wegen unlauteren Wettbewerbs etcetera zu bejahen ist.»
Vor Gericht haben Polizisten gute Aussichten auf einen Freispruch. Dafür gibt es objektive und subjektive Gründe.
Thomas Sprenger, Vertrauensanwalt der Zürcher Stadtpolizei: «Ein Grund dürfte die Beweissituation sein. Nehmen wir als Beispiel eine Personenkontrolle: Da sind zwei bis drei Polizisten beteiligt und ein Kontrollierter. Wenn die Personenkontrolle eskaliert, stehen die Aussagen mehrerer Polizisten der Aussage des Anzeigeerstatters gegenüber, der selbst wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte und Behörden angezeigt wird.»
Dazu komme, dass Polizisten vor Gericht in der Regel eine erhöhte Glaubwürdigkeit geniessen. Sprenger: «Als Verteidiger von Polizisten hat man vor Gericht oft die besseren Karten. Sofern keine schwerwiegenden Delikte im Raume stehen, können sich Gerichtspersonen eher in einen Polizisten einfühlen als zum Beispiel in einen Hooligan.»
Was der Vertrauensanwalt der Polizei beschreibt, kennt Rechtsanwalt Marcel Bosonnet als Vertreter von Anzeigeerstattern: «Polizeibeamte werden vor der ersten Einvernahme aufgefordert, einen Bericht über den fraglichen Vorfall zu verfassen. Es wird ihnen damit die Möglichkeit eingeräumt, gemeinsam und widerspruchsfrei den Sachverhalt zu konstruieren. Die spätere Befragung erfolgt anhand dieses selbstverfassten Berichts, den die Polizeibeamten vor der Vernehmung nochmals austauschen und zur Kenntnis nehmen können.»
Gegenanzeigen als Abwehrstrategie der Polizei
Zur Abwehrtaktik der Polizisten gehört, dass sie häufig Anzeigen wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte erstatten. Entweder von Anfang an oder spätestens dann, wenn ein Betroffener Anzeige wegen Amtsmissbrauchs eingereicht hat. Staatsanwalt Hans Maurer bestätigt: «Tatsächlich kommt es in Festnahmesituationen relativ häufig zu solchen Gegenanzeigen der Polizei.»
Wer die Reportage von «10 vor 10» gesehen hat, weiss, aus welchem nichtigen Anlass Leute in Zürich für eine Nacht hinter Gitter kommen können. In der Reportage hat es einen Studenten und einen Juristen erwischt. Die Mehrheit der Kontrollierten sind aber Leute aus einer tieferen sozialen Schicht, Ausländer, Drogensüchtige, Prostituierte, Randständige, die sich nicht mit juristischen Mitteln wehren können. Wenn sie es versuchen, stehen ihre Chancen gut, dass am Ende nur sie als Rechtsbrecher verurteilt werden.
Bericht der Schweiz an das Anti-Folter-Komitee
Das Uno-Komitee gegen Folter hat an einer Sitzung Anfang Mai in Genf die Situation in der Schweiz behandelt. Was aber hat die Schweiz mit Folter zu tun? Das Uno-Abkommen, das für die Schweiz im Juni 1987 in Kraft getreten ist, heisst mit vollem Namen «Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe». Es geht also nicht nur um Folter in ihrer grausamsten Form, sondern auch um weniger schwere - dafür häufigere - Fälle von erniedrigender Behandlung durch die Staatsorgane. Die Artikel 12 und 13 verlangen von jedem Vertragsstaat, «dass seine Behörden umgehend eine unparteiische Untersuchung durchführen, sobald ein hinreichender Grund für die Annahme besteht, dass in einem seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiet eine Folterhandlung begangen wurde».
Im 48 Seiten umfassenden sechsten periodischen Bericht, den die Schweiz dem Komitee vorlegt, sind aus nur sechs Kantonen einige Untersuchungsverfahren gegen Polizisten aufgeführt. So fehlen etwa Angaben zum Kanton Genf, dessen Polizei häufig für ihre Härte kritisiert wird. Die wenigen Beispiele zeigen aber, dass in den meisten Fällen die Strafuntersuchungen gegen Polizisten mangels Beweisen eingestellt wurden oder dass die Gerichte angeklagte Polizisten freisprachen. So in allen 4 genannten Fällen aus Appenzell Ausserrhoden, in 3 von 4 Fällen aus Basel-Stadt, in allen 22 Fällen aus Freiburg, in 4 von 5 Fällen aus Neuenburg und in 15 von 20 Fällen im Tessin. Und aus dem Kanton Zürich wird summarisch vermeldet, es habe «einige Strafanzeigen» gegen Polizisten gegeben, doch habe die Staatsanwaltschaft «nur in sehr wenigen Fällen» Anklage erhoben.
Gestorben unter der Hand der Behörden
Im laufenden Jahr sind innerhalb von fünf Wochen drei Männer gestorben - als direkte Folge von polizeilichem Handeln oder Unterlassen.
Tod durch Ersticken
Am 11. März meldete die Waadtländer Kantonspolizei den Tod eines 30-jährigen Häftlings der Sicherheitsabteilung der Strafanstalt Bochuz. Die Beamten löschten den Brand in seiner Zelle, doch sie blieb voller Rauch. Erst um 2.30 Uhr hätten die Beamten die Zelle betreten können - und kurze Zeit später stellte ein Arzt den Tod fest. Dank der hartnäckigen Recherchen der Zeitung «Le Matin» weiss die Öffentlichkeit, was sich in jener Nacht wirklich abgespielt hat.
Der Häftling Iskander Vogt war ein psychisch angeschlagener Mann, dessen Aggressivität sich verbal und nicht gewalttätig äusserte. Er wurde nach Bagatelldelikten verwahrt und sass seit über zehn Jahren im Gefängnis, die letzten fünf Jahre wie ein Schwerverbrecher isoliert im Hochsicherheitstrakt von Bochuz. Als er seine Zelle anzündete, dauerte es vierzig Minuten, bevor das Gefängnispersonal die Kantonspolizei alarmierte. Aus Tonbandmitschnitten ist der Wortlaut der Telefongespräche bekannt geworden. Ein Gefängnisbeamter sagte, Vogt atme nun schon seit fünfzig Minuten Rauch ein, worauf ein Polizist lachend antwortete, das tue ihm doch gut. Und ein anderer nennt ihn «connard» (blöder Arsch) und «crapule» (Lump). Erst durch diese Veröffentlichungen wurde der Tod von Iskander Vogt zum Skandal. Vogts Anwalt Nicolas Mattenberger hat eine Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung eingereicht.
Tod bei Vollzug einer Zwangsausschaffung
Am 17. März starb auf dem Flughafen Zürich bei der Ausschaffung ein 29-jähriger Nigerianer. Bereits in der Medienmitteilung hatte die Kantonspolizei Zürich eine mögliche Schuld subtil ausgelagert: Der Nigerianer habe «seit einigen Tagen die Nahrungsaufnahme verweigert». Auch habe er versucht, sich der Ausschaffung zu widersetzen. Er habe nur unter Anwendung von Gewalt gefesselt werden können. Kurze Zeit später hätten sich plötzlich gesundheitliche Probleme gezeigt, worauf die Fesseln gelöst wurden und das Begleiterteam Reanimationsmassnahmen einleitete. Trotzdem verstarb der Ausschaffungshäftling wenig später auf dem Flughafengelände.
Ende Juni gab die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft das Ergebnis der Obduktion bekannt: Der Nigerianer Alex Khamma sei an Herzversagen gestorben. Seine «zu Lebzeiten praktisch nicht diagnostizierbare schwerwiegende Vorerkrankung des Herzens» habe zusammen mit dem «akuten Erregungszustand im Rahmen der Ausschaffung» zum Tod geführt.
«Im Rahmen einer humanitären Geste» überwies die Schweiz den Hinterbliebenen 50 000 Franken.
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Winterthur / Unterland waren bei Redaktionsschluss noch nicht abgeschlossen.
Tod durch Kopfschuss
In der Nacht auf den 18. April stahlen junge Männer aus Lyon in Lyss drei Wagen. Kurz vor drei Uhr nähert sich einer der gesuchten Wagen mit grosser Geschwindigkeit einer Polizeisperre. Einer der Polizisten feuert aus seiner auf Einzelschuss gestellten Maschinenpistole sieben Mal. Vier Kugeln treffen den Audi, eine den Kopf des 18-jährigen Beifahrers.
Der Freiburger Untersuchungsrichter Oliver Thormann leitet eine Strafuntersuchung wegen Tötung, allenfalls fahrlässiger Tötung ein. In der Freiburger Presse zeigen Leserbriefe viel Verständnis für den Polizisten. Also schreibt auch Strafrechtler Franz Riklin: «Auch Kriminelle haben Anspruch darauf, nicht einfach von der Polizei ‹gekillt› zu werden. Abgesehen davon, dass es im vorliegenden Fall nicht den Fahrer, sondern den Beifahrer betraf. (...) Zu Recht muss deshalb nicht nur wegen einer möglichen fahrlässigen, sondern sogar einer eventualvorsätzlichen Tötung ermittelt werden.»
Vereinfachter Beschwerdeweg
Seit Anfang 2009 gibt es einen Beschwerdeweg, der nicht die Strafjustiz bemüht: Er führt über das Verwaltungsgericht. «Polizeiliche Realakte wie eine vorläufige Festnahme entfalten immer auch eine Rechtswirkung», sagt Dozent Markus Mohler. «Darum sind die Kantone gestützt auf Artikel 29a der Bundesverfassung und Artikel 130 Absatz 3 des Bundesgerichtsgesetzes verpflichtet, verwaltungsgerichtliche Beschwerden dagegen zuzulassen.» Der durch die Justizreform 2007 geschaffene Rechtsweg ist noch wenig bekannt: Ein Betroffener kann bei der Aufsichtsbehörde der Polizei Beschwerde führen. Dann muss die Behörde eine Feststellungsverfügung erlassen, in der sie sich über die Rechtmässigkeit des polizeilichen Vorgehens äussert. Ist der Beschwerdeführer mit dem Entscheid nicht einverstanden, kann er die Verfügung vom Verwaltungsgericht beurteilen lassen.
Unabhängige Kontrolle tut not
Amnesty International setzt sich in der Schweiz bei Beschwerden gegen Polizeieinsätze für unabhängige Untersuchungen ein. Ein Teil der Kantone stellt immerhin Ombudsstellen zur Verfügung.
Vor drei Jahren hat die Schweizer Sektion von Amnesty International den 174-seitigen Bericht «Polizei, Justiz und Menschenrechte» veröffentlicht. Er dokumentiert zahlreiche Beispiele von Polizeiübergriffen der vergangenen Jahre. Der Bericht war Auftakt einer einjährigen Amnesty-Kampagne, die unter anderem von den Kantonen verlangte, unabhängige Staatsanwaltschaften für Beschwerden gegen Polizeieinsätze und Expertenkommissionen zur Überwachung der Menschenrechtssituation im Polizeibereich zu schaffen.
Was ist seither erreicht? Einen Sonderstaatsanwalt gibt es in keinem Kanton, und auch die neue schweizerische Strafprozessordnung sieht keine unabhängige Beschwerdestelle vor. Dennoch seien Fortschritte zu verzeichnen, sagt Denise Graf, Koordinatorin Menschenrechtsarbeit von Amnesty: «Ich stehe mit verschiedenen Polizeikorps in Kontakt.» Besonders gut seien die bilateralen Beziehungen zu den Kantonspolizeikorps von Bern, Basel-Stadt und Solothurn. «Nach unseren Erfahrungen sind die besten Erfolge dort zu finden, wo die politische und die polizeiliche Führung gemeinsam und öffentlich erklären, dass ihnen die Menschenrechte in der Polizeiarbeit wichtig sind.» Meistens würden die Übergriffe im Grenzbereich zur entwürdigenden Behandlung geschehen, sagt Graf. «Das können diskriminierende Äusserungen gegen Dunkelhäutige oder gegen Frauen sein. Oder das unnötige Mitnehmen zur Kontrolle auf den Posten, oft in Handschellen. Für solche Fälle braucht es eine unabhängige Beschwerdestelle.»
Das findet auch Markus Mohler, einer der profundesten Polizeikenner unter den Schweizer Juristen: Mohler war von 1979 bis 2001 Kommandant der Basler Kantonspolizei und ist heute Lehrbeauftragter für Sicherheits- und Polizeirecht an den Universitäten Basel und St. Gallen. «Die Polizei ist auch ein Machtinstrument des Staates. Darum ist eine unabhängige Kontrolle wichtig», sagt Mohler. «Wir haben in Basel gute Erfahrungen mit der Ombudsstelle gemacht.»
Aber bloss die Kantone Zürich, Basel-Stadt, Baselland, Waadt und Zug sowie die Städte Zürich, Bern, Winterthur, St. Gallen haben eine parlamentarische Ombudsstelle eingerichtet. Parlamentarisch bedeutet, dass sie von der Legislative gewählt und kontrolliert werden und damit unabhängig von der Verwaltung sind.
Amnesty International rühmt Basel-Stadt
Apropos verwaltungsinterne Beschwerde: In Basel-Stadt enthält die Website der Polizei seit 2006 an zweiter Stelle der Rubrik FAQ («Häufig gestellte Fragen») den Hinweis: «Ich möchte mich beschweren, was muss ich tun?» – gefolgt von den Adressen der internen Beschwerdestelle des Sicherheitsdepartements und der Ombudsstelle. So prominent und offen lässt sich kein anderes Polizeikorps auf Kritik ein. Amnesty rühmt nicht nur deshalb Basel-Stadt als positives Vorbild.
Keine Beschwerdeflut nach besserem Zugang
Interessanterweise hat diese Offenheit nicht zu einer Zunahme der Beschwerden geführt. 2008 gingen beim Departement selbst 82 Beschwerden gegen die Kantonspolizei ein; in 10 Fällen wurde die Beschwerde als berechtigt beurteilt, in 14 Fällen als teilweise berechtigt und in 58 Fällen als unbegründet.
Von den 772 Beschwerden, die 2009 bei Thomas Faesi, dem Ombudsman des Kantons Zürich, eingingen, betrafen 180 die Sicherheitsdirektion und davon 41 die Kantonspolizei Zürich. In der Stadt Zürich richteten sich 44 Beschwerden gegen die Stadtpolizei. Bei der Ombudsstelle Basel-Stadt lag 2008 das Sicherheitsdepartement mit 114 Beschwerden erneut an der Spitze, 66 davon betrafen die Kantonspolizei. Im Kanton Baselland stammten 2008 von 157 kantonalen Fällen 56 aus dem Bereich der Sicherheitsdirektion. Im Kanton Zug waren es im gleichen Jahr 25 Beschwerden, und in der Stadt St. Gallen entfielen auf die Direktion Soziales und Sicherheit 26 von 45 Fällen.
Nur der Ombudsman der Stadt Bern hat seit zwei Jahren praktisch keine Polizeifälle mehr: Seit die Berner Stadtpolizei in die Kantonspolizei integriert wurde, ist seine städtische Beschwerdestelle nicht mehr zuständig. Ombudsman Mario Flückiger bedauert das: «Überall, wo der Staat sein Gewaltmonopol geltend macht, müsste es eine unabhängige Ombudsstelle geben, nicht nur auf kantonaler Ebene.»
Gute Erfahrungen der Ombudsstellen
Doch wie bewähren sich Ombudsstellen bei Beschwerden gegen die Polizei? Sehr gut, sagen alle angefragten Ombudspersonen. «Wir haben sehr weit gehende Kompetenzen», sagt der Zürcher Thomas Faesi. «Wir können uns sämtliche Akten vorlegen lassen. Und was nicht in diesen Akten ist, das existiert nicht. Auch bei den Massnahmen habe ich viele Möglichkeiten – bis hin zur Strafanzeige, was auch schon geschehen ist.» Mit der Kantonspolizei Zürich hat er gute Erfahrungen gemacht: «Der Ombudsman bekommt eine vollständige Transparenz über die Polizeiarbeit. Und wenn ich Fehler feststelle, dann ist die Polizei bereit, das auch einzuräumen und ein bereinigendes Gespräch mit den Betroffenen zu suchen.» Ein härteres Pflaster ist die Stadt Zürich, wo Claudia Kaufmann seit bald sechs Jahren Ombudsfrau ist. In den vergangenen Jahren hat die Geschäftsprüfungskommission des Gemeinderats zweimal die Arbeit der Polizei kritisiert: 2003 bestätigte die GPK in fünf von zehn untersuchten Fällen Übergriffe. Und 2008 änderte die Polizei noch vor dem GPK-Bericht ihre beanstandete Praxis, Verhaftete auch in Bagatellfällen auf dem Posten routinemässig nackt auszuziehen.
Ombudsfrau Claudia Kaufmann sagt: «Ich merke, dass man bei der Stadtpolizei unsere Arbeit ernst nimmt. Aber wir sind noch nicht da, wo wir sein sollten.» Ihr Gesprächspartner bei der Polizei ist neben dem Kommandanten der Leiter des Rechtsdienstes, mit dem sie eine gute Diskussionskultur pflegt: «Allerdings müssen wir in jedem Fall die richtigen Fragen stellen. Was wir nicht erfragen, bekommen wir nicht beantwortet.»