plädoyer: Isabelle Häner, Sie haben für Gastrosuisse ein Rechtsgutachten verfasst, das dem Bundesrat bei der Anordnung von Massnahmen gegen die Coronapandemie schwere rechtliche Fehler vorwirft. Zu welchen konkreten Ergebnissen kamen Sie?
Isabelle Häner: Die Entscheidfindung des Bundesrats beim Erlass der Verordnung über die Coronamassnahmen ist rechtswidrig. Die Richtwerte, die der Bundesrat für die Beschliessung der jeweiligen Verschärfungen und Erleichterungen festgelegt hat, sind einseitig auf die gesundheitliche und epidemiologische Lage ausgerichtet. Die Bundesversammlung hat bei der Änderung des Covid-19-Gesetzes aber klar gefordert, nebst gesundheitlichen Werten müssten auch die gesellschaftlichen, öffentlichen und wirtschaftlichen Interessen berücksichtigt werden. Das verlangt der neu eingefügte Artikel 1a des Covid-19-Gesetzes explizit. Der Bundesrat hält sich nicht daran.
Sie kritisieren Indikatoren wie die Inzidenz der Fälle, den R-Wert, die Auslastung der Intensivstationen, die Hospitalisierungs- und Todesfallrate. Was ist daran falsch?
Aus diesen Indikatoren geht einzig die epidemiologische und gesundheitliche Situation hervor – und dies nicht einmal korrekt. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Massnahmen sind offenbar kein Entscheidungskriterium – der Bundesrat blendet sie komplett aus. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft zum Beispiel sind ebenfalls alarmierend, wie unterschiedliche Fachstellen melden. Wir dürften aktuell zum Beispiel eine Zunahme der psychischen Probleme bei Jugendlichen und Erwachsenen und eine Erhöhung der Suizidrate haben.
Was zum Beispiel ist falsch an der «Inzidenz der Fälle»?
Die Inzidenz soll zeigen, wie häufig neue Infektionen und Erkrankungen über einen bestimmten Zeitraum auftreten. Doch für die erhobenen Zahlen fehlt ein vernünftiger Bezugsrahmen. Wenn mehr getestet wird, werden auch mehr sogenannte «Fälle» entdeckt, also positiv Getestete. Die Inzidenz der Fälle stellt also keine valide Messgrösse dar, sondern hängt direkt von der Anzahl der Tests ab. Deren Anzahl ist mehr oder weniger willkürlich steuerbar.
Die Indikatoren müssten vor allem auch mögliche schwere Schäden und Gefährdungen von Leib und Leben aufzeigen. Sagt die Inzidenzzahl etwas über die Zahl der Erkrankungen oder über die mit der Ansteckung verbundenen möglichen Gesundheitsschäden aus?
Nein. Deswegen erweist sich dieser Richtwert als ungeeignet für so weitreichende Massnahmen wie etwa die Schliessung von Betrieben. Sie liefert keine verlässliche Entscheidungsgrundlage für eine angemessene Gefahrenabwehr.
Ein weiterer Richtwert für den Bundesrat ist der von der ETH berechnete R-Wert, der etwas über die Ansteckungsquote aussagen soll.
Diese Zahl ist nicht messbar. Sie wird jeweils im Nachhinein geschätzt. Diese Schätzungen waren immer wieder mit grösseren Fehlern behaftet und werden nachträglich korrigiert. So wurde der R-Wert zum Beispiel vor und nach Ostern massiv nach unten korrigiert: zuerst von 1,19 auf 1,12, dann von 1,12 auf 1,04. Von Anfang Juni bis Ende August 2020 lag der R-Wert stets über 1. Im gleichen Zeitraum gab es aber keinerlei negative Auffälligkeiten bei den Hospitalisierungen, der Belegung von Intensivbetten oder den Todesfällen. Das Bundesamt für Gesundheit räumte an einer Medienkonferenz am 7. April 2021 ein, die Fallzahlen seien nicht so stark gestiegen, wie der R-Wert habe erwarten lassen. Daraus wird klar ersichtlich, dass dieser Indikator höchst fragwürdig ist und zur Entscheidung über weitere Massnahmen nicht geeignet ist. Neuerdings werden Abwasserproben durchgeführt, die viel verlässlichere Werte liefern sollen. Das BAG stellt jedoch nicht darauf ab und vertröstet auf die Zukunft.
Der Bundesrat stützt sich vor allem auch auf die zukünftige Belegung der Intensivbetten ab. Das ist doch nachvollziehbar.
Eingriffe in die Grundrechte der Bürger, allein um Spitäler nicht zu überlasten, sind nur in extremen Notlagen zulässig. Bei einer Epidemie ist der Staat vielmehr verpflichtet, zunächst für mehr Kapazitäten zu sorgen. Er könnte in Anwendung von Artikel 58 Absatz 2 der Bundesverfassung den Sanitätsdienst der Armee aufbieten. Diese Obliegenheit ist umso wichtiger, als der Staat seit den 1980er- und 1990er-Jahren die Spitalbetten im Verhältnis zur Einwohnerzahl um über 50 Prozent reduziert hat. Und dann reduziert er in der Pandemie auch noch die freien Intensivbetten von rund 1600 auf unter 1000. Das ist nicht nachvollziehbar: Der Staat baut die Organisation und die Infrastruktur ab und reagiert dann bei Knappheit mit enormen Einschränkungen der Grundrechte für die gesamte Gesellschaft.
Welche Indikatoren wären besser?
Sinnvoll wäre beispielsweise der Indikator der Übersterblichkeit. Solange keine Übersterblichkeit vorhanden ist, rechtfertigen sich einschneidende Massnahmen wie Betriebsschliessungen kaum. Auch die pandemiebedingten Hospitalisierungen in psychiatrischen Kliniken könnten berücksichtigt werden, ebenso die Arbeitslosenzahl in betroffenen Branchen. Mir ist wichtig: Die Richtwerte müssen schwere Gefährdungen von Leib und Leben erfassen.
Nach einem Jahr Pandemie weiss man mehr darüber, wie ansteckend die Krankheit ist und wer gefährdet ist. Berücksichtigt der Bundesrat diese Erfahrungen?
Meines Erachtens nicht. Der Bundesrat müsste endlich nach Zielgruppen differenzieren. Es hat keinen Sinn, Freizeitanlagen im Freien für Jugendliche zu sperren, da die Gefahren für die Jugendlichen und Dritte sehr überschaubar sind. Ein Blick auf die Massnahmen vom März zeigt eine gewisse Widersprüchlichkeit: Fitnessstudios dürfen unter Einhaltung des Schutzkonzepts öffnen, das sie ja schon vor dem Lockdown hatten. Die Innenbereiche der Restaurants aber bleiben weiterhin geschlossen, obwohl die Gastronomie viel in gute Schutzkonzepte investiert hat. Wer heute auswärts essen will, muss in ein Hotel gehen. Das Personal trägt Masken, die Besucher müssen, wenn sie den Tisch verlassen, ebenfalls Masken tragen. Das war in den Innenräumen eines Restaurants vor dem Lockdown auch so. Wieso liess der Bundesrat die Innenräume der Restaurants nicht früher öffnen? Sie haben die genau gleichen Schutzkonzepte. Das ist nicht nachvollziehbar. Der Bundesrat hat bei der Gastronomie das Grundrecht der Wirtschaftsfreiheit unverhältnismässig und rechtswidrig eingeschränkt.
Der Bundesrat nimmt aber Geld in die Hand, um den Schaden abzugelten.
Der Staat macht es sich zu einfach, wenn er glaubt, er könne die Wirtschaftsfreiheit unverhältnismässig einschränken und diese widerrechtliche Handlung mit Geld kompensieren. Das sieht die Bundesverfassung nicht vor. Zudem wird längst nicht der ganze Schaden kompensiert.
Der Bundesrat könnte im Nachhinein prüfen, ob die Massnahmen erforderlich waren, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Damit wäre klar, ob der Grundsatz der Verhältnismässigkeit eingehalten wurde.
Die Faktenlage muss besser erhärtet werden. Das war bisher nicht der Fall. Zumindest wurden bisher keinerlei Ergebnisse solcher Untersuchungen kommuniziert. Der Staat ist verpflichtet, den Sachverhalt abzuklären, bevor er hoheitlich tätig wird. In Einzelfallverfahren gilt die Untersuchungsmaxime. Bei den direkt anwendbaren Bestimmungen der Covid-Verordnungen müsste das genau gleich gehandhabt werden.
Das Covid-19-Gesetz ist die gesetzliche Grundlage für die vom Bundesrat getroffenen Massnahmen. Müssten die Covid-Verordnungen geändert werden, wenn sich die epidemiologische Lage verbessert?
Dann dürfte nicht ein einziger Buchstabe der Covid-19-Verordnung aufrechterhalten werden. Verordnung samt den Massnahmen müssten aufgehoben werden. Ich bin aber skeptisch. Der Staat schafft einmal getroffene Massnahmen nur widerwillig komplett ab.
Isabelle Häner, 63, ist Partnerin bei Bratschi Rechtsanwälte und Titularprofessorin für Staatsund Verwaltungsrecht an der Universität Zürich