Das ZGB kennt seit dem Jahr 2000 die Möglichkeit des gemeinsamen Sorgerechts für Geschiedene. Voraussetzung: Die Eltern müssen diese Lösung gemeinsam beantragen und das Gericht bewilligt den Antrag. Seit einigen Jahren wird heftig darüber diskutiert, ob das gemeinsame Sorgerecht für die Kinder nach einer Scheidung im Gesetz als Regelfall verankert werden soll (siehe Kasten). Und ob die Gerichte künftig auch ohne Antrag beider Elternteile die gemeinsame Sorge anordnen können, wenn dies im Interesse der Kinder ist.
Am Bodensee dürfte diese Diskussion die Gemüter heftiger bewegen als am Genfersee. Grund: Die Deutschschweizer tun sich schwerer mit dem gemeinsamen Sorgerecht als die Westschweizer, wie die Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS) zeigen. In den ausschliesslich oder mehrheitlich deutschsprachigen Kantonen wurde 2009 für 35 Prozent der von einer Scheidung betroffenen Kinder das gemeinsame Sorgerecht verfügt, 2010 lag die Quote bei 44?Prozent. Auf diesem Stand waren die Kantone Waadt, Neuenburg, Genf und Jura bereits 2006, heute liegt die Quote hier bei 57?Prozent.
Anträge für gemeinsame Sorge selten abgelehnt
Warum ist die Akzeptanz des gemeinsamen Sorgerechts in der Westschweiz grösser? Der Grund liegt bei den Eltern: In der Romandie sind offenbar die Anträge der Eltern auf ein gemeinsames Sorgerecht viel zahlreicher. Eine Umfrage von plädoyer zeigt: Es gibt keinen Hinweis aus der Praxis darauf, dass die Deutschschweizer Gerichte Anträge auf das gemeinsame Sorgerecht häufiger ablehnen würden als Gerichte in der Westschweiz.
Die Waadtländer Anwältin Mary Monnin stellt fest: «Faktisch gewährt der obhutsberechtigte Elternteil dem ehemaligen Partner das gemeinsame Sorgerecht und dem Gericht kommt bloss die Rolle zu, die Vereinbarung zu genehmigen.»
Der unter anderem im zweisprachigen Biel praktizierenden Anwältin Andrea Kaiser sind kaum Fälle bekannt, in denen der Antrag auf das gemeinsame Sorgerecht vom Gericht abgelehnt wurde. Diese Erfahrung bestätigt auch die Zürcher Fachanwältin für Familienrecht Kathrin Thomann.
Alleiniges Sorgerecht als Misstrauensbeweis
Über die Gründe dafür, dass die Eltern in der Romandie häufiger das gemeinsame Sorgerecht wählen, kann nur spekuliert werden. Der Zürcher Anwalt Linus Cantieni hat sich in seiner Disserta-tion mit dem gemeinsamen Sorgerecht befasst. Er vermutet, dass die Westschweizer neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossener sind.
Die Bieler Anwältin Andrea Kaiser tendiert in die gleiche Richtung: «Möglicherweise hat die liberalere Kultur Auswirkungen auf den Umgang mit dem Sorgerecht.» Felix Schöbi, Leiter des Fachbereichs Zivilrecht und Zivilprozessrecht im Bundesamt für Justiz, wartet mit einer ähnlichen Erklärung auf: «Die Westschweizer sind wohl eine Nuance offener, was das gemeinsame Sorgerecht angeht.»
Philippe Meier, Professor an der Universität Lausanne, wird deutlicher: Das alleinige Sorgerecht werde in der Westschweiz «als Misstrauensbeweis gegenüber dem Ex-Partner betrachtet». Deshalb sei es verpönt. Werde das Sorgerecht nur einem Elternteil zugesprochen, läuft dies laut Meier darauf hinaus, «die gemeinsame Verantwortung zu verneinen». Damit werde nicht nur der Beitrag des einen Elternteils in der Vergangenheit in Frage gestellt, sondern insbesondere «angezweifelt, dass dieser seine Rolle auch in Zukunft wahrnehmen kann».
«In der Deutschschweiz geht es öfter um Macht»
Für die Waadtländer Anwältin Catherine Jaccottet Tissot sind Scheidungsverfahren in der Westschweiz keine Machtspiele. Darin sieht sie eine mögliche Erklärung für den Röstigraben in Sachen elterlicher Sorge: «In der Deutschschweiz geht es bei der elterlichen Sorge vielleicht häufiger um Macht.» Die Westschweizer hingegen würden die elterliche Sorge eher mit der Aufteilung der Aufgaben verbinden. Das wiederum sei vermutlich auf das unterschiedliche Rollenbild zurückzuführen: «In der Deutschschweiz herrscht wohl noch ein traditionelleres Familienbild vor, während in der Westschweiz die Kinder eher gemeinsam betreut werden.» Diese gemeinsame Betreuung laufe nach einer Scheidung weiter, so Jaccottet Tissot.
In Fachkreisen wird zudem oft argumentiert, dass das gemeinsame Sorgerecht in einem Zusammenhang mit dem örtlichen Betreuungsangebot für die Kinder stehe.
Betreuungsmodelle: Zahlen fehlen
Das Argument ist jedoch empirisch nicht zu belegen, da es an Zahlenmaterial fehlt. So erfasst das BFS nur die Kinderhorte und -krippen, ohne sie jedoch nach der Zahl der Plätze aufzuschlüsseln. Zudem sind keine Zahlen zu anderen familienergänzenden Betreuungsmodellen erhältlich.
Gemeinsame Sorge pendent
Zurückgehend auf ein Postulat von Nationalrat Reto Wehrli aus dem Jahr 2004 eröffnete der Bundesrat Anfang 2009 die Vernehmlassung zu einer ZGB-Revision. Er schlug darin die gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall vor. Ende 2009 beauftragte der Bundesrat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), die Botschaft auszuarbeiten. Am 12.?Januar 2011 informierte die EJPD-Vorsteherin, dass mit der Revision zugewartet werde, bis auch das Unterhaltsrecht neu aufgegleist sei. Dagegen wehrten sich Mitglieder des Parlaments und verschiedene Interessengruppen. Der Bundesrat krebste daraufhin zurück und empfahl die Motion der nationalrätlichen Kommission für Rechtsfragen vom 8. April 2011 zur Annahme, wonach die «gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall rasch» zu verankern sei.