Seit dem Jahr 2000 werden anteilsmässig immer weniger Straftäter vorzeitig aus dem Strafvollzug entlassen. Das zeigt die Vollzugsstatistik des Bundesamts für Statistik (Tabelle im PDF). Die gesetzliche Grundlage hat sich seither aber nicht geändert. Massgebend ist nach wie vor Artikel 86 Absatz 1 des Strafgesetzbuches: «Hat der Gefangene zwei Drittel seiner Strafe, mindestens aber drei Monate verbüsst, so ist er durch die zuständige Behörde bedingt zu entlassen, wenn es sein Verhalten im Strafvollzug rechtfertigt und nicht anzunehmen ist, er werde weitere Verbrechen oder Vergehen begehen.»
Über die bedingte Entlassung wird im Rahmen einer Gesamtwürdigung des Inhaftierten entschieden. Dabei steht den zuständigen Behörden ein weiter Ermessensspielraum zu. Und den scheinen sie zu nutzen. Nur so ist es zu erklären, dass die Zahl der bedingten Entlassungen in den letzten Jahren nicht nur stark abnahm, sondern in den einzelnen Landesteilen auch sehr unterschiedlich ist. Das zeigt eine Studie der Rechtswissenschafter Thomas Freytag und Aimée Zermatten. Ihre wichtigsten Resultate:
Zwischen 2009 und 2013 wurden in der Deutschschweiz 83 Prozent der Straftäter bedingt entlassen.
In der Westschweiz lag die Entlassungsquote hingegen von 2010 bis 2015 durchschnittlich bei nur gut 62 Prozent (siehe Tabelle im PDF).
Die Schere ging auch vorletztes Jahr weit auseinander: In den Kantonen FR und VD wurden 2015 nur rund die Hälfte der Inhaftierten bedingt entlassen, in ZH und BS dagegen rund drei Viertel (siehe Tabelle im PDF).
Sicherheit höher gewichtet als Wiedereingliederung
Der Strafvollzugsexperte Benjamin Brägger nennt zwei Hauptgründe für den Rückgang der bedingt Entlassenen: «Erstens hat sich das kriminalpolitische Umfeld wegen diverser schwerer Rückfalltaten von Strafgefangenen im Rahmen von Vollzugserleichterungen während der letzten zwanzig Jahre stark gewandelt.» Orchestriert von gewissen Medien und Politikern stehe heute nicht mehr die Wiedereingliederung an erster Stelle, sondern die öffentliche Sicherheit und die Forderung nach einer Vermeidung von Rückfalltaten – Stichwort «Zero-Tolerance-Politik». Deshalb wird laut Brägger auch nur schon bei geringsten Zweifeln über die Rückfallgefahr die bedingte Entlassung in der Regel abgelehnt.
Den zweiten Grund sieht Brägger darin, dass die Vollzugsbehörden immer mehr Kenntnisse über die Rückfallgefahr der Straftäter besitzen würden: «Dieser Zusatzgewinn an Wissen führt in Kombination mit der Zero-Tolerance-Politik und dem medialen und politischen Druck dazu, dass die Entscheidträger weniger bedingte Entlassungen aussprechen.»
Andere Strafrechtsexperten stimmen Brägger zu. Laut Stephan Bernard, Rechtsanwalt in Zürich, führt die «Tendenz zur Sicherheitsgesellschaft» und die «allgemein viel stärkere punitive Stimmung in der Bevölkerung» zu immer weniger bedingten Entlassungen: «Das Gesetz wird immer mehr zum Nachteil der Inhaftierten ausgelegt.» Martin Killias, ehemaliger Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht, stellt zwei konträre Richtungen im Strafrecht fest: «Einerseits werden immer mehr bedingte – oder jedenfalls nicht freiheitsentziehende – Strafen verhängt, andererseits besteht immer mehr Sicherheitsperfektionismus bei schweren Fällen.»
“In der Romandie war man immer schon punitiver”
Bleibt die Frage, warum sich in der Entlassungspraxis ein Röstigraben öffnet. Killias sieht darin nichts Neues: «In der Romandie war man immer schon punitiver als in der deutschen Schweiz – dies ist keine wirklich neue Tendenz.» Hans-Jürg Käser, Polizei- und Militärdirektor des Kantons Bern, bestätigt dies: «Die Westschweizer Kantone haben, bedingt durch ihr Staats- und Strafverständnis, traditionsgemäss eine restriktivere Sicherheitspolitik.»
Brägger stimmt dem zu: «Das ganze Strafjustizwesen ist in der Westschweiz viel hierarchischer und auch viel strenger aufgestellt als in den nordischen Ländern oder der Deutschschweiz.» Brägger weist darauf hin, dass etwa der Kanton Waadt in den letzten 15 Jahren regelmässig vom Bundesgericht gerügt wurde, weil er bedingte Entlassungen auch in Fällen nicht gewährte, in denen dies nach Bundesrecht geboten gewesen wäre.
Laut Studienautorin Aimée Zermatten sind in der Romandie mehr ausländische Gefangene inhaftiert als in der Deutschschweiz: «Diese haben oft weder Arbeit noch Domizil in der Schweiz, weshalb die zukünftige Perspektive und die daran geknüpfte Reintegration ungünstig sind und sie die gesamte Strafe absitzen müssen.»
Zermatten weist auf einen weiteren Unterschied zwischen der Romandie und der Deutschschweiz hin: In allen Kantonen des Strafvollzugskonkordats der lateinischen Schweiz bestehe je eine Gefährlichkeitskommission, welche die bedingten Entlassungen überprüfen: «Oft erstellen sie für die Täter auch negative Stellungnahmen.» Laut Zermatten wäre es begrüssenswert, wenn wie in der Deutschschweiz eine konkordatliche Fachkommission geschaffen würde: «So könnte der Anteil bedingter Entlassungen in den Kantonen der lateinischen Schweiz auf ein relativ ähnliches Niveau gebracht werden.»