Die wenigsten Menschen haben eine Ahnung, was sie wohl am 27. Februar 2015 tun werden. Zwei Hilfsarbeiter aus Apulien jedoch wissen es ganz genau: An jenem Freitag in fünf Jahren werden sie beim Zivilgericht von Bari die Gründe für ihre Klage gegen die staatliche Rentenversicherung INPS vortragen können. So steht es auf ihrer Vorladung für die Parteieneinvernahme. Einen früheren Termin konnte das Gericht nicht anbieten, obwohl die Klage bereits vor über zwei Jahren eingereicht worden war. Bis zum erstinstanzlichen Urteil dürfen dann noch weitere drei, vier Jahre vergehen.
Das Beispiel der beiden Arbeiter ist beileibe kein Einzelfall in Italien. Biblische Wartezeiten kennt die Justiz nicht nur im notorisch rückständigen Süden, sondern auch im wirtschaftlich entwickelten Norditalien: Ein Gericht in der Region Venetien hat in den letzten Monaten in 44 Prozessen die erste Einvernahme auf das Jahr 2017 festgesetzt. Für die Kläger ist es ein kleiner Trost, dass sie laut dem sogenannten «Pinto-Gesetz» aus dem Jahr 2001 angesichts der übermässig langen Verfahrensdauer Anspruch auf eine «angemessene Entschädigung» haben: Weil die Zahl dieser Entschädigungsverfahren exponentiell ansteigt, braucht es auch bei den «Pinto-Verfahren» eine Menge Geduld. Sie dauern im Durchschnitt über zwei Jahre, Tendenz steigend. Und sie haben den Staat schon über neunzig Millionen Euro gekostet.
Italienische Justiz-Qualität hinter jener von Angola
«Wir stehen vor einem unaufhaltsamen Absturz», erklärte der Präsident des Römer Appellationsgerichts, Giorgio Santacroce, im Januar bei der feierlichen Eröffnung des neuen Justizjahrs. Die Zahlen, die Santacroce präsentierte, klingen beinahe unglaublich: Ein ganz normales Zivilverfahren, das in die zweite Instanz geht, wird durchschnittlich nach 1549 Tagen abgeschlossen. Also nach vier Jahren und drei Monaten. Eine Scheidung nimmt in Norditalien im Normalfall 762 Tage, in Mittelitalien 954 Tage und in Süditalien 1172 Tage in Anspruch. Für einen arbeitsrechtlichen Streit sind 1039 Tage einzuplanen, für ein Konkursverfahren zehn Jahre. Bis in einem Strafverfahren letztinstanzlich über Schuld oder Unschuld entschieden ist, dauert es im Durchschnitt fünf bis sechs Jahre. Dies führt zu einem gewaltigen, ständig wachsenden Verfahrensstau: Derzeit sind vor italienischen Gerichten insgesamt 5,6 Millionen Zivilverfahren und 3,2 Millionen Strafprozesse hängig.
Und das in dem Land, wo vor 2000 Jahren die Grundlagen der modernen europäischen Rechtsprechung entwickelt worden waren. Laut der Weltbank ist die Qualität der Justiz in Italien in den letzten Jahren international auf Platz 156 (von 181) abgestürzt: Das «Belpaese» findet sich im Weltbank-Rating mittlerweile hinter Angola, Gabun und Guinea wieder. Dies hat verheerende Folgen: Für die Bürger, weil sie zusehen müssen, wie jedes Jahr zwischen 150 000 und 200 000 Strafprozesse verjähren und zum Teil schwere Delikte ungesühnt bleiben. Für die Wirtschaft, weil die Schwierigkeit, Forderungen einzutreiben, hohe Finanzierungskosten zur Folge hat. Für den Staat, weil er jährlich rund acht Milliarden Euro ausgibt für einen Apparat, der das ganze Land zu lähmen droht.
Viele Bürger erleben das Urteil nicht mehr
Das Forschungsinstitut Eurispes hat errechnet, dass allein die Unternehmen der Lombardei aufgrund der ineffizienten Justiz pro Jahr 454 Millionen Euro an Zusatzkosten zu tragen haben. In der Hauptstadtregion Latium sind es 305 Millionen, auf das ganze Land gesehen 2,3 Milliarden. Die Risiken und Umtriebe, die mit möglichen Klagen vor italienischen Gerichten einhergehen, schrecken auch ausländische Investoren ab: Die entsprechenden Zahlen sind seit Langem rückgängig. Die einzige Behörde, die Grund zur Freude hat, ist der Fiskus: Er «verdient» jedes Jahr zweistellige Millionenbeträge, weil Bürger, die gegen einen Steuerbescheid Einsprache führen, den Gerichtsentscheid nicht mehr erleben. «Eine derart langsame Justiz bedeutet verweigerte Justiz», sagt Vincenzo Carbone, der Präsident des Kassationsgerichts.
Ein Grund für das Chaos ist mangelnde Kontrolle: Bei den Gerichten Italiens herrscht weitgehend Selbstverwaltung. An der Spitze der Gerichte und Staatsanwaltschaften steht der Oberste Rat des Richterstandes (Consiglio Superiore della Magistratura, CSM), der über die Laufbahn von Richtern und über Organisationsfragen entscheidet. Präsidiert wird der CSM vom Staatspräsidenten; von Amtes wegen Mitglied sind ferner der Präsident und der Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts. Die übrigen 24 Mitglieder werden zu zwei Dritteln von allen Richtern und Staatsanwälten und zu einem Drittel vom Parlament aus den Reihen der Universitätsprofessoren der juristischen Fakultäten und der Anwälte mit mehr als 15 Jahren Berufserfahrung gewählt. Damit geniesst die italienische Justiz eine Unabhängigkeit, die weltweit einzigartig ist.
Problematisch ist diese Selbstverwaltung nicht zuletzt im Disziplinarbereich: Auch für die Ahndung von Dienstpflichtverletzungen der Richter und Staatsanwälte ist der CSM zuständig. In der Praxis bedeutet dies: Die Mitglieder des CSM kontrollieren Personen, von denen sie später wiedergewählt werden wollen. Dieser Interessenkonflikt führte unter anderem dazu, dass bisher sämtliche Disziplinarverfahren, die der CSM im Rahmen von Entschädigungsverfahren wegen überlanger Prozessdauer gegen den zuständigen Richter eröffnete, mit Freisprüchen endeten. Auch in Fällen, in welchen gefährliche Mafiabosse wieder auf freien Fuss gesetzt werden mussten, weil ein Magistrat eine Frist verstreichen liess, hatten die fehlbaren Richter kaum mit ernsthaften Konsequenzen durch das Aufsichtsgremium zu rechnen.
Richter müssen WC-Papier selbst kaufen
Allerdings: Der desolate Zustand des Justizapparats ist nur zu einem kleinen Teil der Selbstverwaltung oder mangelnden Arbeitsmoral der Richter und Staatsanwälte zuzuschreiben. Die meisten von ihnen üben ihren Beruf mit hoher Kompetenz und grossem Engagement aus und riskieren dabei, vor allem im Süden, nicht selten ihr Leben. Der Hauptgrund der Ineffizienz liegt im hochkomplexen Prozessrecht. Die Justiz wird gebremst durch ein System von ausgeklügelten Garantien für die Parteien und durch komplizierte Abläufe: So existieren allein für die erste Instanz des Zivilverfahrens 27 Unterverfahren; für jeden noch so marginalen Zwischenentscheid ist eine Gerichtsverhandlung erforderlich. Hinzu kommt, wie in allen italienischen Behörden, ein Wust bürokratischer Auflagen.
Ein weiterer Grund für die Schneckenjustiz ist die chronische Unterfinanzierung: Die Gerichte von Palermo bis Turin leiden zum Teil unter dramatischem Personalmangel, nicht nur in den Staatsanwaltschaften, sondern auch bei den Gerichtsschreibern und in den Kanzleien. Dies führt dazu, dass die Richter in fast allen Gerichten des Landes nur am Vormittag Verhandlungen führen können – es sei denn, der Parteianwalt übernimmt das Führen des Protokolls. Hinzu kommen ausbleibende Investitionen in Informatik, und nicht selten fehlt es an elementarsten Dingen. So häufen sich Berichte über verlotterte Gerichtsgebäude, die nicht mehr den Brandschutzvorschriften entsprechen, und über Magistraten, die ihre privaten Computer mit zur Arbeit nehmen, Druckerpapier selbst bezahlen und sogar das eigene WC-Papier kaufen.
Eine Reform, welche die Justiz auf eine neue organisatorische Basis und auf ein solides finanzielles Fundament stellen würde, wäre seit Jahren überfällig. Doch sowohl die Mitte-Links-Regierung von Romano Prodi und erst recht die Mitte-Rechts-Regierung von Silvio Berlusconi hatten andere Prioritäten. Zwar hat Berlusconi nicht Unrecht, wenn er von einem «Planeten Justiz» spricht, der wie ein Staat im Staat nach eigenen Gesetzen funktioniere. Doch sein Gesetz zur Verkürzung der Prozessdauer, das demnächst verabschiedet werden soll, wird die heutigen Mängel nicht beheben: Es bestimmt einfach, dass laufende Prozesse in der ersten Instanz nach zwei Jahren wegen Fristüberschreitung eingestellt werden müssen. Flankierende Massnahmen zur Effizienzsteigerung sind nicht vorgesehen.
Berlusconi will Justiz unterwerfen
Experten sagen, dass allein schon die Anstellung von 3000 zusätzlichen Gerichtsschreibern und Kanzlisten die Effizienz der Gerichte um über hundert Prozent erhöhen würde. Doch daran hat Berlusconi, der schon in über einem Dutzend Strafprozessen angeklagt war und gegen den weiterhin drei Verfahren wegen Steuerbetrugs, Zeugenbestechung und ungerechtfertigter Bereicherung laufen, kein Interesse. Im Gegenteil: Berlusconi, der sich von den «roten Roben» politisch verfolgt fühlt und sich in seiner Opferrolle gefällt, dürstet nach Rache. Er will die politische Unterwerfung der Justiz, besonders der Staatsanwälte.
Das Gesetz zur Verkürzung der Verfahrensdauer verfolgt vorgeblich ein hehres Ziel – doch das einzige Resultat wird darin bestehen, dass Zehntausende von Prozessen platzen werden, darunter diejenigen gegen den Regierungschef. Eines steht fest: Solange Berlusconi Ministerpräsident bleibt, wird in seinen Wahlreden zwar noch oft von grossen, bürger- und wirtschaftsfreundlichen Reformen die Rede sein. Aber einen echten Neuanfang im zentralen Bereich der Justiz wird es, wenn überhaupt, erst nach dem Abtreten des 73-jährigen Mailänder Milliardärs von der politischen Bühne geben.
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Rom und Mailand — die Eldorados für Anwälte
Für die Bürgerinnen und Bürger und für die Wirtschaft sind die biblischen Verfahrensdauern in Italien ein Desaster – aber ein Berufsstand profitiert: die Anwälte. Statistisch kommen in Italien auf jeden der 6400 Richter 26,4 Anwälte – Europarekord. In Deutschland und Frankreich beispielsweise lautet das Verhältnis 7:1.
In Rom, das etwas über drei Millionen Einwohner zählt, praktizieren knapp 20000 Anwälte; die 1,3 Millionen Mailänder können auf den Rechtsbeistand von 13800 «avvocati» zählen. Das bedeutet: In Mailand ist mehr als ein Prozent der Bevölkerung Anwalt von Beruf. Zum Vergleich: Im Schweizerischen Anwaltsverband (SAV) sind 8500 Anwälte organisiert. Dies bedeutet laut Verbandssprecher Michael Hüppi, dass in der Schweiz maximal 9000 Anwälte praktizieren. Im Kanton Zürich zählt der Anwaltsverband 2600 Mitglieder, im Kanton Genf knapp 1000 und im Kanton Bern 800.
Neben den langen Verfahrensdauern, die dazu führen, dass selbst einfache Fälle eine Kanzlei über Jahre hinweg beschäftigen können, sorgt vor allem der Anwaltszwang dafür, dass den Heerscharen italienischer Anwälte die Mandate nie ausgehen: Sowohl in Straf- als auch in Zivil- und Verwaltungsverfahren ist der Beizug eines im Berufsverband verzeichneten Rechtsbeistands für die Parteien obligatorisch. Die einzige Ausnahme bilden Verfahren vor dem Friedensrichter (Giudice di pace). Die Friedensrichter entscheiden in Händeln mit geringem Streitwert oder zum Beispiel bei Verkehrsdelikten oder Mietstreitereien.
Der Anwaltszwang – das Resultat erfolgreichen politischen Lobbyings des auch im italienischen Parlament gut vertretenen Berufsstands – ist ein weiterer Grund für die überlangen Verfahrensdauern in der Justiz. Fairerweise muss aber festgehalten werden, dass eine Abschaffung des Anwaltszwangs in der Praxis wenig ändern würde: Die Verfahren sind derart kompliziert und unüberschaubar, dass kaum ein Nicht-Jurist es wagen würde, sich ohne professionellen Beistand auf den Marsch durch die Instanzen zu begeben.