Beinahe in ganz Europa können sich mittellose Menschen definitiv von Schulden befreien. In der Schweiz besteht diese Möglichkeit nicht – die Verjährung der Verlustscheine lässt sich immer wieder unterbrechen (plädoyer 5/2018). Das soll sich nun ändern.
Bereits Ende 2013 forderte der damalige SP-Ständerat Claude Hêche in einem Postulat ein Entschuldungsverfahren für Privatpersonen. Anfang Juni hat der Bundesrat nun einen Vorentwurf für ein Sanierungsverfahren für Privatpersonen in die Vernehmlassung geschickt. Bis am 26. September können sich interessierte Kreise dazu äussern.
Das Bundesamt für Justiz führte sieben Gesprächsrunden mit einer 12-köpfigen Expertengruppe durch. Diese setzte sich aus Universitätsprofessoren, Schuldenberatern, Betreibungs- und Konkursbeamten, Vertretern der Inkassobranche und eines Wirtschaftsverbandes sowie einer Richterin zusammen. Die Experten wurden aber lediglich «konsultiert». Der Vorentwurf «drückt nicht die persönliche oder gemeinsame Sicht der Experten aus», betont der Bundesrat. «Wir wurden nur angehört, es wurde rege diskutiert, aber die Sitzungen wurden alles andere als wortgetreu protokolliert», kritisiert Yves de Mestral, der als Betreibungsbeamter an den Gesprächen teilnahm.
Nachlassverfahren soll einfacher werden
Der Bundesrat schlägt zwei neue Instrumente vor. Für Leute, die nicht der Konkursbetreibung unterliegen, weil sie nicht im Handelsregister eingetragen sind, soll ein vereinfachtes Nachlassverfahren möglich werden. Im Vergleich zum ordentlichen Verfahren betreffen die Erleichterungen die Möglichkeit, auf Gläubigerversammlungen, Gerichtsverhandlungen und auf die Sicherstellung der privilegierten Forderungen zu verzichten. Zudem werden Gläubiger, die sich nicht zum vorgeschlagenen Nachlassvertrag äussern, für die Berechnung des Quorums nicht mehr berücksichtigt. Die Bestätigung des Nachlassvertrags durch das Gericht setzt aber wie beim ordentlichen Verfahren voraus, dass eine qualifizierte Mehrheit der Gläubiger dem Vertrag zustimmt. «Eine Erleichterung der Quoren gegenüber dem ordentlichen Nachlassvertrag wäre schwierig zu rechtfertigen», schreibt der Bundesrat.
Das stört Rechtsanwalt Mario Roncoroni, der über 20 Jahre Co-Leiter der Berner Schuldenberatung war. «Das Gericht sollte die Kompetenz erhalten, einen Nachlassvertrag auch dann zu bestätigen, wenn eine Mehrheit der Gläubiger dagegen ist. Vorausgesetzt, die Ablehnung des Vergleichs würde den Gläubigern keine bessere Aussicht auf Befriedigung geben.»
Komplizierte Regeln für einen Schuldenerlass
Mehr Anlass zur Kritik gibt das konkursrechtliche Sanierungsverfahren, das der Bundesrat als zweites neues Instrument vorschlägt. Es ist vorgesehen für «dauernd zahlungsunfähige» Personen, die keine Chance auf einen Nachlassvertrag haben, die aber mit den vorhandenen Mitteln ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Während vier Jahren müssen sie alle pfändbaren Vermögenswerte an die Gläubiger abgeben und sich um ein regelmässiges Einkommen bemühen. Nach diesen vier Jahren verfallen die noch vorhandenen Restschulden. Das gilt auch für offene Steuer- und Krankenkassenforderungen – die häufigsten Schuldenarten von Privaten.
Der Bundesrat sieht Ausnahmen von der Restschuldbefreiung vor, nämlich bei Bussen, Genugtuungsforderungen, familienrechtlichen Unterhaltszahlungen, Rückerstattungsforderungen wegen unrechtmässig bezogenen Leistungen der Sozialversicherungen sowie Rückforderungen der Sozialhilfe. Für den ungedeckten Teil dieser Forderungen wird am Ende des Verfahrens ein Konkursverlustschein ausgestellt, mit dem der Gläubiger den Schuldner jederzeit wieder betreiben kann. Falls der Schuldner zu neuem Vermögen gekommen ist, muss er zahlen.
Das vorgeschlagene Sanierungsverfahren ist kompliziert. Es wird in 15 neuen, sehr umfangreichen Gesetzesartikeln geregelt. Eröffnet wird das Verfahren durch das Konkursgericht – auf Antrag des Schuldners. Danach nimmt das Konkursamt ein Inventar über das Vermögen des Schuldners auf. Nach dem Schuldenruf prüft es die angemeldeten Forderungen und erstellt den Kollokationsplan. Zum Kollokationsplan verfasst das Amt einen Sanierungsplan. Dieser enthält unter anderem die geplanten Bemühungen des Schuldners, wie er ein regelmässiges Einkommen erzielen wird, und die zu erwartende Sanierungsquote. Dabei ist es möglich, dass keine Quote zu erwarten ist.
Der Sanierungsplan kann nicht angefochten werden. Ein Gläubiger kann aber beim Konkursgericht den Abbruch des Sanierungsverfahrens beantragen. Geschieht dies nicht oder lehnt das Gericht einen Abbruch ab, überweist das Konkursamt das Verfahren an das Betreibungsamt. Hier beginnt die eigentliche «Abschöpfungsphase». Das Betreibungsamt zieht die pfändbaren Vermögenswerte ein, verwertet und verteilt sie an die kollozierten Gläubiger. Falls das Betreibungsamt Einkommen pfändet, werden die laufenden Steuern – im Gegensatz zur normalen Lohnpfändung – zum betreibungsrechtlichen Existenzminimum hinzugerechnet und so indirekt von der pfändbaren Quote abgezogen.
Auf Antrag des Betreibungsamts kann das Konkursgericht das Sanierungsverfahren jederzeit abbrechen, etwa dann, wenn die Einkünfte des Schuldners durch dessen Verschulden tiefer ausfallen, als es der Sanierungsplan vorsieht.
Restschuldbefreiung nach vier Jahren
Nach vier Jahren beendet das Konkursgericht das Sanierungsverfahren. Es spricht die Restschuldbefreiung aus, wenn der Schuldner sich nicht «offensichtlich ungenügend» um ein Einkommen bemüht und er auch nicht neue Schulden gemacht hat, die er nicht bezahlen kann.
Nach Abschluss des Verfahrens gilt eine Sperrfrist von 15 Jahren. Erst danach kann der Schuldner wieder ein neues Sanierungsverfahren verlangen. «Die lange Sperrfrist soll dazu dienen, Missbräuche des Sanierungsverfahrens zu verhindern», schreibt der Bundesrat in seinem Bericht.
Das vorgeschlagene Sanierungsverfahren stösst auf Kritik. Das zeigt eine plädoyer-Umfrage bei verschiedenen Experten. Die wichtigsten Kritikpunkte sind:
- Begleitung des Schuldners: Der Bundesrat verzichtet ausdrücklich auf eine gesetzliche Pflicht, dass der Schuldner während des Verfahrens durch ein Amt begleitet und unterstützt wird. «Das ist falsch. Denn die Schuldner haben oft nicht nur finanzielle Probleme, sondern auch gesundheitliche, Suchtprobleme und Probleme am Arbeitsplatz», sagt der Anwalt Mario Roncoroni. Pascal Pfister, Geschäftsleiter von Schuldenberatung Schweiz, dem Dachverband der Schweizer Schuldenberatungsstellen, ergänzt: «Ohne Begleitung und Betreuung werden viele Schuldner das Verfahren nicht durchstehen, das Sanierungsverfahren wird scheitern.» Für diese Begleitung braucht es gemäss dem Betreibungsbeamten Yves de Mestral Fachleute mit einer sozialarbeiterischen Ausbildung. Dieses Know-how fehle gegenwärtig den Betreibungs- und Konkursämtern.
- Schuldenbefreiung: «Dass die Schuldenbefreiung nicht für Sozialhilfegelder gelten soll, ist Unsinn», kritisiert Mario Roncoroni. «Und wenn überdies die Rückerstattung der Sozialversicherung und die Alimentenschulden in die Sanierung nicht miteinbezogen werden, werden viele Schuldner auch nach Abschluss des Verfahrens immer noch überschuldet sein», so Roncoroni.
- Verfahrensdauer: «Die Phase der Abschöpfung ist mit vier Jahren viel zu lang», sagt Max Klemenz, Co-Geschäftsleiter der Schuldenberatung des Kantons Zürich. Die Frist sei auf drei Jahre zu reduzieren. Die «36-Monats-Regel» sei heute Standard in der gemeinnützigen Schuldensanierung. Anders Raoul Egeli von Inkasso Schweiz. Er fordert «im Interesse der Gläubiger» eine Abschöpfungsdauer von fünf bis sechs Jahren.
- Sanierungsquote: Inkassospezialist Egeli kritisiert auch, dass keine Mindestquote vorgesehen ist, die der Schuldner abliefern muss. «Wir befürworten das Sanierungsverfahren ohne fixe Quote nur bei Schuldnern, die Ergänzungsleistungen oder eine Invalidenrente beziehen.»
- Sperrfrist: «Die Frist von 15 Jahren, bis der Schuldner erneut ein Sanierungsverfahren verlangen darf, ist zu lang», sagt Schuldenberater Pascal Pfister. Er fordert, dass die Gerichte in Ausnahmefällen bereits nach 10 Jahren ein neues Verfahren bewilligen dürfen.
- Gesetzesumfang: Der Betreibungsbeamte Yves de Mestral kritisiert das neue Regelwerk als zu umfangreich und schwerfällig: «Die 15 neuen Artikel enthalten bis zu sechs Absätze und fast vierzig Verweise auf andere Gesetze im Konkursrecht. Praxisnähe sieht anders aus.»
Das vorgeschlagene Sanierungsverfahren sieht der Bundesrat auch für Einzelunternehmer vor, die mit ihrem Geschäft finanziellen Schiffbruch erlitten.
Verlustscheine über 20 Milliarden Franken
Das Berner Forschungsbüro Ecoplan erstellte im Auftrag des Bundesamtes für Justiz einen Bericht über den «Umgang mit Verlustscheinen». Laut Bericht besitzen sechs Prozent der Privatpersonen in der Schweiz mindestens einen Verlustschein. Die Zahl der Verlustscheine beläuft sich auf mehrere Millionen. Sie verbriefen Schulden im Umfang von rund 20 Milliarden Franken. Davon werden nur 17 Prozent aller Forderungen jemals bezahlt. Bei 60 Prozent der Verlustscheine erhalten die Gläubiger heute keinen Rappen mehr. Die häufigsten Forderungen betreffen Steuern, Krankenkassenprämien und Bankkredite.