Er ist der erste und bisher einzige lebenslang Verwahrte der Schweiz: Mike A. (55), im Oktober 2010 vom Bezirksgericht Weinfelden TG wegen Mordes an einem Callgirl zu 20 Jahren Haft und anschliessender lebenslänglicher Verwahrung verurteilt. Zurzeit verbüsst er seine Freiheitsstrafe, anschliessend folgt der Vollzug der Verwahrung.
Im Jahr 2020 waren 152 Verurteilte nach Artikel 64 StGB «ordentlich» verwahrt. In dieser Zahl nicht eingeschlossen sind jene ordentlich Verwahrten, die in psychiatrischen Kliniken oder privaten Institutionen untergebracht sind. Wie viele das landesweit sind, ist nicht bekannt.
Im Hamsterrad des Normalvollzugs
Die ordentliche Verwahrung wird anders als die lebenslängliche regelmässig überprüft. Ihre Dauer ist unbestimmt und Entlassungen sind selten (siehe Kasten). Mit ihr soll die Gesellschaft vor gefährlichen Verbrechern geschützt werden. Im Vordergrund steht der «Sicherungsgedanke».
Die Verwahrung stellt nach dem Buchstaben des Gesetzes eine Massnahme und keine Strafe dar. Sie wird erst vollzogen, wenn die Betroffenen ihre Freiheitsstrafe abgesessen haben. Der Uno-Menschenrechtsausschuss fordert deshalb, dass dem «nicht punitiven Charakter» einer Verwahrung Rechnung zu tragen sei – durch andere Haftbedingungen als im Strafvollzug. In Deutschland entwickelte das Bundesverfassungsgericht auf Grundlage eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg das «Abstandsgebot». Verlangt wird ein «Abstand zum Strafvollzug». Der Vollzug einer Verwahrung muss sich in seiner Art deutlich von jenem einer Strafe unterscheiden. Verwahrte brächten im Interesse der Allgemeinheit ein «Sonderopfer»: Ihr Freiheitsentzug basiere nicht auf begangenen Taten – sondern auf einer «mit Unsicherheiten behafteten Gefährlichkeitsprognose», so das Bundesverfassungsgericht. Das Abstandsgebot ist im deutschen Strafgesetzbuch verankert.
In der Schweiz findet sich dieses Prinzip nicht explizit im Gesetz. Das Strafgesetzbuch erlaubt ausdrücklich, die Verwahrung in einer Strafanstalt zu vollziehen. Für die konkrete Ausgestaltung des Vollzugs sind die Kantone zuständig. Weitere Bestimmungen finden sich deshalb auf kantonaler Ebene oder in den Strafvollzugskonkordaten.
Rahel Manetsch-Imholz, Assistentin am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern, arbeitet zurzeit an einer Dissertation zum Thema Verwahrungsvollzug. Den Flickenteppich und die spärlichen Regeln erachtet sie als Problem: «Bei der Verwahrung geht es einerseits um das Schutzbedürfnis der Gesellschaft und andererseits um elementare Grundrechte der Betroffenen. Es ist problematisch, dass sich für den Vollzug einer derart heiklen Massnahme nur wenig einheitliche Vorgaben finden», sagt sie.
Resozialisierung spielt kaum eine Rolle
Folge der rudimentären Regelung des Verwahrungsvollzugs: In der Praxis gibt es kaum Unterschiede zum normalen Strafvollzug. «Verwahrte werden aufgrund von Sicherheitsbedenken fast ausnahmslos in einer geschlossenen Anstalt untergebracht, wo sie unter denselben Bedingungen leben wie Gefangene, die zeitlich begrenzte Freiheitsstrafen verbüssen», schreibt Irene Marti in ihrer Broschüre zum Forschungsprojekt «Leben in der Verwahrung». Marti, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin am kriminologischen Institut der Universität Bern, führte für ihr Projekt 87 Interviews mit Verwahrten, Vollzugsmitarbeitern, Anstaltsleitern und Vertretern kantonaler Vollzugsbehörden.
Gemäss Marti ist es heikel, dass sich die meisten Verwahrten im normalen Strafvollzug befinden. Dieser sei primär auf jüngere Leute und solche, die wieder entlassen werden, ausgerichtet. «Viele Verwahrte sind aber schon älter und schon mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte im Vollzug.» Ihr Alltag sei von «Zwang, Fremdbestimmung, Routine und Monotonie» geprägt. Das führe vor allem zu «Abstumpfung».
Drastisch formuliert es der Zürcher Rechtsanwalt Matthias Brunner, der als Strafverteidiger lange auch Verwahrte vertrat. «Eigentlich müssten Verwahrte im Vollzug so schonend und respektvoll wie möglich behandelt werden, schliesslich haben sie ihre Strafe abgesessen», so Brunner. Doch die Realität sei für die Verwahrten in der Regel der normale Gefängnisalltag «mit all seinen Härten». Zusätzlich belastend sei das Vorgaukeln einer Entlassungs- und Freiheitsperspektive. So würden falsche Hoffnungen geweckt und das Gefühl vieler Verwahrter verstärkt, sich in einer zermürbenden Mühle zu befinden. «Insofern sind Verwahrte schlechtergestellt als Häftlinge mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe.»
Auch wenn bei Verwahrten der Sicherungsgedanke im Vordergrund steht: Grundsätzlich sollte immer auch die Entlassungsperspektive berücksichtigt werden. Laut Manetsch-Imholz spielt der Resozialisierungsgedanke im heutigen Verwahrungsregime jedoch kaum eine Rolle. Eine psychiatrische Hilfe etwa sei nur dann vorgesehen, wenn sie aus medizinischen Gründen notwendig ist. «Eine stärkere Therapieorientierung wäre wichtig», sagt sie. «Es müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, dass die Verwahrten an ihrer Persönlichkeit arbeiten können. Wie sollen sich die Betroffenen sonst überhaupt positiv verändern und so auf Vollzugslockerungen hinwirken können?» Anwalt Brunner hat das Gefühl, dass es bei den heutigen rudimentären psychiatrischen Betreuungsangeboten einzig um Suizidprävention geht. «Es soll der Anschein eines humanitären Vollzugs erweckt werden», sagt er.
Verwahrter beklagt “Tod auf Raten”
Romano Schefer (61) bestätigt diese Schilderungen. Er befindet sich im Verwahrungsvollzug im Gefängnis Thorberg BE. «Ich lebe in einer normalen Abteilung mit rund 50 Strafgefangenen. Die Bedingungen sind für mich dieselben wie für alle anderen Häftlinge und wie beim Abbüssen meiner Freiheitsstrafe.» Schon mehrmals habe er einen Antrag auf eine Therapie gestellt, bislang sei das stets abgelehnt worden. Dass seine Verwahrung regelmässig überprüft wird, ist für Schefer kein Grund zur Hoffnung: «Ich weiss, wie es läuft: Die Behördenvertreter werden mit einem vorbereiteten Zettel vorbeikommen, ich kann dazu etwas sagen, das aber niemanden interessiert.» Sein Grundgefühl sei jenes eines «Todes auf Raten». Dieses Gefühl könnte sich mit grosszügigeren Bedingungen ändern, meint er. «Wenn ich nur schon einen Hund oder eine Katze halten könnte, würde ich meine Situation völlig anders erleben.»
Eine bessere Berücksichtigung individueller Bedürfnisse ist ein Wunsch, den Irene Marti bei vielen Verwahrten ausgemacht hat. «Sie wollen stärker als Menschen und weniger als Gefangene wahrgenommen werden», sagt sie. Manche Aufseher versuchten, diesem Bedürfnis im Vollzugsalltag nachzukommen: «Sie drücken mal ein Auge zu, übertragen den Verwahrten mehr Verantwortung als anderen Gefangenen», sagt sie.
Die meisten Verwahrten seien «gute Gefangene», die zwar in Freiheit, nicht aber im Vollzugsalltag gefährlich seien, sagt Benjamin Brägger. Er ist Sekretär des Strafvollzugskonkordats Nordwest- und Innerschweiz und seit über 30 Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Freiheitsentzug tätig. Er glaubt, dass man Verwahrten im normalen Gefängnisalltag nur bis zu einem gewissen Grad Erleichterungen zugestehen kann. «Will man ihnen wirklich mehr Eigenverantwortung zubilligen, muss man sie in spezifischen Abteilungen unterbringen.»
Gefängnisse nur für Verwahrte gibt es in der Schweiz aber nicht. Zum Teil bestehen in einzelnen Strafanstalten Sonderabteilungen: 2019 startete in Solothurn ein Pilotprojekt. Eine Wohngruppe, in der sechs Verwahrte getrennt von den übrigen Gefangenen mit etwas mehr Selbstbestimmung leben. Die Arbeitspflicht bleibt bestehen, die Lockerungen betreffen Details wie etwa die Frage, ob jemand an einem Sportprogramm teilnehmen will oder nicht, erklärte Direktor Charles Jakober anlässlich der Lancierung des Pilots gegenüber den Medien.
Das Projekt hat sich laut Brägger bewährt. Deshalb sei der Versuch ins Definitive überführt worden. Der politische Wille für neue Wege im Umgang mit Verwahrten sei da. «Die Dynamik ist in diesem Bereich eine andere als vor 15 Jahren», glaubt er. Benjamin Brägger geht davon aus, dass es in der Deutschschweiz «mittelfristig» vier bis sechs solche spezifischen Abteilungen für Verwahrte mit jeweils 10 bis 15 Plätzen geben wird. Ob Mike A., der erste lebenslang Verwahrte der Schweiz, einen davon belegen wird, ist offen.
Verwahrung ist nicht gleich Verwahrung
Die Dauer der ordentlichen Verwahrung nach Artikel 64 StGB ist unbegrenzt. Zwar findet jährlich eine Überprüfung statt, doch werden ordentlich Verwahrte in der Schweiz nur sehr selten entlassen. Auszugehen ist gemäss Strafvollzugsexperte Benjamin Brägger von bis zu drei Personen pro Jahr.
Die lebenslängliche Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1bis StGB ist die gesetzliche Umsetzung der 2004 angenommenen Verwahrungsinitiative. Ein lebenslänglich Verwahrter darf nur entlassen werden, wenn «neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass der Täter so behandelt werden kann, dass er für die Öffentlichkeit keine Gefahr mehr darstellt».
Bei der «kleinen Verwahrung» nach Artikel 59 StGB kann ein Gericht eine stationäre Behandlung anordnen, wenn ein Täter «schwer gestört» ist und die Tat damit in Zusammenhang steht. Die Behandlung kann in einer psychiatrischen Einrichtung oder einer «Massnahmevollzugseinrichtung», wozu auch normale Haftanstalten gehören, vollzogen werden. Die stationäre Behandlung dauert in der Regel maximal fünf Jahre, kann vom Gericht auf Antrag der Vollzugsbehörde aber um jeweils fünf Jahre verlängert werden. 2020 befanden sich 686 Verurteilte in einer stationären Behandlung wegen einer psychischen Störung. Zwischen 300 und 350 weitere dürften es laut Brägger in privaten Institutionen und Kliniken sein.
Nicht alle begingen schwerste Delikte
Verwahrte sind psychisch gestörte Kapitalverbrecher, die in Freiheit ein Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft darstellen – so die gängige Annahme. Doch der Zürcher Strafverteidiger Matthias Brunner widerspricht: Er hat mehrere Verwahrte vertreten und spricht von «Fehlvorstellungen in Bevölkerung und Politik». Nicht alle Verwahrten hätten besonders schwere Delikte begangen oder seien gemeingefährlich.
Es fehlen aktuelle Statistiken, die aufschlüsseln, welche Delikte die insgesamt 152 in Strafanstalten ordentlich Verwahrten in der Schweiz begangen haben. Gemäss Artikel 64 StGB setzt die Verwahrung eine sogenannte Anlasstat voraus. Das Gesetz nennt zwar ausdrücklich schwerste Delikte wie Mord, vorsätzliche Tötung oder Vergewaltigung. Doch gibt es auch eine Auffangklausel, gemäss welcher alle Straftaten in Frage kommen, die mit einer Höchststrafe von fünf oder mehr Jahren bedroht sind. «Es kommen also fast alle Verbrechen als Anlassdelikte in Betracht», sagt Rahel Manetsch-Imholz vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern. Sie stellt weiter klar: «Grundsätzlich reicht auch der Versuch einer Straftat für eine Verwahrung.» Zur Anlasstat hinzukommen muss für eine Verwahrung, dass der Täter die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer anderen Person schwer beeinträchtigte oder dies zumindest beabsichtigte.