Rund zweihundert Anwältinnen und Anwälte aus der ganzen Schweiz trafen sich am 4. Juni 2010 in Lugano zum 109. Schweizerischen Anwaltstag
Brenno Brunoni, Präsident des Schweizerischen Anwaltsverbands, begrüsste die Teilnehmenden im Grand Hotel Eden und kündigte das Referat zur neuen Zivilprozessordnung (ZPO) als Thema an, «das uns bald ziemlich viel Arbeit bereiten wird». Der Referent Dominik Gasser von Bratschi Wiederkehr & Buob war an der Ausarbeitung des neuen Gesetzes stark beteiligt und kann als «Götti» der neuen ZPO bezeichnet werden.
In seinem Vortrag versuchte er den Anwesenden die instinktive Ablehnung der vierhundert neuen Gesetzesartikel zu nehmen. Mit hochgekrempelten Hemdsärmeln vermittelte er auf anschauliche Weise die wichtigsten Neuerungen und gab praktische Tipps. Dabei hob er unter dem Motto «Umsteigen bitte!» das Übergangsrecht im vierten Teil der neuen ZPO hervor: «Wenn wir in einem hängigen Verfahren nach dem 1. Januar 2011 zu einer neuen Instanz gelangen, dann - und nur dann - müssen wir auf das neue Recht umsteigen.» Gasser versprach, dass es am Stichtag kein Erdbeben in der Prozesslandschaft geben werde: «Ein einheitliches Recht bedeutet nicht gleichzeitig eine einheitliche Praxis. Die Kantone werden sich noch einbringen können.» Bei Streitpunkten werde schliesslich das Bundesgericht über die konkrete Auslegung entscheiden müssen.
«Kurzfristig bedeutet die neue ZPO für uns Anwälte Zusatzstress, Unsicherheit und eine riesige Materiallawine», fasste Gasser zu sammen. «Langfristig wird sich der Dschungel aber lichten und wir werden alle dieselbe prozessrechtliche Sprache sprechen - wenn auch in unterschiedlichen Dialekten.»
Nach dem Referat zur ZPO folgten die Delegiertenversammlung und schliesslich ein gemeinsames Nachtessen.
Frage an Teilnehmer der Veranstaltung
Wo liegen die grössten Heraus forderungen der neuen ZPO?
«Wir Glarner haben zum Glück viele bekannte Elemente in der neuen ZPO gefunden. Allerdings hatten wir bis anhin das völlige Noven-Recht bei der nächsthöheren Instanz - das fällt jetzt weg.» Hansjürg Rhyner, Glarus
«Eine der Herausforderungen für uns im Kanton Schwyz wird das Unmittelbarkeitsprinzip sein. So wird es mehr Verhandlungen geben als bisher. Einzelne Gerichte werden deswegen absehbar an ihre Kapazitätsgrenzen stossen und neue Stellen schaffen müssen.» Richard Kälin, Freienbach SZ
«Mit der Vereinheitlichung entfällt der Heimvorteil, den die einheimischen Anwälte in ihrem Kanton lange hatten, und alle werden wieder zu Anfängern. Es besteht jetzt wieder Chancengleichheit - Chancengleichheit für die Besten.» J. Alexander Baumann, Kreuzlingen TG
«Die neue ZPO hat ja eigentlich das Ziel, die Prozesse zu vereinfachen. Ich glaube aber, dass die Prozesse in Zukunft eher länger dauern werden. Zum Beispiel durch das obligatorische Schlichtungsverfahren, welches wir heute im Kanton Tessin so nicht kennen.» Claudio Cortese, Lugano
«Die Entwicklung einer einheitlichen Praxis gehört sicher zu den grössten Herausforderungen der neuen ZPO. Ich erwarte, dass es etwa eine halbe Juristengeneration dauern wird, bis die verschiedenen kantonalen Dialekte verschwunden sind.» Christoph A. Egli, Heerbrugg
«Ich hab den Eindruck, dass sich mit der neuen ZPO nicht viel ändern wird. Die Sprache wird weiterhin ein Hindernis für Anwälte aus anderen Sprachregionen bleiben. Und das neue Gesetz ist so offen formuliert, dass sich die Prozesse in den einzelnen Kantonen kaum verändern werden.» Cosette Odiet, Porrentruy JU
«Das Einpendeln zwischen der alten und der neuen Ordnung wird Jahre dauern. Wir müssen uns mit dem neuen Gesetz anfreunden, und gleichzeitig dürfen wir die alte kantonale Ordnung nicht aus den Augen verlieren.» Brenno Brunoni, Lugano
«Die grösste Heraus forderung liegt bei den kantonalen Gerichten: Sie müssen eine einheitliche Anwendung der neuen ZPO sicherstellen.» Ralph Sigg, Hergiswil NW
«Problematisch scheint mir die Regelung der Kaution. Mit der neuen ZPO muss sie vom Kläger bezahlt werden. Wenn er gewinnt, muss er das Geld erst noch selbst bei der unterlegenen Partei einholen. Die Folgen dieses Systems - nämlich dass sich jemand, der schlecht bei Kasse ist, einen Prozess gar nicht mehr leisten kann - sind EMRK-widrig.» Theodor Bühler, Winterthur
«Die grösste Schwierigkeit ist, dass wir die Rechtsschriften für die Rechtsmittel in noch kürzerer Frist eingeben müssen. Gerade beim summarischen Verfahren kann das ein Problem werden.» Claudia Meier-Stehlik, Zürich
«Eine einschneidende Änderung ist, dass es in handelsrechtlichen Streitigkeiten nur noch eine Instanz gibt. Im Kanton Zürich hatten wirbis anhin die Möglichkeit, ans Kassationsgericht zu gelangen.» Ursina Schiffmann, Zürich
«Im Tessin wird es einige Änderungen geben. Eine wichtige Rolle werden die verschiedenen Rechtsmittel und der obligatorische Schlichtungsversuch spielen. Auch der mündliche Vortrag vor dem Gericht ist für uns Tessiner neu. Ob das Vorteile oder Nachteile sind, wird sich zeigen.» Milena Billia, Locarno