plädoyer: Aktiengesellschaften sind an sich demokratisch organisiert: Jede Aktie hat eine Stimme. Doch die Stimmrechtsaktien, die mehr Stimmkraft haben, weichen das Prinzip auf. Müsste man sie konsequenterweise nicht verbieten?
Peter Forstmoser: Die Aktionärsdemokratie ist eine Kapitaldemokratie. Deshalb wäre es konsequent zu sagen, dass gleich viel Kapitaleinsatz zu gleich vielen Stimmen führen soll. Das spricht gegen Stimmrechtsaktien. Andererseits ist das Schweizer Aktienrecht - es ist dies eine grosse Stärke - flexibel strukturiert. Meines Erachtens sollte es daher die Möglichkeit von Stimmrechtsaktien beibehalten, vor allem auch im Interesse der vielen kleineren, personenbezogenen Gesellschaften.
Daniel Häusermann: Ein Verbot von Stimmrechtsaktien fände ich schädlich. Stimmrechtsaktien werden heute relativ selten genutzt: Im Jahr 2010 hatten noch 33 Publikumsgesellschaften Stimmrechtsaktien. Die Idee eines Verbotes ist ein in die Jahre gekommenes Dogma aus den USA. Heute erleben Stimmrechtsaktien dort eine Renaissance. Zu traditionellen Unternehmen mit Stimmrechtsaktien wie Ford und der New York Times kommen neu Google und Facebook - Unternehmen also, in denen ein starker Gründer wichtig ist für den Erfolg.
plädoyer: Auch das Depotstimmrecht weicht die Aktionärsdemokratie auf. Faktisch beherrschen die Grossbanken die grossen Publikumsgesellschaften. Besteht da nicht Handlungsbedarf?
Forstmoser: Es trifft nicht zu, dass die Grossbanken faktisch regieren. Depotstimmen spielen heute praktisch keine Rolle mehr. Mich stört es deshalb nicht, dass man das Depotstimmrecht verbieten wird. Es ist dies aber eine weitere Einschränkung des Spielraums für die aktienrechtliche Gestaltungsfreiheit.
Häusermann: Auffällig ist, wie präsent diese Depotstimmen in der öffentlichen Diskussion sind, obschon sie kaum eine Rolle spielen. Das Depotstimmrecht evoziert offenbar das Bild, dass die Grossbanken aus einem finsteren Tresorraum heraus mit ihren Depotstimmen - und mit der Komplizenschaft der Manager - unsere Wirtschaft beherrschen. Das Depotstimmrecht hat dem Ruf des Aktienrechts geschadet. Aus politischen Gründen ist es deshalb angezeigt, es zu verbieten.
Forstmoser: Ich sehe ein viel grösseres Problem auf uns zukommen: die Macht der Proxy Advisors, also Stimmrechtsberater wie etwa Ethos oder ISS Risk Matrix.
plädoyer: Wo liegt denn das Problem? Stimmrechtsberater haben ja kein Stimmrecht - ausser sie sind auch Aktionäre.
Forstmoser: Künftig sollen institutionelle Anleger stimmen müssen. Doch sie können sich ja nicht bei all ihren 80 oder 100 Investitionen eine eigene Meinung bilden. Sie werden also ihre Stimmen an Stimmrechtsberater übergeben oder deren Empfehlungen ungeprüft übernehmen. Stimmrechtsberater könnten künftig einen enormen Einfluss auf Publikumsgesellschaften haben - und doch sind sie politisch kein Thema.
Häusermann: Auch Stimmrechtsberater müssen als gewillkürte Stimmrechtsvertreter das Auftrags- und Stellvertretungsrecht beachten. Sie können also nicht machen, was sie wollen. Ich würde mich nicht schon jetzt für eine Regulierung aussprechen, bevor negative Auswirkungen bekannt sind.
Forstmoser: Auch ich bin gegen eine gesetzliche Regelung. Zuerst sollten wir den Weg der Selbstregulierung gehen. Minimale Regeln braucht es aber. Zum Beispiel beim Auftragsrecht: Der Beauftragte muss laut Gesetz Weisungen des Auftraggebers befolgen. Doch Ethos weigert sich, das Stimmrecht als Vertreter auszuüben, wenn nicht ihren Empfehlungen gefolgt wird. Damit ist der vertretene Aktionär schlechtergestellt als beim viel kritisierten Depotstimmrecht, bei dem eine strenge Weisungsbefolgungspflicht besteht.
Häusermann: Wenn viele Aktionäre mit dem Vorgehen von Ethos nicht einverstanden sind, werden andere Unternehmen den Service anbieten, den Ethos nicht bietet.
Forstmoser: Heute spielt dieser Markt nicht, es gibt in der Schweiz eigentlich nur Ethos als wichtigen Player, daneben zwei oder drei kleinere Institutionen. Für die meisten Pensionskassen ist das Abstimmen eine lästige Pflicht. Sie müssen aber belegen können, dass sie es sorgfältig und kostengünstig gemacht haben. Deshalb werden sie nicht zu einem Newcomer gehen, sondern zu einem etablierten Unternehmen.
Häusermann: Man kann Pensionskassen zur Stimmabgabe zwingen, wie es die Initiative Minder will. Aber man kann niemanden dazu zwingen, sich vor der Stimmabgabe zu informieren. Als Alternative zu Stimmrechtsberatern gibt es den unabhängigen Stimmrechtsvertreter, der an Weisungen gebunden ist.
plädoyer: Die aktuelle politische Diskussion geht in die Richtung, dass das Organstimmrecht abgeschafft wird. Organe der Gesellschaft sollen also künftig nicht mehr als institutionelle Vertreter agieren können. Ein Schritt in die richtige Richtung?
Häusermann: Niemand ist verpflichtet, dem Organvertreter Vollmacht zu erteilen. Es gibt daneben immer den unabhängigen Stimmrechtsvertreter. Deshalb ist für mich das Verbot des Organstimmrechts eine unnötige Einschränkung.
Forstmoser: Auch ich bedaure, dass es abgeschafft wird - in meiner Funktion als Verwaltungsratspräsident einer Publikumsgesellschaft betrachtete ich es jeweils als Vertrauensbeweis, wenn Aktionäre mir ihre Vollmachten schickten. Dieses Verbot ist symptomatisch für die allgemeine Tendenz: Überall spricht man von der Stärkung der Aktionärsrechte - und führt dann zwingendes Recht ein, womit man die Aktionäre bevormundet und die demokratische Selbstbestimmung schwächt. Das ist eine verfehlte Entwicklung.
plädoyer: Diese Entwicklung ist aber eine Folge von Exzessen der Vergangenheit.
Forstmoser: Ja, es geht um eine Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung. Die Frage ist aber: Ist das Aktienrecht der richtige Ort dafür? Die Aktionäre sollten ihre Angelegenheiten selber regeln können. Einschränkungen sind dann angebracht, wenn man Dritte schützen muss wie etwa bei den Bestimmungen zum Kapitalschutz sowie zum Minderheitenschutz. Aber es gibt keinen Grund, Aktionäre mit zwingendem Recht vor sich selbst zu schützen.
plädoyer: Aktionäre investieren in eine Gesellschaft und nehmen ein erhebliches Risiko auf sich. Ganz im Gegensatz zu Managern, die nur gewinnen. Doch die Aktionäre wissen weit weniger über ihre Gesellschaft als die Manager. Wie lässt sich dieses Informationsgefälle korrigieren?
Forstmoser: Es ist nicht unbedingt so, dass Manager ein kleineres Risiko haben, denn viele Entschädigungskonzepte sehen vor, dass Manager einen guten Teil ihres Einkommens in der Form von gesperrten Aktien in der Gesellschaft belassen müssen. Das finde ich richtig, und es wird so die Position des Managers der eines selbständigen Unternehmers angenähert. Zudem: Manager können nicht von einem Tag auf den anderen die Stelle wechseln, ein Aktionär kann aber seine Aktien verkaufen.
plädoyer: Trotzdem, Manager sind besser informiert als die Aktionäre.
Forstmoser: Das Problem liegt darin, dass man dem Aktionär wegen des Geheimhaltungsinteresses der Gesellschaft und der fehlenden Verschwiegenheitspflicht der Aktionäre nicht beliebig viele Informationen geben kann. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurde aber die Information enorm verbessert. Vor dreissig Jahren gab es Erfolgsrechnungen von kotierten Gesellschaften, die aus drei Zeilen bestanden. Heute steht in den Geschäftsberichten einer Publikumsgesellschaft viel mehr drin, als ein gewöhnlicher Aktionär bewältigen kann.
Häusermann: Das Informationsgefälle zwischen Aktionär und Management ist doch gerade der grosse Vorteil von Publikumsgesellschaften. Denn diese gibt es, weil viele Leute und Institutionen Geld investieren wollen, ohne sich mit jedem Detail einer Unternehmung auseinanderzusetzen. Der Börsenkurs einer Gesellschaft enthält sehr viele Informationen über die Zukunftsaussichten, die finanzielle Lage, die Corporate Governance. Weil Aktien frei handelbar sind, reagieren die Preise sehr schnell auf veränderte Informationslagen. Deshalb müssen nur wenige Marktteilnehmer informiert sein, Geschäftsberichte analysieren und auf Ad-hoc-Meldungen reagieren, damit der Markt diese Informationen in den Preis einbaut.
plädoyer: Herr Forstmoser, Sie haben sich in letzter Zeit mehrmals stark gemacht für das Einrichten von Aktionärsausschüssen - diese sollen doch den Informationsinteressen der Aktionäre auch entgegenkommen?
Forstmoser: Ja, der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist: An der Generalversammlung wird die Fiktion gepflegt, dass die Aktionäre ihre Voten abgeben und dann aufgrund der flammenden Reden wie an einer Landsgemeinde entscheiden. Praktisch halten aber diejenigen, die an der GV selbst ihre Meinung bilden, vielleicht zwei Prozent der Stimmen. Dem könnte man begegnen mit der Einführung einer Art Demokratie durch Ausschüsse, analog zur Delegiertenversammlung bei Genossenschaften.
plädoyer: Diese Ausschüsse ständen also als Vertreter der Aktionäre zwischen Aktionären und Verwaltungsrat?
Forstmoser: Genau. Man könnte deren Mitglieder auch besser informieren, denn man könnte ihnen eine Schweigepflicht auferlegen. Zudem wäre es möglich, differenzierte Lösungen zu entwickeln, beispielsweise in der Salärfrage: Die Generalversammlung kann nur einen Vergütungsbericht - oder nach künftigem Recht eine Gesamtsumme für die Saläre des Verwaltungsrates und allenfalls auch der Geschäftsleitung - annehmen oder ablehnen. Weshalb die Generalversammlung negativ entscheidet, weiss man nicht - vielleicht sind die Aktionäre der Meinung, die Saläre seien allgemein zu hoch. Vielleicht lehnen sie aber auch nur das Verhältnis der fixen zu den variablen Lohnbestandteilen ab. Ein Ausschuss könnte differenziertere Lösungen finden.
Häusermann: Ich glaube nicht, dass viele Gesellschaften das Instrument nutzen würden. Zudem lässt sich abschätzen, wer für den Ausschuss kandidieren würde: Stimmrechtsberater, Politiker, Kleinaktionäre, die ihre Meinung für wichtig halten. Ich sehe die Vorteile eines Aktionärsausschusses gegenüber einem Verwaltungsrat, der sich in Ausschüsse aufteilt, nicht. Aber selbstverständlich sollen die Gesellschaften, die es wollen, einen Aktionärsausschuss einführen dürfen.
plädoyer: Würde man damit nicht eine zweite, gegenüber anderen privilegierte Klasse von Aktionären schaffen?
Forstmoser: Das stimmt, aber jeder Aktionär könnte kandidieren. Es gibt auch noch einen weiteren Grund für Aktionärsausschüsse: Ich hätte als Verwaltungsratspräsident oft gerne einen Gesprächspartner auf Aktionärsebene gehabt. Ohne eine Regelung stellen sich aber bei solchen Kontakten delikate Probleme der Gleichbehandlung.
Häusermann: In Frankreich gibt es das Modell, das Sie ansprechen: Die Comités consultatifs des actionnaires. Das sind Gruppen von zehn bis zwanzig Kleinaktionären, die dem Management oder dem Verwaltungsrat ein Feedback geben. Solche Fokusgruppen wären nach Schweizer Aktienrecht heute bereits zulässig. Jede Publikumsgesellschaft könnte mit einem Aufruf an die Aktionäre solche Gruppen bilden. Soweit ich weiss, hat das in der Schweiz aber noch nie eine Gesellschaft gemacht - vielleicht, weil niemand auf die Idee gekommen ist oder weil man ein Feedback der Kleinaktionäre nicht für nötig hält.
plädoyer: Wieweit dienen Aktionärsausschüsse dazu, unbeliebten Kritikern den Mund zu stopfen?
Häusermann: Ein kritischer Aktionär kann ja wählen, ob er mitmachen will. Solange man in einem Ausschuss keine hohen Vergütungen ausschüttet, besteht auch nicht die Gefahr, dass eine Gesellschaft ihre Kritiker zum Schweigen korrumpiert. Wichtiger ist mir aber, dass man den Gesellschaften Raum lässt zum Experimentieren mit Governance-Strukturen. Dieser Raum ist heute sehr eng.
Forstmoser: Wenn man Gesellschaften bei ihrer Organisation mehr Freiheit lässt, stellt sich immer die Frage, ob Drittinteressen verletzt werden. Im Fall der Aktionärsausschüsse kann man das sicher nicht sagen. Man sollte daher den Versuch wagen, und dann wird man sehen, ob dieses Instrument genutzt wird.
plädoyer: Stärkt die elektronische Teilnahme an der Generalversammlung die Aktionärsdemokratie?
Häusermann: Ja, das ist gut so. Es ist auch nicht mehr zeitgemäss, dass eine Generalversammlung unmittelbar sein soll.
Forstmoser: Es ist richtig, dass man die Möglichkeit einer elektronischen Teilnahme einführt. Man darf aber nicht enttäuscht sein, wenn es eine Weile dauert, bis sie wirklich benutzt wird. Wichtig ist überdies, dass wir auch über andere Möglichkeiten des Internets nachdenken, zum Beispiel für die Meinungsbildung und den Informationsaustausch vor der Generalversammlung - denn an der Generalversammlung sind bei Publikumsgesellschaften die Meinungen gemacht.
Häusermann: Wir müssen rechtliche Hindernisse für diese Neuerung abschaffen. Die Nutzung des Internets ist der Weg der Zukunft. Auch weiterhin wird nur ein Teil der Aktionäre an der Stimmabgabe interessiert sein. Aber es könnte eventuell viel Geld gespart werden, wenn man die Kommunikation mit anderen Aktionären, dem Management oder dem Verwaltungsrat und auch die gewillkürte Stimmrechtsvertretung auf eine gemeinsame, allenfalls im Auftrag der Gesellschaft betriebene, elektronische Plattform bringen könnte. Da könnte ich als Aktionär die Meinungen anderer Aktionäre sehen, könnte andere Aktionäre oder den Stimmrechtsvertreter zum Stimmen bevollmächtigen. Doch dafür braucht es rechtliche Reformen. Ein Hindernis ist die börsenrechtliche Meldepflicht organisierter Gruppen.
plädoyer: Auch eine briefliche Abstimmung verstösst gegen das Unmittelbarkeitsprinzip. Sollte man die schriftliche Stimmabgabe wie bei politischen Entscheiden nicht auch für Aktiengesellschaften einführen?
Häusermann: Das Unmittelbarkeitsprinzip hat sich überlebt. Ich würde es den Gesellschaften überlassen, sich dafür oder dagegen zu entscheiden.
Forstmoser: Die Zulassung der brieflichen Stimmabgabe ist überfällig. Zu ihrer Umsetzung bräuchte es allerdings vielleicht noch einige gesetzliche Regeln.
Daniel Häusermann, 31, Dr. iur., Rechtsanwalt, LL.M., ist Habilitand an der Universität St. Gallen mit Schwerpunkt Aktienrecht. Er forschte bis vor kurzem an der University of Virginia School of Law und an der Harvard Law School zur Rechtspolitik im Aktienrecht.
Peter Forstmoser, 69, Prof. Dr. iur., Rechtsanwalt, LL.M., war bis 2008 Professor für Privat-, Handels- und Kapitalmarktrecht an der Universität Zürich. Zudem war und ist er Mitglied diverser Verwaltungsräte, u.a. war er von 2000 bis 2009 Verwaltungsratspräsident der Swiss Re.