Kürzlich ist im Kanton Basel-Stadt die Frage aufgetaucht, ob das Migrationsamt den früheren rechtswidrigen Aufenthalt von ausländischen Personen, die eine Härtefallbewilligung gemäss Artikel 30 Absatz 1 litera b des Ausländergesetzes erhalten, bei den Strafverfolgungsbehörden anzeigen darf. Die Behörden berufen sich darauf, beim Straftatbestand des rechtswidrigen Aufenthalts nach Artikel 115 Absatz 1 litera b des Ausländergesetzes handle es sich um ein Offizialdelikt. Das Migrationsamt als zuständige Strafverfolgungsbehörde unterstehe deshalb dem Verfolgungszwang nach Artikel 7 StPO der Strafprozessordnung. Das lasse sich nur durch eine Ergänzung von Artikel 115 Absatz 4 des Ausländergesetzes ändern. Danach wäre von einer Strafverfolgung und -verurteilung abzusehen, wenn die fehlbare ausländische Person als schwerwiegender persönlicher Härtefall anerkannt wird. Die Praxis dazu in den Kantonen ist uneinheitlich. In anderen Kantonen wird in vergleichbaren Fällen auf eine Strafanzeige verzichtet.
Dass es grundsätzlich um ein Offizialdelikt geht, ist unbestreitbar. Es erscheint aber bereits fraglich, ob es sich beim Migrationsamt um eine Strafbehörde im Sinne von Artikel 7 der Strafprozessordnung handelt. Das wäre wohl nur dann der Fall, wenn dem Amt im Migrationsbereich kriminalpolizeiliche Aufgaben und damit Strafverfolgungsfunktion zugewiesen würden oder wenn es als Übertretungsstrafbehörde eingesetzt wäre.
Das Bundesrecht sowie das baselstädtische Gesetzesrecht sehen das soweit ersichtlich nicht vor. Auch das kantonale Verordnungsrecht scheint insofern nicht eindeutig. Als Strafbehörde unterstünde das Migrationsamt einer Anzeigepflicht an die Staatsanwaltschaft (Artikel 302 Absatz 1 Strafprozessordnung). Andernfalls könnte der Kanton regeln, ob eine solche Anzeigepflicht gälte (Artikel 302 Absatz 2). Der Kanton verfügt mithin durchaus, teilweise sogar auf Exekutivebene, über gesetzgeberische Spielräume.
Anspruch auf ein faires Verfahren
Selbst wenn im Sinne des strafrechtlichen Legalitätsprinzips von der grundsätzlichen Geltung des Verfolgungszwangs und der Anzeigepflicht auszugehen wäre, bliebe die entsprechende rechtliche Tragweite zu hinterfragen. Nach Artikel 5 Absatz 3 und Artikel 9 der Bundesverfassung müssen die Behörden den Grundsatz von Treu und Glauben beachten. Das verbietet es ihnen unter anderem, widersprüchlich zu handeln. Nach Artikel 29 Absatz 1 der Verfassung hat jede Person Anspruch auf gerechte Behandlung, worunter auch das Prinzip der Verfahrensfairness verstanden wird.
Die einschlägigen Bundesgesetze sind verfassungskonform auszulegen, und die genannten Verfassungsrechte sind vom Ausländeramt selbst dann zu beachten, wenn es rein migrationsrechtlich handelt. Wird ihm die Funktion einer Strafbehörde zugeschrieben, werden die Verfahrensrechte zusätzlich verstärkt durch das strafprozessuale Fairnessgebot (Artikel 3 der Strafprozessordnung; Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention).
Wenn im Verfahren der Erteilung einer Härtefallbewilligung von den Sans-Papiers die Preisgabe der Identität verlangt wird, ist es treuwidrig und unfair, sie gestützt darauf strafrechtlich anzuzeigen und allenfalls zu verfolgen. Zwar erlaubt der Kanton Basel-Stadt eine Art Vorprüfung der Erfolgschancen eines Härtefallgesuchs in anonymisierter Form, was durchaus begrüssenswert ist. Das ist aber mit der paradoxen Folge verbunden, dass eine Strafverfolgung bei negativer Einschätzung mangels Kenntnis der Identität der betroffenen Person praktisch unmöglich ist, hingegen bei positivem Ausgang einfach durchgeführt werden könnte.
Verstoss gegen das Verbot der Selbstbelastung
Dies wirft bereits Probleme mit Blick auf das strafprozessuale Verbot der Selbstbelastung (Artikel 113 der Strafprozessordnung) und der Rechtsgleichheit (Artikel 8 Absatz 1 der Bundesverfassung) auf. Kommt es zu einer Regularisierung, ist eine Strafverfolgung widersprüchlich und unfair, da der Staat einen unrechtmässigen Zustand legalisiert und durch die dabei gewonnenen beziehungweise provozierten Informationen den vormals illegalen Zustand verfolgt.
In diesem Vorgehen liegt auch eine Täuschung, was strafprozessual zu einer Unverwertbarkeit der dadurch erworbenen Kenntnisse führt (Artikel 140 in Verbindung mit 141 Absatz 1 Satz 1 der Strafprozessordnung).
Überdies setzt ein Härtefall grundsätzlich Straffreiheit voraus, wovon bei einer sich abzeichnenden Strafverurteilung nicht mehr ausgegangen werden könnte. Die Betroffenen müssten bei einer Bestrafung auch mit administrativen Langzeitfolgen rechnen, beispielsweise bei späteren Bewilligungs- oder Einbürgerungsentscheiden. Aus teleologischer Sicht dient die Regularisierung einer bisher unrechtmässigen Anwesenheit von Sans-Papiers auch öffentlichen Interessen, was einer Bestrafung vorgeht. Legalisiert wird zwar nur der künftige und nicht der bisherige Aufenthalt, was sich verwaltungsrechtlich in verschiedener Hinsicht auswirken kann, etwa für die Berechnung des Aufenthalts bei späteren migrationsrechtlichen Entscheiden. Eine Bestrafung einzig wegen des früheren Aufenthalts kann aber unter Berücksichtigung aller Umstände nicht mehr in Betracht fallen.
All dies ist bereits beim Entscheid über das Einreichen einer Strafanzeige und nicht erst durch die Strafbehörden zu beachten. Das Migrationsamt darf in der fraglichen Fallkonstellation also nicht eine Strafanzeige einreichen, weil es dadurch gegen Verfassungsrecht und allenfalls das strafprozessuale Fairnessgebot, das Verbot widersprüchlichen und täuschenden Verhaltens der Strafbehörden sowie das Selbstbelastungsverbot verstossen würde. Dem kann die gesetzliche Pflicht zur Strafverfolgung nicht vorgehen. Eine entsprechende Klarstellung im Gesetz kann zwar nicht schaden, ist aber nicht erforderlich. Die Praxis, unter Einschluss der Migrationsbehörden, muss dem so oder so Rechnung tragen.