Vorläufige Massnahmen des Gerichtshofes
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kann nicht nur auf bereits geschehene Menschenrechtsverletzungen reagieren. In speziellen Fällen leistet er auch einen Beitrag zur Verhinderung drohender Verletzungen: Gestützt auf Artikel 39 der Verfahrensordnung kann der EGMR vorläufige Massnahmen bezeichnen, die ein Staat im Interesse der Parteien oder eines ordnungsgemässen Verfahrensablaufs ergreifen sollte. In der Praxis setzt der Gerichtshof dieses Instrument nur ein, wenn ein unmittelbares Risiko von gravierenden und irreparablen Menschenrechtsverletzungen besteht.
Aufsehen erregte ein Antrag der georgischen Regierung vom 11. August 2008: Sie verlangte im Rahmen einer Staatenbeschwerde, Russland von allen Massnahmen absehen, welche das Leben oder die Gesundheit der (georgischen) Zivilbevölkerung gefährden, und solle den georgischen Hilfskräften einen humanitären Korridor für die Behandlung von Verletzten öffnen. Am 12. August 2008 forderte der Präsident des EGMR beide Regierungen auf, ihre konventionsrechtlichen Verpflichtungen zu respektieren und insbesondere Artikel 2 (Recht auf Leben) und 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) EMRK zu achten.
Häufig sind vorläufige Massnahmen auch im Bereich angedrohter Ausweisungen. So hat der EGMR seit Oktober 2007 im Fall von 342 Tamilen interveniert, die Grossbritannien nach Sri Lanka rückschaffen will. Und ein Zuwarten mit der Auslieferung empfahl der zuständige Kammerpräsident der britischen Regierung im Fall von Mustafa Kamal Mustafa alias Abu Hamza (N° 36742/08), dem die USA Geiselnahmen in Jemen, die Schaffung eines terroristischen Trainingscamps in Oregon und die Mitwirkung an Terrorakten inAfghanistan (1999 – 2001) vorwerfen. Mustafa verwies auf seine Gesundheitsprobleme und behauptete eine Verletzung vonArt. 3 EMRK, da er im Auslieferungsfall eine lebenslange Strafe in einem US-Hochsicherheits-gefängnis riskiere.
Verweigert wurde eine vorsorgliche Massnahme im Falle des ebenfalls von den USA gesuchten Gary McKinnon (N° 36004/08). Die USA werfen ihm vor, er habe sich aus England unerlaubten Zugang zu US-amerikanischen Militärcomputern verschafft und betrügerische Aktivitäten begangen. Der Kammerpräsident hatte am 12. August 2008 um einen Auslieferungsverzicht bis zur Überprüfung des Falles durch die Kammer gebeten. In dieser kam die Kammer am 28. August 2008 jedoch zum Schluss, der Antrag auf eine vorsorgliche Massnahme sei abzulehnen.
Ebenfalls abgelehnt wurde Ende August ein Antrag auf eine vorsorgliche Massnahme gegen die Inbetriebnahme einer Forschungsmaschine am Cern in Genf. Die Beschwerdeführer befürchten, der Teilchenbeschleuniger LHC könnte kleine schwarze Löcher erzeugen, welche die Erde verschlucken, und bergedaher ein grosses Risiko von Menschenrechtsverletzungen (Art. 2 und 8 EMRK).
Zulässige Gedächtnisprotokolle in Thurgauer Raubprozess
Am 10. März 1999 wurde Hugo Portmann – zusammen mit Walter Stürm – wegen Verdachts auf zwei Banküberfälle mit Geiselnahmen verhaftet. Portmann verweigerte sich förmlichen Einvernahmen, redete aber in seiner Zelle mit Polizeibeamten, welche die Gespräche später in Form von Gedächtnisprotokollen zu Papier brachten. Gemäss diesen Protokollen hatte Portmann die ihm vorgeworfenen Taten gestanden und missbilligte wegen der Anwesenheit eines Kindes das Vorgehen seines Komplizen bei einem der Überfälle. Das Thurgauer Obergericht verurteilte Portmann 2001 zu neun Jahren Zuchthaus und stützte sich dabei auch auf die von Portmann nicht unterzeichneten Gedächtnisprotokolle der Polizeibeamten. Portmanns staatsrechtliche Beschwerde wies das Bundesgericht am 27. Mai 2003 ab (1P.599/2002).
Der Europäische Gerichtshof verneinte eine Verletzung der menschenrechtlichen Verfahrensgarantien und bezeichnete die Beschwerde einstimmig als offensichtlich unbegründet. Die schweizerische Justiz habe das Recht des Tatverdächtigen respektiert, die Aussage zu verweigern und sich nicht selber belasten zu müssen: Portmann habe problemlos erkennen können, dass er sich gegenüber Polizeibeamten äusserte und dass seine eigenen Worte später gegen ihn verwendet würden. Er sei auch nicht unter Druck gesetzt worden.
Zwar behaupte er einen gewissen psychologischen Druck durch die fast vollständige Isolation in seiner Gefängniszelle. Dies überzeugte den Gerichtshof aber nicht, zumal Portmann im schweizerischen Gerichtsverfahren keine entsprechenden Behauptungen vorgebracht hatte.
In einer Gesamtbetrachtung bejaht der EGMR auch die Fairness des Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Von Bedeutung war, dass der Schuldspruch auf einer ausreichenden Indizienkette beruhte und sich nicht nur auf die Protokolle stützte, deren Wahrheits-gehalt der anwaltlich vertretene Angeklagte vor Gericht hättebestreiten können. Dies habe er aber nicht wirklich getan. Die Würdigung der Protokolle seiweder willkürlich noch fehlerhaft.
(Zulässigkeitsentscheid N° 1356/04 der 5. Kammer «Hugo Mario Portmann c. Schweiz» vom 22. August 2008)
Weitere bemerkenswerte EGMR-Urteile
Zu erwähnen ist etwa die gutgeheissene Beschwerde eines in London wohnhaften tamilischen Asylbewerbers, der sich gegen eine Rückschaffung ins Heimatland wehrte (Urteil N° 25904/07 «N.A. c. Grossbritannien» vom 17. Juli 2008). Ebenfalls gutgeheissen wurden
- die Beschwerde einer HIV-positiven Krankenschwester, deren Krankengeschichte das öffentliche Spital nicht ausreichend vor unbefugtem Zugriff durch Arbeitskollegen geschützt hatte (Urteil N° 20511/03 «I. c. Finnland» vom 17. Juli 2008),
- die Beschwerde von 11 türkischen Lehrern, die wegen der Teilnahme an einem eintägigen nationalen Streik für bessere Arbeitsbedingungen bestraft worden waren (Urteil N°. 23018/04 u.a. «Urcan u.a. c. Türkei» vom 17. Juli 2008) sowie
- die Beschwerde der Zeugen Jehovas, denen in Österreich seit zwei Jahrzehnten die staatliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft verweigert wird (Urteil N° 40825/98 «Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u.a. c. Österreich» vom 31. Juli 2008). (FZ)