Ausschaffung eines Somaliers nicht korrektIm Juni 2003 lehnten die niederländischen Behörden das Asylgesuch eines jungen Mannes aus Somalia ab, der imMai mit einem falschen Pass in Amsterdam gelandet war.Seine Angaben belegten keine individuelle Bedrohung, und seine Bevölkerungsgruppe (Ashraf) leide nicht unter systematischer Verfolgung, sondern eher unter der grundsätzlich unstabilen Situation, welche durch die Willkür krimineller Gangs geprägt sei. Eine Ausschaffung nach Somalia treffe ihn auch nicht mit unzumutbarer Härte, da er sich in einem der relativ sicheren Gebiete des Landes (Somaliland oder Puntland) niederlassen könnte.
Der Präsident der zuständigen Kammer des Gerichtshofs ersuchte die Niederlande im Januar 2004, den Ausländer während der Dauer des Verfahrens in Strassburg nicht auszuschaffen. Drei Jahre später hat die Kammer nun die Beschwerde wegen Missachtung des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK) einstimmig gutgeheissen.
Die ausführliche Begründung des Gerichtshofs – die zum Beispiel auch Berichte von Médecins sans Frontières, Amnesty International, des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), des Experten Menkhaus und des britischen Fernsehsenders BBC berücksichtigt – verneint zunächst das Bestehen einer alternativen landesinternen Zufluchtsmöglichkeit. Es möge zwar sein, dass die Niederlande den Mann nach Somaliland oder Puntland ausschaffen könnten. Angesichts der Haltung der dortigen Behörden sei es aber eher unwahrscheinlich, dass er sich dort auch niederlassen dürfte. Es sei eine realistische Möglichkeit, dass ihm keine andere Wahl bliebe als die Reise in ein Gebiet, welches sowohl die niederländische Regierung als auch das UNHCR als unsicher bezeichnen.
Nach Ansicht des Gerichtshofs wäre im Falle einer Zwangsrückkehr ins Heimatland eine gegen Art. 3 EMRK verstossende Behandlung absehbar. Was der Asylbewerber nach seinen Angaben vor der Ausreise erlebt hatte, fiel unter diese Bestimmung: Angehörige eines anderen Clans schlugen, beraubten und belästigten ihn, verlangten Zwangsarbeit, töteten seinen Vater und vergewaltigten seine Schwester. Artikel 3 EMRK erfasse nicht nur staatliche Untaten. Massgebend sei vielmehr, ob ein Ausgeschaffter einen Schutz vor krimineller Misshandlung erlangen könne.
Es sei ausreichend dokumentiert, dass es in Somalia immer wieder zu solchen Menschenrechtsverletzungen gegen Minderheiten wie die Ashraf komme. Sie seien eine leichte Beute für die anderen Clans. Der Gerichtshof erkannte keine Anzeichen dafür, dass sich die Situation seit 2003 wesentlich verbessert habe. Angesichts dieser Umstände könne der Staat von einem Angehörigen einer solch verletzlichen Minderheit nicht den Nachweis verlangen, dass er wegen persönlicher Gründe (zum Beispiel wegen seiner politischen Tätigkeit oder Gesinnung) in Somalia einer ganz besonderen Gefahr ausgesetzt wäre.
(Urteil der 3. Kammer N° 1948/04 «Salah Sheekh c. Niederlande» vom 11. Januar 2007)
Ungenügender Schutz vor Anti-Personenminen
Das Weidland des türkischen Dorfs Tunceli wurde im März 1995 zum Schutz der nahe gelegenen Gendarmerie vermint. Ein Stacheldraht auf Hüfthöhe und alle zwanzig Meter aufgestellte Warntafeln sollten die Dorfbevölkerung vor Schaden bewahren. Dennoch kam es im Mai zu einem schweren Unfall: Der neunjährige Sohn des Bürgermeisters war beim Schafhüten (zusammen mit anderen Kindern) einigen Tieren ins verminte Gelände gefolgt. Er wurde schwer verletzt und verlor den linken Unterschenkel. Der Gerichtshof beanstandete einstimmig eine Missachtung der staatlichen Pflicht auf Schutz vor Gefährdungen des Lebens (Art. 2 EMRK). Von Landkindern könne man nicht dasselbe Verhalten erwarten wie von verantwortungsbewussten Erwachsenen. Der Stacheldraht war klarerweise ungenügend, um die Kinder am Betreten des verminten Gebiets zu hindern.
(Urteil der 2. Kammer N° 51358/99 «Pasa & Erkan Erol c. Türkei» vom 12. Dezember 2006)
Zu rabiate Auflösungeiner gewaltfreien DemoRund fünfzig Menschenrechtsaktivisten nahmen im April 2000 in Istanbul an einer Kundgebung gegen geplante Gefängnisse teil. Die Polizei verlangte über Lautsprecher eine Auflösung der Demonstration. Sie sei den Behörden trotz gesetzlicher Vorschrift nicht 72 Stunden vorher gemeldet worden und gefährde die öffentliche Ordnung. Da die Gruppierung den Marsch fortsetzte, löste die Polizei die Demonstration mit Tränengas auf. 39 Kundgebungsteilnehmende wurden abgeführt.
Der Gerichtshof hält fest, eine vorgängige Meldepflicht widerspreche dem Geist der Versammlungsfreiheit (Art. 11 EMRK) an sich nicht. Sie dürfe aber kein verkapptes Hindernis für friedliche Demonstrationen bilden. Im vorliegenden Fall hätte die Mitteilung den Behörden erlaubt, geeignete Vorkehren gegen Störungen des Verkehrsflusses zu treffen. Die Demonstrierenden hätten sich an die geltenden Spielregeln halten sollen. Eine Gefahr für die öffentliche Ordnung stellten sie aber nicht dar. Deshalb erstaunte die Ungeduld der Behörden den EGMR. Es sei wichtig, dass die Sicherheitskräfte eine gewisse Toleranz gegenüber gewaltfreien Demonstrationen zeigten.
Dass der Einsatz von Tränengas zudem Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) verletzen könnte, schloss der EGMR zwar nicht aus. Die Beschwerdeführerin konnte ihre behaupteten gesundheitlichen Probleme aber nicht durch ein Arztzeugnis belegen, womit Anhaltspunkte für eine Missachtung von Art. 3 EMRK fehlten.
(Urteil der 2. Kammer N° 74552/01 «Oya Ataman c. Türkei» vom 5. Dezember 2006)
(FZ)