Inhalt
Plädoyer 3/08
27.05.2008
Unrechtmässige U-Haft im Kanton Basel-Land
In einem Wirtschafts-Straffall wurde ein Ausländer 1999 im Baselbiet in Untersuchungshaft genommen. Am 18. Februar 2000 stellte der Untersuchungshäftling ein Gesuch um Verlegung in eine Straf- oder Massnahmenvollzugsanstalt und verzichtete ausdrücklich auf eine Haftüberprüfung von Amtes wegen.
Die zuständige Baselbieter Justizbehörde verlängerte die Untersuchungshaft ...
Unrechtmässige U-Haft im Kanton Basel-Land
In einem Wirtschafts-Straffall wurde ein Ausländer 1999 im Baselbiet in Untersuchungshaft genommen. Am 18. Februar 2000 stellte der Untersuchungshäftling ein Gesuch um Verlegung in eine Straf- oder Massnahmenvollzugsanstalt und verzichtete ausdrücklich auf eine Haftüberprüfung von Amtes wegen.
Die zuständige Baselbieter Justizbehörde verlängerte die Untersuchungshaft um acht Wochen bis zum 8. Mai 2000. Der Inhaftierte stellte am 4. Mai 2000 ein Haftentlassungsgesuch, denn die Untersuchungshaft habe nunmehr die Hälfte der zu erwartenden Freiheitsstrafe erreicht. Er wies auch darauf hin, der Haftbefehl gegen ihn sei am 8. Mai 2000 abgelaufen, weshalb er schon aus diesem Grund auf freien Fuss zu setzen sei. Mit Präsidialbeschluss vom 12. Mai 2000 wies das Verfahrensgericht das Haftentlassungsgesuch wegen Fluchtgefahr dennoch ab.
Das Bundesgericht akzeptierte das Vorgehen der Baselbieter Behörden am 17. Juli 2000 (Urteil 1P.412/2000) nachträglich. Der Präsidialbeschluss des Verfahrensgerichts vom 12. Mai 2000 lasse sich als gültige Haftanordnung bezeichnen. Zwar habe das Verfahrensgericht die prozessualen Garantien von Art. 5 Ziff. 3 EMRK insofern nicht eingehalten, als es den inhaftierten Beschwerdeführer nicht persönlich angehört hatte. Er habe «eine solche Anhörung allerdings nie verlangt, auch nicht, nachdem die Präsidentin des Verfahrensgerichtes mit Verfügung vom 8. Mai 2000 die Durchführung eines schriftlichen und kontradiktorischen Verfahrens angeordnet hatte».
Auch in der Folge habe er sich nie über die Verletzung seiner Gehörsansprüche beklagt. Der Gerichtshof bejahte dennoch einstimmig eine Missachtung von Art. 5 Ziff. 1 EMRK. Dies galt nicht nur für die Periode vom 9. Mai (Ablauf des Haftbefehls) bis zum 12. Mai (Präsidialentscheid), sondern auch für die Zeitspanne vom 12. Mai bis zum 19. Juli 2000: Entgegen der Ansicht des Bundesgerichts stelle der Präsidialbeschluss keine gültige Haftverlängerung im Sinne von § 86 der kantonalen StPO dar (Prüfung der Haftgründe von Amtes wegen).
Ob der Inhaftierte gültig auf seine aus Art. 5 Ziff. 3 EMRK fliessenden Rechte verzichten konnte, liess der EGMR offen. Jedenfalls deute nichts darauf hin, dass er auf seinen menschenrechtlichen Schutz vor willkürlicher Inhaftierung verzichtet hatte (Art. 5 Ziff. 1 EMRK).
(Urteil der 5. Kammer N° 61697/00 «Meloni c. Schweiz» vom 10. April 2008)
Behördenstatements verletzten Unschuldsvermutung
Nach einer Anzeige eines Geschäftsmanns gerieten zwei rumänische Polizeibeamte 2002 in den Verdacht des Amtsmissbrauchs, der Korruption und der Anstiftung zur falschen Zeugenaussage. Eine Wochenzeitschrift zitierte darauf den Kommandanten der lokalen Polizei mit den Worten, er habe keinen Zweifel, dass die beiden Polizisten schwerer Verfehlungen schuldig seien. Das sei eine Gewissheit. Es gehe bloss noch darum, wie gravierend die Taten seien.
Im Februar 2003 erklärte der für den Fall zuständige Staatsanwalt zudem im lokalen Fernsehen, die beiden Polizisten seien in Untersuchungshaft genommen worden, denn das öffentliche Vertrauen in die Polizei stehe auf dem Spiel. Zudem hätten die beiden Angeschuldigten versucht, die Aufdeckung der Wahrheit zu verhindern und Zeugen zu beeinflussen, ja zu bedrohen. Im Dezember 2003 wurden sie zu Gefängnisstrafen von je sechs Jahren verurteilt. Die öffentlichen Äusserungen des Kommandanten und des Staatsanwalts verletzten nach dem einstimmigen Urteil des EGMR das Menschenrecht der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK). Die Tatverdächtigen seien noch vor dem Urteil des zuständigen Strafgerichts vorbehaltlos als schuldig bezeichnet worden.
Der Gerichtshof liess auch die Behauptung des Polizeikommandanten nicht gelten, die Zeitschrift habe ihn falsch zitiert. Er habe die fraglichen Äusserungen weder zurückgezogen noch eine Gegendarstellung verlangt. Es sei deshalb zu vermuten, dass der Kommandant die fraglichen Statements tatsächlich so geäussert hatte. Die öffentliche Vorverurteilung der Polizisten wurde übrigens dadurch verstärkt, dass sie in für verurteilte Straftäter typischen Häftlingskleidern vor Gericht erscheinen mussten, obwohl dies den gesetzlichen Vorschriften widersprach.
(Urteil der 3. Kammer N° 33065/03 «Samoila & Cionca c. Rumänien» vom 4. März 2008)
Berechtigte Indiskretion eines «Whistleblowers»
Der Pressechef der moldawischen Staatsanwaltschaft (Generalprokurator) spielte der Zeitung «Jurnal de Chisinau» im Januar 2003 die Kopien von zwei Briefen zu, die eine Einflussnahme hochrangiger Politiker auf ein hängiges Strafverfahren gegen vier Polizisten belegten. Pressechef Guja handelte einige Tage, nachdem der moldawische Präsident Voronin öffentlich zum Kampf gegen die Korruption aufgerufen und die Beamten zu Widerstand gegen Druckversuche in schwebenden Verfahren aufgerufen hatte. Die Indiskretion kostete den Pressechef die Stelle. Er argumentierte in Strassburg, er habe als «Whistleblower» in gutem Glauben dafür gesorgt, dass ein illegales Verhalten publik geworden sei. Die moldawische Regierung entgegnete, es gehe hier um den Diebstahl von vertraulichen Dokumenten, der gar nicht dem Kampf gegen die Korruption gedient habe.
In ihrem einstimmigen Urteil bejahte die Grosse Kammer eine Missachtung der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK): Der Pressechef habe keine wirksame andere Möglichkeit als die Indiskretion gehabt, um auf die sehr wichtigen Informationen aufmerksam zu machen, an deren Kenntnis auch die Allgemeinheit ein berechtigtes Interesse hatte. Für sein gutgläubiges, nicht durch persönliche Motive geprägtes Handeln sei er mit der schwerstmöglichen Sanktion belegt worden. Die Entlassung schadete nicht nur ihm und seiner Karriere. Sie war auch geeignet, andere Beamte vor einem berechtigten Gang an die Öffentlichkeit abzuschrecken («chilling effect»).
(Urteil der Grossen Kammer N° 14277/04 «Guja c. Moldawien» vom 12. Februar 2008)
(FZ)
--
Publikation der Entscheide
Die Entscheide des EGMR wer- den in Reports of Judgements/ Recueuil des arrêts et décisions (Carl Heymanns Verlag KG, Luxemburger Strasse 449, DE-50939 Köln) in englischer und französischer Sprache offiziell veröffentlicht. Deutsche Übersetzungen finden sich bisweilen in der Europäischen Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ; N. P. Engel Verlag, Kehl am Rhein), in der Österreichischen Juristen-Zeitung (ÖJZ; Manzsche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Kohlmarkt 16, AT-1014 Wien) sowie im Newsletter des Österreichischen Instituts für Menschenrechte (Edmundsburg, Mönchsberg 2, AT-5020 Salzburg).
Im Internet auf der Website des EGMR:
www.echr.coe.int