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Plädoyer 5/09
07.10.2009
Tod eines Globalisierungsgegners: Ungenügende Untersuchung
Bei extrem gewalttätigen Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua starb am 20. Juli 2001 der 23-jährige Carlo Giuliani durch einen Schuss aus einem Polizeifahrzeug. Giuliani hatte den Polizeijeep – zusammen mit anderen vermummtem Demonstrierenden – mit einem Feuerlöscher in der Hand angegriffen.
Ein Strafverfahren gegen den Polizisten stellte die Untersuchun...
Tod eines Globalisierungsgegners: Ungenügende Untersuchung
Bei extrem gewalttätigen Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua starb am 20. Juli 2001 der 23-jährige Carlo Giuliani durch einen Schuss aus einem Polizeifahrzeug. Giuliani hatte den Polizeijeep – zusammen mit anderen vermummtem Demonstrierenden – mit einem Feuerlöscher in der Hand angegriffen.
Ein Strafverfahren gegen den Polizisten stellte die Untersuchungsrichterin 2003 ein, daer ohne Tötungsabsicht in die Luft geschossen und ohnehin in Notwehr gehandelt habe. DieAngehörigen des Verstorbenen argumentierten in Strassburg vergeblich, die behördliche Gewaltanwendung sei unverhältnismässig gewesen und habe deshalb das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) missachtet.
Die zuständige Kammer verneinte in ihrer über 100 Seiten umfassenden Urteilsbegründung einstimmig einen polizeilichen Exzess. Der in Panik geratene Polizist habe geglaubt, sein Leben (und das seiner Kollegen) sei in ernsthafter und unmittelbarer Gefahr. Eine Flucht war nicht möglich. Der Polizist habe vor seinem Schuss deutliche Warnungen ausgesprochen, seine Waffe gezeigt und erst geschossen, als die Angriffe der Demonstrierenden auf das Polizeifahrzeug weitergingen.
Grundsätzlich habe der Staat bei kontroversen internationalen Veranstaltungen die Pflicht, alle geeigneten Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und dabei die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu gewährleisten. Im konkreten Fall sah der Gerichtshof mehrheitlich keinen direktenZusammenhang zwischen verschiedenen organisatorischen Unzulänglichkeiten und den unvorhersehbaren Entwicklungen, die zu Giulianis Tod führten. Es sei deshalb nicht nachgewiesen, dass die italienischen Behörden ihre Pflicht zum Schutz des Rechts auf Leben missachtet hatten. Dieser Aspekt war allerdings im Gerichtshof kontrovers. Zwei von sieben Richtern bejahten in dieser Hinsicht eine Verletzung von Art. 2 EMRK. Die Organisation des Einsatzes der Sicherheitskräfte war nach Auffassung der Minderheit nicht dazu angetan, die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes lebensgefährlicher Gewalt zu minimieren.
Ebenfalls umstritten war die Frage, ob die italienischen Behörden eine effektive Untersuchung der Umstände des Todesfalls durchgeführt hatten, die den Anforderungen des Art. 2 EMRK genügte (verfahrensrechtlicher Aspekt des Rechts auf Leben). Dies verneinte der Gerichtshof mit vier gegen drei Stimmen. Die Mehrheit bemängelte unter anderem, dass der Autopsiebericht keine präzise Antwort auf die Schussbahn der tödlichen Kugel gab und zu viele zentrale Fragen unbeantwortet liess. Diese Mängel wogen umso schwerer, als die Staatsanwaltschaft die Leiche noch vor Kenntnis des Autopsieberichtes zur Kremation freigegeben hatte.
Beanstandet wurde auch, dass die italienische Untersuchung bloss die Verantwortlichkeit der direkt Beteiligten betraf und die Grundsatzfrage nach Mängeln bei der Planung und Durchführung des polizeilichen Einsatzes ausblendete. So blieb unklar, weshalb der zuvor verletzte Polizist nicht hospitalisiert und mit einer Waffe in einen ungeschützten Jeep gesetzt worden war.
Der Gerichtshof verurteilte Italien dazu, den Angehörigen eine Genugtuung von gesamthaft 40000 Euro zu entrichten.
(Urteil N° 23458/02 «Giuliani & Gaggio c. Italien» vom 25. August 2009)
EGMR-Grundsatzurteil zur häuslichen Gewalt
In einem Grundsatzurteil zur häuslichen Gewalt hiess der Gerichtshof die Beschwerde von Nahide Opuz gut, deren Mutter 2002 durch ihren extrem gewalttätigen Gatten erschossen worden war. Der Ehemann wurde 2008 wegen Mordes und illegalen Waffenbesitzes verurteilt.
Der Gerichtshof warf den türkischen Behörden vor, dass sie das Leben der Mutter und der Tochter angesichts der gravierenden häuslichen Gewalt ungenügend geschützt hatten (Missachtung von Art. 2 und 3 EMRK). Die beiden Frauen hatten sich wiederholt bei der Polizei über den brutalen Mann beschwert, der sogar versucht hatte, sie mit seinem Auto zu überfahren. Die Behörden hatten um die Bedrohung gewusst und keine adäquaten Massnahmen getroffen.
Dass die beiden Frauen ihre Strafklagen zurückgezogen hatten, war für den Gerichtshof nicht ausschlaggebend. Angesichts der Schwere der Vorfälle hätte das türkische Recht vorsehen müssen, dass die Behörden von Amtes wegen einschreiten können. Die schliesslich gegen den Gatten ausgesprochenen Strafen waren zudem so mild, dass sie keinen abschreckenden Effekt hatten.
Die zur fraglichen Zeit in der Südosttürkei übliche Passivität der Behörden bei Fällen häuslicher Gewalt gegenüber Frauen missachtete auch das Gebot der Geschlechterdiskriminierung (Art. 14 EMRK). Die Diskriminierung der Frauen wurzelte nicht in der türkischen Gesetzgebung als vielmehr in der Haltung der lokalen Behörden, die sich – auchgestützt auf Berichte von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International – als systematische, das Klima der Gewaltgegenüber Frauen fördernd Untätigkeit manifestierte.
Der Gerichtshof verurteilte die Türkei in seinem einstimmigen Urteil dazu, Nahide Opuz eine Genugtuungssumme von 30000 Euro zu bezahlen.
(Urteil N° 33401/02 «Opuz c. Türkei» vom 9. Juni 2009)
Strafbare Publikation des zugespielten Polizeibildes eines Verdächtigen
Im April 2000 publizierte die Tageszeitung «Le Parisien» einen Bericht über den verhafteten E.C. Unter dem Titel «Champs-sur-Marne: le ‹rat d’hôtel› avait fait 70 victimes» wurde auch die Fotografie von E.C. abgedruckt. Die Bildlegende präzisierte, E.C. sei einer Anzahl von Straftaten verdächtig. Es stellte sich heraus, dass die abgedruckte Fotografie des Festgenommenen eine Reproduktion der durch die Ermittlungsbehörden erstellten digitalen Aufnahme war.
Das gegen den Journalisten geführte Strafverfahren wegen Beteiligung an der Verletzung des Untersuchungsgeheimnisses («recel de violation du secret de l’enquête») führte zu einem Schuldspruch. Er wurde zur Bezahlung einer Busse (1000 Euro) und einer Entschädigung (1500 Euro) verurteilt. Die französische Justiz argumentierte, das fragliche Bild könne nur von einem der befragenden Polizeibeamten stammen.
Die Beschwerde des Medienschaffenden wegen Missachtung seiner Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) bezeichnete der EGMR einstimmig als offensichtlich unbegründet. Der Tatverdächtige stehe unter dem Schutz der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK), der durch diese Veröffentlichung beeinträchtigt werden konnte. Im vorliegenden Fall diene die Bildveröffentlichung nicht der Diskussion eines allgemein interessierenden Themas. Es ging weder um eine aussergewöhnliche Straftat noch um einen bekannten Tatverdächtigen. Die Verurteilung des Medienschaffenden war deshalb in einer demokratischen Gesellschaft notwendig.
(Zulässigkeitsentscheid N° 17215/06 «Eric Hacquemand c. Frankreich» vom 30. Juni 2009)
(FZ)