Fünfjährige Untersuchungshaft in Schweizer Drogenfall akzeptiert
Am 29. Oktober 2003 wurde ein in Skopje verhafteter und anschliessend ausgelieferter Autohändler in der Schweiz in Untersuchungshaft genommen. Er wurde verdächtigt, für einen Clan den Vertrieb von grossen Mengen Heroin in verschiedene Länder Europas übernommen zu haben. Am 30. Oktober 2008 verurteilte ihn das Bundesstrafgericht wegen schwerer Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und Beteiligung an einer kriminellen Organisation zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren.
Der Angeklagte beschwerte sich in Strassburg gegen die fünfjährige Dauer der Untersuchungshaft, die durch ihre exzessive Länge Art. 5 Abs. 3 der EMRK missachte. Trotz der langen Haftdauer wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Beschwerde mit vier gegen drei Stimmen ab. Er erinnerte daran, dass es in der Strassburger Rechtsprechung keine absolute Obergrenze zulässiger Inhaftierung von Tatverdächtigen gibt. Notwendig seien aber ausreichende Haftgründe und eine sorgfältige, speditive Verfahrensführung durch die nationalen Behörden.
Im vorliegenden Fall konnte den Schweizer Behörden nach Auffassung der Gerichtsmehrheit keine Vorwürfe gemacht werden: Es bestand ein dringender Tatverdacht und eine erhebliche Flucht- und Kollusionsgefahr. Eine Alternative zur Inhaftierung (zum Beispiel eine Kaution) kam hier nicht in Betracht. Die Mehrheit betonte die extrem komplexe Natur der Angelegenheit, die einen internationalen Drogenring betraf und 123 Bundesordner Verfahrensakten produzierte. Den Behörden müsse hier ausreichend Zeit für sorgfältige Abklärungen gegeben werden, denn angesichts des Schadenspotenzials von Drogen für die Gesundheit einer grossen Anzahl von Menschen und der dadurch entstehenden Kosten habe eine demokratische Gesellschaft ein grosses Interesse an einer wirksamen Bekämpfung der organisierten Kriminalität.
Den Schweizer Behörden konnte nicht vorgeworfen werden, dass sie während bestimmter Phasen der Untersuchung untätig geblieben wären. Die Gerichtsmehrheit tolerierte auch, dass es von der Fertigstellung der Anklageschrift bis zur Durchführung der Gerichtsverhandlung nicht weniger als acht Monate dauerte. Grund dafür waren die Sicherheitsprobleme, welche angesichts der besonderen Umstände des Falles zu lösen waren. Gerade in diesem letzten Punkt waren drei Gerichtsmitglieder anderer Ansicht: Der Strafprozess hätte eigentlich mehrere Monate früher stattfinden sollen (im Mai 2008), wurde aber verschoben, weil die benötigten 15 Sicherheitsleute nicht verfügbar waren. Ein derartiges Argument wollte die Gerichtsminderheit nicht genügen lassen.
(EGMR-Urteil N°29044/06 «Shabani c. Schweiz» vom 5. November 2009)
WEF 2001: Ungenügende Grundlage für Fernhalten eines Journalisten
«Gastro-News»-Journalist Mario Gsell war am 27. Januar 2001 unterwegs von Klosters nach Davos, um einen Bericht über die Auswirkungen des Weltwirtschaftsforums (WEF) auf die Davoser Gastronomie zu verfassen. Die Polizei stoppte das Postauto jedoch kurz vor Davos und hinderte die Passagiere an der Weiterfahrt. Auch Gsell zwang die Polizei zur Rückkehr, obwohl er seinen Presseausweis zeigte und Angaben über seine in Davos geplanten journalistischen Tätigkeiten machte.
Nach einigem prozessualen Hin und Her wies das Bundesgericht Gsells staatsrechtliche Beschwerde am 7. Juli 2004 ab (BGE 130 I 169). Zwar fehlte der Bündner Wegweisungsverfügung eine Grundlage in einem Gesetzestext, wie sie Art. 36 Abs. 1 Satz 1 der Bundesverfassung verlangt. Satz 3 von Art. 36 Abs. 1 BV erlaubt aber eine Grundrechtsbeschränkung ausnahmsweise auch ohne gesetzliche Grundlage für Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr (sogenannte polizeiliche Generalklausel). Ein solcher echter und unvorhersehbarer Notfall lag nach Auffassung des Bundesgerichts vor, denn man könne nicht sagen «die Gefährdungslage im Januar 2001 sei seit längerer Zeit voraussehbar oder im Einzelnen in typischer Form erkennbar gewesen».
Der Gerichtshof war anderer Ansicht und beanstandete eine unzulässige Beschränkung der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK). Er anerkannte zwar, dass die Risiken für die Behörden schwierig einzuschätzen waren. Er verneinte aber, dass 2001 in Davos tatsächlich ein unvorhersehbarer Notfall vorlag. So sei das WEF bereits 1999 und 2000 Zielscheibe von militanten Manifestationen gewesen. Darüber hinaus bemängelte der Gerichtshof, dass sich die Vorkehren der Bündner Polizei auch gegen Personen richteten, welche die öffentliche Ordnung gar nicht störten. Sie habe die gebotene Unterscheidung zwischen potenziell gewalttätigen und friedlichen Personen unterlassen. Der Gerichtshof kam zum Schluss, dem Eingriff in Gsells Meinungsfreiheit fehle die in Art. 10 Abs. 2 EMRK verlangte gesetzliche Grundlage. Damit konnte sich der Gerichtshof die Prüfung sparen, ob die Massnahmen der Bündner Polizei verhältnismässig waren.
Als offensichtlich unbegründet bezeichnete der EGMR Gsells Rügen wegen Missachtung der Verfahrens- und Justizgarantien von Art. 6 EMRK. Der Gerichtshof liess offen, ob überhaupt eine zivilrechtliche Streitigkeit im Sinne Art. 6 EMRK vorlag, denn das schweizerische Verfahren genügte diesen Anforderungen ohnehin. Es war – bei einer Verfahrensdauer von dreieinhalb Jahren – nicht übermässig lang. Und auch eine ausreichende Überprüfung durch eine Gerichtsbehörde (nämlich das Bundesgericht) war gegeben, obwohl das Bundesgericht Sachverhaltsfragen lediglich beschränkt kontrollieren darf. Diese Beschränkung sei für Gsell kein Nachteil gewesen, denn der Ablauf der Ereignisse war in seinem Fall nicht wirklich umstritten.
(Urteil der 5. Kammer N° 12675/05 «Gsell c. Schweiz» vom 8. Oktober 2009)
Praxisänderung: Art. 6 gilt auch bei vorläufigen Massnahmen
Die Verfahrens- und Justizgarantien in Art. 6 EMRK sind von grosser praktischer Bedeutung. Sie gelten aber nicht für sämtliche Rechtsstreitigkeiten, sondern lediglich für Entscheidungen über strafrechtliche Anklagen oder «civil rights». Keine Anwendung findet Art. 6 nach bisheriger Rechtsprechung auf den einstweiligen Rechtsschutz. Durch vorläufige Massnahmen würden zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen nicht endgültig festgestellt, denn dies geschehe im anschliessenden Entscheid in der Hauptsache.
Die Grosse Kammer des Gerichtshofs hat sich nun mit satter Mehrheit für eine Praxisänderung entschieden. 13 von 17 Gerichtsmitgliedern sprachen sich für eine Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art. 6 EMRK aus. Unter bestimmten Voraussetzungen spielt Artikel 6 nun auch im Bereich provisorischer Massnahmen. Der EGMR begründet dies nicht nur mit der Rechtsauffassung in den einzelnen Mitgliedstaaten.
Wichtig sei auch, dass sich vorsorgliche Massnahmen zunehmend in gleicher Weise auf die zivilrechtlichen Ansprüche auswirken wie Entscheidungen im Hauptverfahren, weil sie – unter anderem wegen der überlasteten Gerichtsbarkeit vieler Mitgliedstaaten – oft lange Zeit in Kraft blieben. In Ausnahmefällen sei es allerdings denkbar, dass wegen der Besonderheitendes vorläufigen Rechtsschutzes nicht alle Aspekte von Art. 6 EMRK respektiert werden müssten. Stets zu beachten sei aber zum Beispiel die Anforderung, dass das urteilende Zivilgericht unabhängig und unparteilich ist.
Im zu beurteilenden Fall führte die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK dazu, dass der EGMR in einer nachbarrechtlichen Streitigkeit in Malta eine Konventionsverletzung feststellte. Missachtet wurde die von Art. 6 verlangte Unparteilichkeit des Gerichts durch die Mitwirkung eines Richters, dessen Bruder und Neffe die klagende Partei vertraten.
(Urteil der Grossen Kammer N° 17056/06 «Micallef c. Malta» vom 15. Oktober 2009) (FZ)