Verweigerter Werbespot: Erneute Verletzung
Der seit 1994 dauernde Streit um die Ausstrahlung eines gegen tierquälerische Nutztierhaltung gerichteten Werbespots im SRG-Programm hat der Schweiz eine zweite Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingetragen. Am 28. Juni 2001 hatte der Gerichtshof im Urteil N° 24699/94 eine Missachtung der Meinungsfreiheit beanstandet, weil das vom Bundesgericht angeführte Verbot politischer Werbung in diesem Fall keinen ausreichenden Grund für das Nichtausstrahlen darstellte (Plädoyer 4/01).
Der Verein gegen Tierfabriken (VgT) verlangte danach eine Revision des Bundesgerichtsurteils von 1997 (BGE 123 II 402), was das Bundesgericht mit Urteil vom 29. April 2002 ablehnte. Der VgT habe mit keinem Wort dargetan, inwiefern nach dem Strassburger Urteil eine Wiedergutmachung nur über eine Revision des ersten Bundesgerichtsurteils möglich sei. Der Verein behaupte auch nicht, er habe noch ein Interesse an der Ausstrahlung des ursprünglichen Spots, was wenig wahrscheinlich erscheine, dann gehe es «nicht mehr (allein) um die Anprangerung der Tierhaltung, die sich in den fast acht Jahren seit der ursprünglich geplanten Ausstrahlung auch gewandelt haben dürfte, sondern um die öffentliche Bekanntmachung der durch den Gerichtshof festgestellten Verletzung seiner Meinungsäusserungsfreiheit».
Mit 5 gegen 2 Stimmen bezeichnet der EGMR das Vorgehen des Bundesgerichts als übertrieben formalistisch. Bezüglich des Interesses an der Ausstrahlung habe sich das Bundesgericht zudem an die Stelle des VgT gesetzt. Die bundesgerichtliche Anwendung der schweizerischen Gesetzesbestimmungen (Art. 139a des damaligen Bundesrechtspflegegesetzes) missachte die Grundsätze der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK).
Die zweiköpfige Gerichtsminderheit erinnerte daran, dass die EMRK die Vertragsstaaten gar nicht zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens zwingt. Folglich könne ein abgewiesenes Revisionsgesuch nicht weniger konventionskonform sein als der (zulässige) Verzicht auf jeglichen innerstaatlichen Revisionsmechanismus. Der Gerichtshof hätte diese Angelegenheit daher nicht erneut beurteilen dürfen.
Es ist denkbar, dass die Schweiz nun die Beurteilung des Falles durch die Grosse Kammer des EGMR beantragen wird.
(Urteil der 5. Kammer N° 32772/02 «Verein gegen Tierfabriken c. Schweiz» vom 4. Oktober 2007)
Arbeit in kirchlichem Zentrum zumutbar
Das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (Rav) Berner Oberland wies einem Arbeitslosen aus Kosovo-Albanien für die Dauer von dreieinhalb Monaten ein vorübergehendes Beschäftigungsprogramm im Gwatt-Zentrum (einer evangelischen Heimstätte) zu. Da er das Programm nach dem ersten Arbeitstag von sich aus abgebrochen hatte, stellte ihn das Rav wegen Nichtbefolgens von Weisungen für eine Dauer von 18 Tagen in der Anspruchsberechtigung auf Arbeitslosenentschädigung ein. Der Arbeitslose argumentierte vergeblich, die Beschäftigung in einer religiös geprägten Institution wie dem Gwatt-Zentrum sei seinen persönlichen Verhältnissen nicht angemessen, da er religiöses Denken ablehne. Das bernische Verwaltungsgericht und danach das Eidgenössische Versicherungsgericht (Urteil C 274/04 vom 29. März 2005) wiesen seine Beschwerde ab: Die Arbeit an der Reception eines Betriebs, der ein Hotel betreibe, weise ihrer Natur nach keinen besonders engen Bezug zur religiösen Überzeugung einer Person auf. Wie sich die religiöse Prägung des Zentrums geäussert hatte und inwiefern er davon betroffen war, habe der Beschwerdeführer nicht aufgezeigt.
Seine Beschwerde wegen Missachtung der Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) bezeichnet der Gerichtshof einstimmig als offensichtlich unbegründet. Wenn ihm die Atmosphäre im Gwatt-Zentrum unzumutbar gewesen wäre, so wäre es für den Betroffenen ein Leichtes, dies wenigstens anhand einiger konkreter Beispiele zu belegen. Die Arbeit an der Reception habe ihn nicht gezwungen, seine eigenen Überzeugungen aufzugeben. Er behaupte auch nicht, er hätte sich mit den Werten des Zentrums identifizieren oder sie vor der Kundschaft vertreten müssen.
(Zulässigkeitsentscheid der 1. Kammer N° 32166/05 «Dautaj c. Schweiz» vom 20. September 2007)
Exzessive Angriffe auf Jean-Marie Le Pen
Der 1998 veröffentlichte Roman «Le Procès de Jean-Marie Le Pen» schildert – basierend auf realen Ereignissen des Jahres 1995 – das Strafverfahren gegen einen Militanten des Front National, der einen jungen Nordafrikaner aus rassistischen Motiven ermordet hat. Auf Klage von Le Pen wurden der Autor Mathieu Lindon und der Verlagsdirektor wegen drei ehrverletzenden Passagen des Romans gebüsst. Die Passagen warfen Le Pen vor, er habe die Verbrechen stillschweigend bestellt, er sei nicht Chef einer politischen Partei, sondern Chef einer Mörderbande (Al Capone hätte auch Wähler gehabt), und er sei ein Vampir, der sich manchmal vom Blut seiner Wähler und seiner Gegner ernähre.
Mit 13 gegen 4 Stimmen hielt die Grosse Kammer des Gerichtshofs fest, diese Äusserungen sprengten selbst im politischen Meinungskampf die weit gesteckten Grenzen des Zulässigen. Auch gegen erbarmungslos austeilende Extremisten wie den mehrfach vorbestraften Le Pen brauche es ein Mindestmass an Zurückhaltung, da eine Stigmatisierung des politischen Gegners auch Gewalt und Hass begünstige. Die Gerichtsminderheit bestritt hingegen, dass die in einem fiktiven Werk veröffentlichten Formulierungen als Aufruf zu Gewalt oder Hass qualifiziert werden konnten: «Il s’agit d’une critique d’un homme politique qui tient lui-même des propos de cette nature, ce dont témoignent les condamnations dont il a fait l’objet.»
Mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen akzeptierte der Gerichtshof auch die Bestrafung des Direktors der Zeitung «Libération», die 1999 eine von 97 zeitgenössischen Schriftstellern unterzeichnete Petition publiziert und dabei die diffamierenden Passagen des Romans wörtlich zitiert hatte. Die Verurteilung zu einer Geldbusse und zur Bezahlung von Schadenersatz erfolgte nach Auffassung der EGMR-Mehrheit nicht, weil die «Libération» das Strafurteil kritisiert oder weil sie sich mit den Verurteilten solidarisiert hatte. Der Schuldspruch beruhte darauf, dass sich die Zeitung die diffamierenden Vorwürfe zu eigen gemacht und die vom erstinstanzlichen Gericht als rechtswidrig bezeichneten Formulierungen unnötigerweise wiederholt hatte.
(Urteil der Grossen Kammer N° 21279/02 & 36448/02 «Lindon, Otchakovsky-Laurens & July c. Frankreich» vom 22. Oktober 2007)