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Plädoyer 3/03
01.06.2003
Drogensüchtige in Haft: Ungenügend betreut
Eine heroinabhängige und an Asthma leidende Frau musste ab dem 7. Dezember 1998 eine viermonatige Freiheitsstrafe wegen Diebstahls verbüssen. Der Gefängnisarzt untersuchte sie am 8., 10. und 11. Dezember, verschrieb ihr Injektionen gegen die Entzugssymptome und ordnete die Überwachung ihres Gewichts an. Der Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Am 14. Dezember musste die 31-jährige Frau in ein Spital verlegt werden, wo sie im J...
Drogensüchtige in Haft: Ungenügend betreut
Eine heroinabhängige und an Asthma leidende Frau musste ab dem 7. Dezember 1998 eine viermonatige Freiheitsstrafe wegen Diebstahls verbüssen. Der Gefängnisarzt untersuchte sie am 8., 10. und 11. Dezember, verschrieb ihr Injektionen gegen die Entzugssymptome und ordnete die Überwachung ihres Gewichts an. Der Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Am 14. Dezember musste die 31-jährige Frau in ein Spital verlegt werden, wo sie im Januar 1999 starb. Die beiden Kinder und die Mutter der Verstorbenen beschwerten sich in Strassburg wegen einer Verletzung des Verbots unmenschlicher und erniedrigender Behandlung durch die Gefängnisbehörden (Art. 3 EMRK).
Der Gerichtshof beanstandete mit 6 gegen 1 Stimme eine Verletzung von Artikel 3 EMRK. Die Gefängnisbehörden hatten ihre Pflicht zur medizinischen Versorgung von Inhaftierten dadurch verletzt, dass sie die Ursachen des alarmierenden Gewichtsverlusts nicht näher untersuchten und dass trotz der signifikanten Verschlechterung am Wochenende vor dem 14. Dezember keine weitere ärztliche Untersuchung und keine weiteren medizinischen Schritte vorgenommen wurden. Das Unterlassen einer wirksamen und rechtzeitigen medizinischen Betreuung verursachte Leid und eine sehr grosse Gefahr für die
Gesundheit der Inhaftierten. Ebenfalls verletzt wurde das Recht auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK), da die Angehörigen nach englischem Recht keine Möglichkeit hatten, das (Un)genügen der medizinischen Versorgung überprüfen zu lassen und eine Genugtuungssumme zu verlangen.
(Urteil der 2. Kammer des EGMR N° 50390/99 «McGlinchey u. a. c. Grossbritannien» vom 29. April 2003)
Parlamentarier: Immunität hat Grenzen
Ende Dezember hielt der Gerichtshof fest, dass es menschenrechtlich zulässig ist, wenn ein Staat für Äusserungen im Parlament eine absolute Immunität vor straf- und zivilrechtlicher Verfolgung vorsieht (Urteil N° 35373/97 «A. c. Grossbritannien» vom 17. 12. 2002). In zwei weiteren Urteilen macht der EGMR nun deutlich, dass diese Immunität im Falle von Äusserungen ausserhalb des Parlaments Grenzen findet. Einstimmig hat er zwei Beschwerden gutgeheissen, die der frühere Staatsanwalt Agostino Cordova wegen Missachtung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht (Art. 6 Abs. 1 EMRK) eingereicht hatte. Er war 1993 von Expräsident (und Senator auf Lebenszeit) Francesco Cossiga in sarkastischen Briefen und 1994 vom Parlamentarier Vittorio Sgarbi an Wahlveranstaltungen persönlich angegriffen worden. In beiden Fällen liess das Parlament die Ehrverletzungsklagen an der parlamentarischen Immunität scheitern.
Der Gerichtshof hielt fest, dass die umstrittenen Äusserungen keinen offensichtlichen Zusammenhang mit der Ausübung des parlamentarischen Mandats hatten, sondern eher auf einem Disput unter Privatpersonen beruhten. Dass eine Streitigkeit politischer Natur sei, vermöge für sich alleine keine Verweigerung des Zugangs zu rechtfertigen. Eine solche Beschränkung der Rechte ist gemäss EGMR besonders dann nur in engem Rahmen zulässig, wenn sie – wie hier – durch ein politisches Gremium beschlossen wird und wenn die betroffene Privatperson keine anderen Möglichkeiten zum Schutz ihrer Reputation hat.
(Urteile der 1. Kammer des EGMR N° 40877/98 und N° 45649/99 «Cordova c. Italien, N° 1 & 2» vom 30. Januar 2003)
Videoüberwachung: Folgen gravierend
Ein aussergewöhnlicher Vorfall in England gab dem Gerichtshof Anlass zu einem Entscheid über die Weitergabe behördlicher Videoaufnahmen: Geoffrey Peck litt 1995 an Depressionen und begab sich nachts mit einem Küchenmesser auf die Strasse, um sich die Pulsadern aufzuschneiden. Eine von der Gemeinde installierte Überwachungskamera (Closed Circuit Television, CCTV) filmte ihn. Das Aufnahmeteam informierte die Polizei, welche dem Mann ärztliche Hilfe vermittelte und ihn schliesslich nach Hause geleitete.
Die Filmaufnahmen zeigten einen aufgewühlten Mann mit Messer, aber keine konkrete Handlung. In Unkenntnis ihres Kontexts empfand die Gemeindebehörde die Aufnahme als Beispiel für die Abwehr einer potenziellen Gefahr und gab sie zur Publikation in den Medien frei. Zunächst erschienen Fotos in der Lokalpresse, danach – ungenügend anonymisierte – Filmausschnitte im regionalen Fernsehen. Ein halbes Jahr später strahlte das BBC-Programm «Crime Beat» (durchschnittliches Publikum: 9,2 Millionen) die Aufnahmen aus. Auch hier war die Verfremdung so schlecht, dass Peck von vielen Menschen aus seinem Umfeld erkannt wurde.
Der Gerichtshof kam einstimmig zum Schluss, dass die Weitergabe der Aufnahmen einen gravierenden Eingriff in Pecks Privatleben (Art. 8 EMRK) darstellte. Diese dienten zwar dem legitimen Anliegen der Verbrechensverhütung, war aber unverhältnismässig. Gerade wegen des Zusammenhangs zu kriminellen Handlungen hätten die Behörden höchste Vorsicht walten lassen müssen. Sie hatten drei Möglichkeiten zum Schutz der Rechte des Gefilmten: Sie konnten dessen Einwilligung zur Weitergabe einholen oder die Aufnahmen selber anonymisieren. Beides unterliessen sie. Sie konnten – drittens – mit höchster Sorgfalt darüber wachen, dass die Medien die Aufnahmen genügend anonymisieren würden. Dies taten die Behörden nicht ausreichend.
(Urteil der 4. Kammer des EGMR N° 44647/98 «Peck c. Grossbritannien» vom 28. Januar 2003)
(FZ)