Kein Recht auf straflose Hilfe zur Selbsttötung
In einem Urteil von grundsätzlicher Tragweite hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Beschwerde der, an einer unheilbaren Krankheit leidenden, 43-jährigen Diane Pretty abgewiesen.
Die Frau war vom Hals an abwärts gelähmt und konnte ihrem Leben ohne eine fremde Hilfe kein Ende setzen. Ihrem deutlich geäusserten Wunsch, ein qualvolles und unwürdiges Ende zu vermeiden, steht das englische Strafrecht entgegen. Es bedroht jegliche Beihilfe zur Selbsttötung mit einer Gefängnisstrafe bis zu 14 Jahren. Der zuständige «Director of Public Prosecutions» (DPP) lehnte es ab, dem Gatten für den Fall einer Beihilfe zum Suizid seiner Ehefrau Straffreiheit zuzusichern. Das House of Lords bestätigte diese Haltung.
In ihrem Urteil äussert die siebenköpfige Kammer des EGMR ihr Mitgefühl, verneint aber einstimmig jegliche Missachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Diane Prettys anwaltliche Vertretung rügte unter anderem den Artikel 3 EMRK, der vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung schützt: Der Staat sei für das ausnahmslose Verbot der Beihilfe zum Suizid verantwortlich und missachte damit seine Pflicht, die Frau vor einem qualvollen Sterben zu schützen. Diese Auslegung der EMRK-Formulierung «Behandlung» sprengt nach Ansicht des Gerichtshofs den üblichen Sinn des Wortes. Wie das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) verbiete diese Vorschrift primär, dass der Staat ein Individuum umbringt oder es unmenschlich behandelt. Zwar habe die Rechtsprechungin gewissen Konstellationen auch eine Pflicht des Staates zum Ergreifen positiver Schutzmassnahmen bejaht. Im vorliegenden Fall werde aber eine staatliche Pflicht zum Verzicht auf Strafsanktionen gegen todbringende Handlungen postuliert. Eine solche lasse sich aus Artikel 3 nicht ableiten.
Im Zusammenhang mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) berief sich die Beschwerdeführerin auf ihr Recht zur Selbstbestimmung. Artikel 8 schützt gemäss EGMR grundsätzlich auch die persönliche Entwicklung und Autonomie. Dazu gehöre das Recht, eine Aktivität auszuüben, welche als gesundheitsschädigend oder lebensgefährlich erscheint. Geschützt sei zum Beispiel auch der Entschluss, auf eine lebensverlängernde medizinische Behandlung zu verzichten. Die Einschränkung des Privatlebens war gemäss EGMR aber zulässig, da sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhte, einem legitimen Ziel diente und notwendig (verhältnismässig) war. Eine Lockerung des Verbots der Beihilfe zur Selbsttötung berge eine erhebliche Missbrauchsgefahr. Dieses Risiko müsse jeder einzelne Staat abschätzen. Angesichts der Wichtigkeit des Rechts auf Leben sei selbst ein ausnahmsloses Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung verhältnismässig.
Der Gerichtshof verneinte auch eine Diskriminierung der Beschwerdeführerin (Art. 14 EMRK) gegenüber anderen Menschen, welche in der Lage sind, ihrem Leben selber ein Ende zu setzen. Es gebe objektive und vernünftige Gründe für diese Rechtslage, da eine Grenzziehung – von anderen Suizidwilligen – sehr schwierig sei. Würde das gesetzliche Verbot der Beihilfe zum Suizid für Personen, welche sich nicht ohne fremde Hilfe töten können, aufgehoben, so würde der angestrebte Schutz des Lebens ausgehöhlt und die Gefahr von Missbräuchen massiv erhöht.
Diane Pretty starb wenige Tage nach Bekanntgabe des EGMR-Urteils.
(Urteil N° 2346/02 der 4. Kammer des EGMR «Diane Pretty c. Grossbritannien» vom 29. 4. 2002)
Schweiz tangierte Recht auf Familienleben nicht
Als offensichtlich unbegründet hat der Gerichtshof die Beschwerde eines seit 1972 (mit Unterbrüchen) in der Schweiz lebenden englischen Staatsbürgers bezeichnet, dem 1996 eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung verweigert wurde. Er machte eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) geltend, da ihn die erzwungene Ausreise an Kontakten mit seinen (erwachsenen) Kindern und seiner früheren Gattin hindere. Das schweizerische Vorgehen tangierte den Schutzbereich von Artikel 8 EMRK nicht.
(Zulässigkeitsentscheid N° 51268/99 der 4. Kammer des EGMR «Sadiq Mir c. Schweiz» vom 26. 3. 2002)
Gerichtsschreiber war an Verfahren nicht beteiligt
Ebenfalls unbegründet war die Beschwerde eines ehemaligen Immobilienverwalters, der nacheinander wegen gewerbsmässigen Betrugs verurteilt wurde und danach einen Zivilprozess gegen den früheren Arbeitgeber führte. Er behauptete eine Befangenheit des Basler Appellationsgerichts, da der Gerichtsschreiber in beiden Verfahren mitgewirkt habe. Der Gerichtshof hielt jedoch fest, der Gerichtsschreiber sei an der Entscheidfällung nicht beteiligt gewesen.
Ebenfalls nicht befangen war ein Richter des vierköpfigen Appellationsgerichts, der im erstinstanzlichen Zivilverfahren als Instruktionsrichter gewirkt und in diesem Rahmen die unentgeltliche Prozessführung verweigert hatte, weil der Kläger seine finanzielle Bedürftigkeit nicht nachgewiesen habe. Für den EGMR war wesentlich, dass der Instruktionsrichter damals nicht darüber zu befinden hatte, ob der Prozess aussichtslos war.
(Zulässigkeitsentscheid N° 54079/00 der 3. Kammer des EGMR «P. W. c. Schweiz» vom 18. 4. 2002)