Folter durch brutale Zwangsernährung
Die Strassburger Rechtsprechung lässt die Zwangsernährung von Hungerstreikenden zu, falls sie aus medizinischen Gründen (zur Lebensrettung) geboten ist. Dies war im Fall eines gegen die Verletzung seiner Rechte protestierenden moldawischen Häftlings nicht gegeben.
Die Gefängnisbehörden hatten den Häftling im Jahre 2001 insgesamt sieben Mal zur Einnahme von Milch und Honig gezwungen. Sein Leben war nicht in Gefahr. Die Zwangsmassnahme diente vielmehr dazu, ihn vom wiederholten Protest abzuhalten, den die Behörden als Akt des Ungehorsams empfanden und auch mit Einzelhaft sanktioniert hatten. Zudem war die Art der Zwangsernährung unnötig schmerzhaft und erniedrigend: Das Gefängnispersonal legte den Häftling in Handschellen und quälte ihn, bis er vor Schmerz den Mund öffnete, worauf mit einer Metallzange an seiner Zunge gezogen wurde. Ein solches Vorgehen missachtete das Verbot der Folter (Art. 3 EMRK).
(Urteil der 4. Kammer N° 12066/02 «Ciorap c. Moldawien» vom 19. Juni 2007)
Zurückhaltung bei Strafen gegen Journalisten
Kurz nach dem Tod des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand veröffentlichten zwei Journalisten das Buch «Les Oreilles du Président». Es befasste sich mit den illegalen Telefonabhörungen, die zwischen 1983 und 1986 unter dem Dekret «Mission de coordination, d’information et d’action contre le terrorisme» bei mehr als 2000 Personen (etwa bei Anwälten und Journalisten) durchgeführt worden waren. Die Affäre wurde 1992 aufgedeckt und führte unter anderem zu einem Strafverfahren gegen den Vizedirektor von Mitterrands Privatbüro, G.M.
Das 1996 publizierte Buch enthielt zahlreiche Passagen aus dem hängigen Verfahren (Wiedergabe verschiedener Dokumente aus dem Verfahrensdossier und von Aussagen aus den untersuchungsrichterlichen Einvernahmen). Auf Strafklage von G.M. verurteilte die französische Strafjustiz die beiden Buchautoren wegen der Verwendung von Dokumenten aus dem geheimen Untersuchungsverfahren, zu denen nur ans Untersuchungs- oder ans Berufsgeheimnis gebundene Personen Zugang hatten («recel de violation du secret de l’instruction ou du secret professionnel»).
Der Gerichtshof akzeptierte zwar, dass die Busse gegen die Journalisten dem legitimen Zweck diente, das Recht des Vizedirektors auf einen fairen Prozess und auf Wahrung seiner Unschuldsvermutung zu schützen. Auf der anderen Seite leistete das Buch einen Beitrag zur öffentlichen Debatte über eine Staatsaffäre. Es gibt nach Strassburger Rechtsprechung in einer demokratischen Gesellschaft nur wenig Raum für eine Beschränkung der Kritik an einflussreichen öffentlichen Personen. Dass ein Strafverfahren gegen G.M. lief, war in der Öffentlichkeit längst bekannt. Der Gerichtshof vermochte keine Anzeichen für einen negativen Einfluss des Buchinhalts auf den damals bevorstehenden Strafprozess zu erkennen, zumal G. M. erst viel später (im November 2005, das heisst fast ein Jahrzehnt nach der Buchpublikation) zu einer bedingten Gefängnisstrafe von sechs Monaten verurteilt wurde. Darüber hinaus hatte sich G. M. selber in verschiedenen Medienartikeln zur Affäre geäussert. Bei einer Bestrafung von Journalisten für die Veröffentlichung von Material aus dem geheimen Untersuchungsverfahren sei grösste Zurückhaltung am Platz. Im vorliegenden Fall war die Strafe nicht notwendig und der staatliche Eingriff in die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) trotz seines moderaten Umfangs unzulässig.
(Urteil der 3. Kammer N° 1914/02 «Dupuis u. a. c. Frankreich» vom 7. Juni 2007)
Recht auf Befragung in Sexualstrafprozess
Wegen sexuellen Missbrauchs seiner vierjährigen Tochter wurde ein polnischer Vater nach einem Indizienprozess zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.
Der bestrafte Vater beschwerte sich beim EGMR wegen einer Verletzung seines Rechts, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen (Art. 6 Abs. 3 Bst. d EMRK). Die 4. EGMR-Kammer hiess die Beschwerde gut. Dem Schutz des Opfers einer Sexualstraftat sei zwar Rechung zu tragen, doch müsse dieses Anliegen mit den Rechten einer wirksamen Verteidigung in Einklang gebracht werden. Angesichts des sehr jungen Alters des Opfers sei der Verzicht auf eine gerichtliche Befragung zwar verständlich. Die polnische Justiz habe aber keine sanfteren Methoden der Befragung (etwa indirekte Befragungsmöglichkeit für die Verteidigung durch Video-Übertragung) erwogen. Das Opfer wurde weder durch die Polizei noch durch die Staatsanwaltschaft noch durch das Gericht befragt. Das Gericht stellte entscheidend auf die Aussagen einer Psychologin ab, deren Gespräche mit dem Opfer nicht audiovisuell aufgezeichnet worden waren. Dem Angeschuldigten fehlte eine adäquate Möglichkeit, den Vorwürfen durch geeignete Fragen entgegenzutreten. Dies verletzte nach Ansicht der Gerichtsmehrheit den Grundsatz der Verfahrensfairness. Die Gerichtsminderheit (2 von 7 Gerichtsmitgliedern) betrachtete es hingegen als ausreichend, dass der Vater der Psychologin entsprechende Fragen stellen und ihren Bericht in Zweifel ziehen konnte.
(Urteil der 4. Kammer N° 21508/02 «W. S. c. Polen» vom 19. Juni 2007)
(FZ)
Publikation der Entscheide
Die Entscheide des EGMR wer- den in Reports of Judgements/ Recueuil des arrêts et décisions (Carl Heymanns Verlag KG, Luxemburger Strasse 449, DE-50939 Köln) in englischer und französischer Sprache offiziell veröffentlicht. Deutsche Übersetzungen finden sich bisweilen in der Europäischen Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ; N. P. Engel Verlag, Kehl am Rhein), in der Österreichischen Juristen-Zeitung (ÖJZ; Manzsche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Kohlmarkt 16, AT-1014 Wien) sowie im Newsletter des Österreichischen Instituts für Menschenrechte (Edmundsburg, Mönchsberg 2, AT-5020 Salzburg). Im Internet auf der Website des EGMR:
www.echr.coe.int