Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg ist eine Badewanne, in der rund 120000 pendente Fälle dümpeln. Oben fliessen jährlich über 55000 Fälle zu, unten in der gleichen Zeit über 35000 Fälle ab, dabei werden rund 32000 als unzulässig deklariert, 3000 materiell behandelt. Dieses Bild braucht Marc Wey, Stellvertreter des Ständigen Vertreters der Schweiz beim Europarat in Strassburg. Die Zahlen haben in den letzten zehn Jahren sprunghaft zugenommen: 1999 wurden noch 8400 Beschwerden eingereicht, 2009 waren es aufgrund der erst provisorisch vorliegenden Zahlen 57150, 15 Prozent mehr als noch 2008. Die Zahl der pendenten Fälle hat sich laut einem Memorandum von EGMR-Präsident Jean-Paul Costa seit 1999 fast verzehnfacht. 80 Prozent der Fälle betreffen dabei zwölf der 47 Europarats-Mitgliedsländer, 57 Prozent kommen aus nur vier Ländern. Der EGMR ist Opfer seines eigenen Erfolges.
Das Problem ist erkannt und eine erste Lösung dafür gibt es: Das 14. Zusatzprotokoll bietet unter anderem die Möglichkeit, dass statt der üblichen Siebner-Besetzung des Gerichts in klar zulässigen Fällen auch eine Dreierbesetzung reicht oder in klar unzulässigen Fällen statt drei Richtern ein Einzelrichter entscheiden kann.
Moskau deblockiert Zusatzprotokoll
Bereits vor zehn Jahren haben die Mitgliedsländer des Europarats dieses 14. Zusatzprotokoll beschlossen und nach und nach ratifiziert. Bis auf Russland. Doch in Kraft treten kann es erst, wenn alle Mitgliedsländer es ihnen nachgemacht haben. Jahrelang hatte Moskau die Umsetzung verunmöglicht. Doch am 15. Januar 2010 hat die Duma der Ratifizierung mit grosser Mehrheit zugestimmt.
Dennoch konnte das vereinfachte Verfahren für einige Länder bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2009 in Kraft treten: für alle Länder, die dem Zusatzprotokoll 14bis zugestimmt haben und so den Einzelrichter und die Dreierbesetzung akzeptiert haben. Dies sind rund die Hälfte der Mitgliedsländer. Auch die Schweiz hat der provisorischen Anwendung zugestimmt.
Die neue Regelung habe bereits zu spürbaren Resultaten geführt, erzählt Mark Villiger, Richter in Strassburg: Rund 2200 Fälle konnten in der zweiten Hälfte 2009 vom Einzelrichter entschieden werden. Von der Dreierbesetzung wurden kurz vor Weihnachten die ersten zwei Fälle entschieden.
Die Schweiz treibt Reformen voran
Auch wenn sich Villiger in Zukunft noch mehr Entlastung von diesen Massnahmen verspricht – vor allem, wenn das 14. Protokoll dann für alle Staaten gilt –, reichen diese offensichtlich noch nicht, um ein Überlaufen der Badewanne abzuwenden.
Die Schweiz, die momentan den Vorsitz des Europarates in Strassburg hat, möchte deshalb noch weitere Reformen vorantreiben. Sie hat für den 18. und 19. Februar in Interlaken eine Ministerkonferenz einberufen. Bereits im Vorfeld der Konferenz wurde ein Deklarationsentwurf erstellt. Marc Wey betont, dass es sich nicht um neue Vorschläge handle, sondern, dass lediglich Vorschläge gebündelt wurden, die bereits länger in Diskussion sind. Aufgenommen wurden zudem in erster Linie Vorschläge, die einigermassen mehrheitsfähig sind. Nicht aufgenommen wurde etwa der oft diskutierte Vorschlag, dass der EGMR nach dem Muster des US Supreme Courts das «Certiorari-Verfahren» (die Richter behandeln nur die Fälle, die sie für relevant halten) einführen könnte. Verfechter dieser Massnahme war der ehemalige Präsident des EGMR, der Schweizer Luzius Wildhaber.
Die Mitgliedsländer, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und der Gerichtshof diskutieren momentan den Entwurf. Aufgrund der Rückmeldungen wird die Schweizer Europarats-Präsidentschaft den Entwurf überarbeiten.
Die Massnahmen des Deklarationsentwurfs vom 11. Dezember 2009, der plädoyer vorliegt, lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Vergrösserung des Abflusses und Verkleinerung des Zuflusses.
Die einzige Massnahme zur Vergrösserung des Abflusses wäre diejenige, die Villiger die kurzfristig am hilfreichsten nennt: Die Aufstockung des Budgets, um mehr Personal anstellen zu können. Es ist allerdings fraglich, ob diese Massnahme reelle Chancen hat, in der Schlussdeklaration wirklich noch enthalten zu sein: Es ist wenig wahrscheinlich, dass viele Länder mehr Geld für die Strassburger Institutionen ausgeben wollen.
Von Filtern, Hürden und Zwängen
Doch auch die verschiedenen Massnahmen zur Verkleinerung des Zuflusses sind umstritten, und es ist fraglich, wie viele davon die Diskussionen vor und während der Konferenz überstehen werden. Es handelt sich dabei um:
- Verstärkte Durchsetzung der EMRK innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten. Wenn die Gerichte der einzelnen Vertragsstaaten die EMRK besser beachteten, würden viele Beschwerden gar nicht erst entstehen. Die Staaten sollen gemäss dem Deklarationsentwurf auch dafür sorgen, dass die EMRK und die Entscheide des EGMR stärker in der innerstaatlichen Gesetzgebung und Urteilen berücksichtigt und dass die entsprechenden Leute geschult werden. Zudem sollen die Staaten die EGMR-Urteile durchsetzen.
- Einschränkung des Individualbeschwerderechts: Obwohl das Recht auf Individualbeschwerde nicht angetastet werden soll, schlägt der Deklarationsentwurf die Prüfung einiger neuer Hürden zu ihrer Einschränkung vor.
- Gerichtsgebühr: Das heute kostenlose Verfahren soll kostenpflichtig werden. Allerdings ist unklar, wie dies konkret umgesetzt werden soll und ob alle dieselbe Gebühr entrichten müssten.
- Anwaltszwang: Schon bei Einreichung einer Beschwerde soll ein Anwalt eingeschaltet werden müssen. Dies ist heute erst ab Zulassung einer Beschwerde der Fall.
- Obligatorische Benutzung der offiziellen Sprachen Englisch und Französisch: Heute arbeitet der EGMR in 41 Sprachen, neu würden nur noch Beschwerden auf Französisch und Englisch entgegengenommen.
- Filtermechanismus: Es geht dabei vor allem darum, die unzulässigen Beschwerden herauszufiltern und effizient abzuhandeln. Denn diese machen heute rund 95 Prozent der Beschwerden aus und belasten die Richter auf Kosten der zulässigen Beschwerden.
Unter dem 14. Zusatzprotokoll macht es der Einzelrichter, nun sollen verschiedene Optionen geprüft werden: Eine neue Instanz, die sich um dieses Filtern kümmert, zusätzliche Richter, die sich um das Filtern kümmern, oder mehr Kompetenzen für die Gerichtsschreiber.
- Repetitive Beschwerden: Die Mitgliedsländer sollen einen Mechanismus einrichten, um solche Fälle abzuhandeln. Zudem soll die Möglichkeit von «Pilot-Urteilen» genauer geregelt werden, in denen nur einer von vielen vergleichbaren Fällen behandelt wird und so dem nationalen Gericht den Weg für alle anderen weist. Allenfalls sollen diese Fälle durch die «Filter-Instanz» erledigt werden.
Von den letzten beiden Massnahmen würde sich Villiger eine Entlastung versprechen. Und eine solche scheint ihm dringend geboten. «Die zunehmende Belastung ist jedenfalls für mich klar spürbar», sagt er. Und dies könne mittelfristig Richter daran hindern, besonders komplexen Fällen die nötige Zeit zu widmen: «Es wird immer schwieriger für mich, die nötige Ruhe zu finden, um die teilweise umfangreichen Akten in schwierigen Fällen vertieft zu studieren», sagt der Schweizer, der seit September 2006 am EMGR als Richter für Liechtenstein amtet und davor schon 15 Jahre beim EMGR tätig war.
Gegen Anwaltszwang, Gebühr und Sprachzwang
Bei den NGOs kommt der Deklarationsentwurf grundsätzlich gut an. Kritik haben sie jedoch an den drei Massnahmen zur Einschränkung des Beschwerderechts – der Gerichtsgebühr, dem Anwaltszwang und derr Sprachenpflicht. Amnesty International, das European Human Rights Advocacy Centre, die International Commission of Jurist und weitere NGOs kritisieren, dass damit das Recht auf Individualbeschwerde für all diejenigen eingeschränkt würde, die sich die Gerichtsgebühr oder einen Anwalt, der auf Englisch und Französisch kommunizieren kann, nicht leisten können.
Villiger weist auf eine weitere Neuerung hin, die auch für Entlastung des Gerichtes sorgen wird: Das 14. Zusatzprotokoll, das nun dank Russlands Ratifizierung in Kraft treten kann, enthält einen neuen Grund für Unzulässigkeit einer Beschwerde: Die Frage der Bedeutung der Wichtigkeit der Beschwerde für den Beschwerdeführer.
Dies wird die Möglichkeit bieten, das Recht auf Individualbeschwerde weiter einzuschränken. Mit dem Grundsatz «de minimis non curat praetor» ist dies ansatzweise auch im Deklarationsentwurf enthalten. Doch wie alle Inhalte des Deklarationsentwurfs ist dieser Grundsatz Stoff für Diskussionen, die wohl noch bis zur letzten Minute vor der Verabschiedung der Deklaration am 19. Februar geführt werden.
Die Deklaration muss schlussendlich im Konsensprinzip entschieden werden – wenn nur ein einziger Staat nicht mitmacht, ist der Reformversuch gescheitert.
Doch auch wenn der Reformversuch gelingen sollte, sind damit nicht alle Probleme des EGMR gelöst, sagt Richter Mark Villiger: «Bis diese Massnahmen alle umgesetzt wären und greifen würden, wird man bereits die nächste Reform angehen müssen.»
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Pour que Strasbourg ne soit plus submergé
La Suisse, pour son année de présidence du Conseil de l’Europe, s’est fixé plusieurs objectifs: elle veut accélérer les réformes de la Cour. En février, la Confédéra-tion helvétique a sollicité une conférence des ministres, un projet de déclaration est déjà prêt. Diverses mesures devraient décharger le tribunal: plus de personnel, une application renforcée de la CEDH, un nouveau mécanisme de filtrage et pour les recours à répétition. De plus, la limitation du droit au recours individuel devrait pouvoir être examinée.