1. Dem Urteil liegt eine formelle Wahrheit zugrunde
Sobald eine Klage oder ein Gesuch am Gericht anhängig gemacht ist, treten die Parteien und das Gericht in ein gegenseitiges Kommunikationsverhältnis. Die Parteien nehmen Prozesshandlungen vor, dem Gericht obliegt die Prozessleitung. Die Zivilprozessordnung (ZPO) regelt einerseits den äusseren Gang des Verfahrens und andererseits enthält sie Bestimmungen, welche der Verwirklichung des «wahren» Rechts dienen sollen.1
Sowohl die Substanziierungslast als auch die gerichtliche Fragepflicht sind Mittel, mit welchen die gegenseitige Kommunikation zwischen den Parteien und dem Gericht geregelt wird. Sie sollen zu einem Urteil führen, welches zeitnah die Streitigkeit entscheidet und so weit als möglich mit der materiellen Rechtslage übereinstimmt. Art. 55 Abs. 1 ZPO regelt die formelle Seite der Kommunikation und damit die «formelle Prozessleitung», während die gerichtliche Fragepflicht nach Art. 56 ZPO die gesetzliche Grundlage der «materiellen Prozessleitung» darstellt.2
Aufgabe des Gerichts in jedem strittig gebliebenen Zivilprozess ist es, den Rechtsfrieden durch ein «wahres» Urteil zu schaffen beziehungsweise wiederherzustellen. Doch was für eine Wahrheit dem Urteil zugrunde liegt, hängt in hohem Masse vom Verhalten der Parteien und deren Sachvorbringen ab. Die Justitia wird in den Bildern und Statuen mit einer Augenbinde dargestellt. Klassischerweise versinnbildlicht das Symbol der Blindheit, dass die Rechtsprechung unparteiisch und ohne Rücksicht auf das Ansehen einer Person erfolgt. Es kann aber auch dahingehend verstanden werden, dass Justitia nur das erfährt, was ihr von den Parteien tatsächlich im Rahmen der in der Prozessordnung vorgesehenen Parteivorträge vorgetragen wird.
Wenn eine Partei einen Umstand bewusst verschweigt oder einfach vergisst, wird er auch nicht Prozessinhalt. Dieselbe Folge tritt ein, wenn es einer Partei nicht gelingt, den von ihr vorgetragenen – wahren – Sachverhalt zu beweisen oder wenn diese Partei verschuldeterweise eine Frist verpasst und säumig wird. Sofern beide Parteien dem Gericht einen übereinstimmenden Sachverhalt vortragen – so auch bei unbestrittenen Behauptungen oder Zugeständnissen –, ist dieser dem Urteil ohne Beweisverfahren zugrunde zu legen, selbst wenn er nicht der materiellen Wahrheit entspricht.3
In all diesen Fällen ergeht ein Urteil, welchem eine formelle Wahrheit zugrunde liegt. Dieses Urteil ist genauso «richtig» und kann in Rechtskraft erwachsen wie ein Urteil, welchem der tatsächliche Sachverhalt und damit die materielle Wahrheit zugrunde liegt. Übereinstimmende Tatsachenbehauptungen der Parteien beziehungsweise Zugeständnisse, fehlerhaftes Behaupten, verschuldete Säumnis oder die Unfähigkeit, den Sachverhalt zu beweisen, können zu einem Auseinanderfallen von formeller und materieller Wahrheit führen.4
2. Substanziierungspflicht ist Teil der Verhandlungsmaxime
Die formelle Kommunikationsregel des Art. 55 Abs. 1 ZPO hält fest, dass es im Rahmen der vom Verhandlungsgrundsatz geprägten Verfahren Sache der Parteien ist, dem Gericht diejenigen Tatsachen vorzutragen, aus welchen sie ihre Ansprüche ableiten. Vorbehalten bleiben gemäss Art. 55 Abs. 2 ZPO die gesetzlichen Bestimmungen über die Feststellung des Sachverhaltes und die Beweiserhebung von Amtes wegen – also die sogenannte «Untersuchungsmaxime» beziehungsweise «eingeschränkte Untersuchungsmaxime». Die Parteien trifft somit die prozessuale Last, ihre Sachvorbringen dem Gericht bestimmt und vollständig vorzutragen. Das Gericht darf seinem Urteil in der Folge nur solche Tatsachen zugrunde legen, welche von den Parteien in das Verfahren prozesskonform eingebracht worden sind («da mihi facta, dabo tibi ius»).
Diese Regelung ist ein Grundpfeiler des klassischen Zivilprozesses und entspringt dem Gedanken, dass die Parteien am besten über den Sachverhalt orientiert sind. Sie sind am ehesten in der Lage, diejenigen Tatsachen geltend zu machen, aus denen sie ihre Rechtsansprüche ableiten. Weiter haben sie das eigennützige Interesse, dem Gericht alle zur Verwirklichung ihrer privaten Ansprüche dienlichen Tatsachen zu unterbreiten. Sie wollen schliesslich einen möglichst günstigen Entscheid für sich erwirken.5 Es steht den Parteien aber auch frei, zu entscheiden, ob sie dem Gericht tatsächlich sämtliche relevanten Fakten vortragen wollen – es ist nämlich nicht untersagt, dem Richter gewisse Tatsachen zu verschweigen. Der Verhandlungsgrundsatz ist insofern ein direkter Ausfluss der Privatautonomie.
Die Substanziierungslast als Teil des Verhandlungsgrundsatzes stellt eine prozessuale Obliegenheit der Parteien dar. Eine Unterlassung hat zur Folge, dass die ungenügend substanziierte Tatsache im Prozess nicht berücksichtigt wird. Sie wird damit nicht Prozessstoff und bleibt für das Urteil unbeachtlich, was zum Prozessverlust führen kann. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass man von der Substanziierungslast beziehungsweise der Substanziierungshürde spricht.
3. Anforderungen an die Parteien zur Substanziierung
Um der Substanziierungsobliegenheit zu genügen, ist der Sachverhalt durch die Partei schlüssig vorzutragen. Hierzu sind die rechtserheblichen Tatsachen zu behaupten («Behauptungslast») und im Einzelnen inhaltlich zu substanziieren («Substanziierungslast»). Das Mass der Substanziierungslast bestimmt sich dabei nach den Tatbestandsmerkmalen der angerufenen Norm.
Der Sachverhalt ist so umfassend und klar vorzutragen, dass er unter die Bestimmungen des materiellen Rechts subsumiert und darüber Beweis abgenommen werden kann. Sachvorbringen einer Partei sollen die Beurteilung des daraus abgeleiteten Anspruchs erlauben. Dabei bestimmt das Bundesrecht, wie weit ein Sachverhalt zu substanziieren ist.6 Nicht Gegenstand der Substanziierungslast sind unter anderem offenkundige sowie gerichtsnotorische Tatsachen. Diese müssen weder behauptet noch bewiesen werden. Im Zusammenhang mit den gesetzlichen Tatsachenvermutungen – zum Beispiel dem Vorliegen des guten Glaubens – ist nur die entsprechende Vermutungsbasis zu behaupten.7 Ebenso muss das Rechtliche nicht vorgetragen werden – das Gericht hat das Recht von Amtes anzuwenden («iura novit curia», Art. 57 ZPO). Es schadet deshalb nicht, wenn eine Partei ihren Anspruch auf einen falschen Rechtssatz abstützt, sofern sich dieser aufgrund des behaupteten Sachverhalts aus einer anderen Rechtsnorm ableitet. Selbst an übereinstimmende Rechtsauffassungen der Parteien ist das Gericht nicht gebunden. Rechtsfragen bilden auch nicht Gegenstand des Beweisverfahrens (Art. 57 ZPO und Art. 150 Abs. 1 ZPO).8
Die Anforderungen an die Substanziierung hängen indes nicht nur von der angerufenen Norm ab, sondern auch vom prozessualen Verhalten der Gegenpartei. Die Tatsachenbehauptungen sind zunächst so konkret zu formulieren, dass durch die Gegenpartei ein substanziiertes Bestreiten möglich ist.9 Bestreitet der Prozessgegner in der Folge das an sich schlüssige Vorbringen der behauptungsbelasteten Partei, kann diese gezwungen sein, die rechtserheblichen Tatsachen nicht nur in den Grundzügen, sondern so umfassend und klar darzulegen, dass darüber Beweis abgenommen werden kann.10
Um der Substanziierungslast nachzukommen, genügt somit das schlüssige Darlegen der rechtserheblichen Tatsachen ausgehend von den Tatbestandsmerkmalen der angerufenen Norm in dem Masse, dass darüber gegebenenfalls – je nach Bestreitungen des Prozessgegners – Beweis abgenommen werden kann. Abzulehnen ist daher, wenn die Gerichte die Anforderungen an die Substanziierung für die beweisbelastete Partei darüber hinaus noch weiter hinaufschrauben, falls die Gegenseite deren genügend substanziierte Ausführungen ebenso substanziiert bestreitet. Dies würde zu einem «Hochschaukeln» in der Substanziierung führen, die vom materiellen Recht nicht gefordert ist. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang zudem, dass sich die nicht beweisbelastete Partei mit einem blossen Bestreiten der einzelnen Elemente begnügen kann. Die Bestreitungslast darf nicht zu einer Umkehr der Beweislast führen.11
Mit Bezug auf die Substanziierung ist es indes naturgemäss so, dass jeder einzelne Richter beziehungsweise jedes Gericht seine eigenen Vorstellungen darüber hat, wie detailliert eine Partei ihre Behauptungen vorzutragen hat und wie ausführlich die Substanziierung erfolgen muss. Auch in den einzelnen Kantonen herrschen hierzu unterschiedliche Usanzen. Natürlich gibt es keine «mathematische» Formel, nach welcher die Anforderung an die Substanziierung festzulegen ist, hängt doch das Mass der Substanziierung einerseits von der Komplexität der angerufenen Norm(en) und andererseits von der Art der Rechtsschriften beziehungsweise der Plädoyers ab. Wenn indes das kantonale Gericht überhöhte Anforderungen an die Substanziierungslast stellt, indem es detailliertere Tatsachenbehauptungen verlangt als für die rechtliche Beurteilung des anspruchsbegründenden Sachverhalts nötig, so verletzt es Bundesrecht.12
Das Bundesgericht hat zudem auch festgehalten, dass eine Tatsachenbehauptung nicht alle Einzelheiten zu enthalten braucht. Es genügt, wenn «die Tatsache in einer den Gewohnheiten des Lebens entsprechenden Weise in ihren wesentlichen Zügen oder Umrissen behauptet worden ist».13 Die Parteien sind somit vor einer zu hohen Substanziierungshürde geschützt. Indes besteht nicht ganz zu Unrecht eine gewisse Furcht vor dem Vorwurf der unzureichenden Substanziierung – der «Substanziierungskeule». Bleiben nämlich Behauptungen ungenügend substanziiert, hat das Gericht ein Sachurteil zu fällen und die Klage abzuweisen.14
4. Verweis auf Beilagen ist keine Substanziierung
Die substanziierten Ausführungen einer Partei haben in den Rechtsschriften beziehungsweise im mündlichen Plädoyer zu erfolgen. Beilagen sind blosse Beweismittel. Nur das, was von einer Partei in ihrem Parteivortrag auch tatsächlich vorgetragen wird, gehört zum Behauptungsfundament.15 Das nachfolgende Beweisverfahren dient nicht dazu, lückenhafte Sachdarstellungen zu ersetzen oder zu ergänzen.16 Es geht mithin nicht an, dass im Rahmen des Beweisverfahrens zum Beispiel Aussagen von Zeugen, Ausführungen eines Gutachters oder die Parteibefragung beziehungsweise die Beweisaussage zur Ergänzung des Klagefundaments herangezogen werden. Tatsachen, welche nicht während der Parteivorbringen prozesskonform vorgetragen wurden, sind nicht Prozessgegenstand.
In der Praxis wird gerne versucht, die Substanziierungshürde damit zu umgehen, dass Beilagen zum «integrierenden Bestandteil der Rechtsschrift» erklärt werden. Ein solches Vorgehen vermag indes die ausreichende Substanziierung nicht zu ersetzen. Es ist nicht Sache des Richters, die rechtserheblichen Behauptungen aus den Akten zusammenzusuchen. Wird für bestimmte Tatsachen auf Beilagen verwiesen, so gelten die darin enthaltenen Tatsachen nur im Umfang der konkreten Verweisung als behauptet. Eine bloss allgemeine Bezugnahme auf eingereichte Akten oder die allgemeine Erklärung, alle eingereichten Akten bildeten integrierenden Bestandteil einer Rechtsschrift, genügt hingegen nicht.17 Ein Verweis vermag somit nur dann ein behauptetes Sachverhaltselement zu begründen, wenn er das Aktenstück und die Stelle ganz konkret nennt und für das Gericht und die Gegenseite klar ist, mit welchen Behauptungen sie sich auseinanderzusetzen haben.18
5. Richterliche Fragepflicht für Laien gedacht
Gegenstück beziehungsweise Ergänzung der Substanziierungslast der Parteien ist die durch das Gericht auszuübende Fragepflicht. Sie greift direkt in die Substanziierungslast der Parteien ein, indem sie diese abschwächt.19 Man kann auch von einer kompensatorischen Funktion der gerichtlichen Fragepflicht sprechen. Sie soll unter anderem verhindern, dass eine Partei um ihr Recht gebracht wird, falls sie an den hohen Anforderungen des Verhandlungsgrundsatzes beziehungsweise der Substanziierungslast zu scheitern droht. Art. 56 ZPO dient somit direkt der materiellen Wahrheitsfindung, deren Verwirklichung das prozessuale Unvermögen einer der Prozessparteien nicht verunmöglichen soll.
Das eigentliche «Zielpublikum» der gerichtlichen Fragepflicht ist der juristische Laie, welcher insbesondere im vereinfachten Verfahren genügend Hilfestellung zu erfahren hat, um seinen Anspruch auch ohne Beizug eines Rechtsanwalts geltend zu machen.20 Mittel der gerichtlichen Fragepflicht sind entweder entsprechende Fragen beziehungsweise Anregungen des Gerichts zuhanden einer der Parteien oder konkrete – mündliche oder schriftliche – «Substanziierungshinweise».
6. Fragepflicht nach Parteien und Materie unterschiedlich
Gemäss Art. 56 ZPO hat das Gericht dann einzugreifen, wenn das Vorbringen einer Partei «unklar, widersprüchlich, unbestimmt oder offensichtlich unvollständig» ist. Diese Anweisung an den verfahrensleitenden Richter tönt auf den ersten Blick klar und nachvollziehbar. In der Praxis ist es oft aber gar nicht einfach, das richtige Mass der Ausübung der richterlichen Fragepflicht zu finden. Unter dem Begriff «unklar bzw. widersprüchlich» kann man sich ungenaue oder zweideutige Aussagen vorstellen. Hier ist aber zu beachten, dass eine Partei während des Prozesses eine Tatsachenbehauptung abändern darf. So ist es zum Beispiel nicht verboten, im Rahmen des zweiten Parteivortrags die ursprüngliche Sachdarstellung fallen zu lassen und sogar das Gegenteil zu behaupten. Eine Partei darf auch Eventualbegründungen aufstellen, also verschiedene Abläufe des tatsächlichen Geschehens schildern, selbst wenn diese sich gegenseitig ausschliessen und so widersprechen. Dies ist zulässig und bietet keinen Anlass zur Ausübung der gerichtlichen Fragepflicht.21 Weiter können die Ausführungen einer Partei «unbestimmt», das heisst vage oder pauschal sein. Hier liegt der hauptsächliche Einsatzbereich der gerichtlichen Fragepflicht, da an diesem Punkt am offensichtlichsten die Substanziierung nicht erfüllt sein kann. Schwieriger umzusetzen ist hingegen die gesetzliche Anweisung, dass der Richter auch bei «offensichtlich unvollständigen» Vorbringen einzugreifen hat. Bei einer Lücke im Parteivortrag ist nämlich logischerweise eine Ergänzung des rechtlich relevanten Sachverhalts durch die Partei notwendig.
Das Gericht muss also die Partei dazu anleiten, die fehlenden, aber notwendigen Tatsachen vorzubringen. Sobald der Richter aber einen entsprechenden Hinweis macht und die Partei auf die Lücke hinweist, besteht die Gefahr einer direkten Beeinflussung des Prozessausgangs: Eine Partei kann es beispielsweise versäumen, die Verjährung einer Forderung geltend zu machen (Art. 127 ff. OR). Wenn nun der Richter die Partei auf die Möglichkeit der Erhebung der Verjährungseinrede aufmerksam macht, könnte die Partei dank diesem Hinweis den Prozess gewinnen, welchen sie andernfalls verloren hätte. Durch dieses Vorgehen würde der Richter seine Unparteilichkeit verlieren und den Grundsatz der Gleichbehandlung verletzen.
Ein solches richterliches Eingreifen ist daher klar abzulehnen. Im Rahmen der Verjährungseinrede kommt noch hinzu, dass der Richter diese nicht von Amtes wegen berücksichtigen darf (Art. 142 OR). Ein entsprechender richterlicher Hinweis würde damit auch Bundesrecht verletzen.22 Die Lage wird für den Richter beziehungsweise das Gericht nicht einfacher dadurch, dass das Ausmass der richterlichen Hilfestellung zudem von den Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles abhängt.
Das Mass der Fragepflicht richtet sich nämlich jeweils nach den intellektuellen Fähigkeiten der Parteien sowie danach, wie prozesserfahren oder eben prozessunerfahren eine Partei ist beziehungsweise ob eine Partei anwaltlich vertreten ist. Weiter kommt es auf die Verfahrensart, den Inhalt des Prozesses und die Schwierigkeit der Materie an.23
7. Fragepflicht nur im Behauptungsverfahren
Der Ausübung der gerichtlichen Fragepflicht sind weitere Grenzen gesetzt. So nimmt die gerichtliche Fragepflicht den Parteien die Verantwortung für die zeitgerechte Prozessführung nicht ab. Tatsachen müssen innerhalb der gesetzlich vorgegebenen zeitlichen Schranken behauptet und belegt werden (Art. 229 ZPO).24 Zudem braucht es einen Anlass, damit die Fragepflicht aktuell wird («Vorbringen einer Partei»). Die gerichtliche Fragepflicht darf mithin erst dann zum Zuge kommen, wenn die Partei eine Tatsache mindestens ansatzweise behauptet hat beziehungsweise ein rudimentärer Tatsachenvortrag vorliegt.
Der Richter darf eine Partei nicht auf Tatsachen aufmerksam machen, die von ihr nicht vorgebracht wurden, denn: «Wo nichts vorgebracht wird, gibt es auch nichts nachzufragen.»25 Wie die Substanziierungslast bezieht sich auch die gerichtliche Fragepflicht einzig auf die Sammlung des Prozessstoffs und damit auf das Tatsächliche.26 Als Gegenstück beziehungsweise Ergänzung der Substanziierungslast der Parteien hat die gerichtliche Fragepflicht grundsätzlich Sachbehauptungen zu rechtserheblichen Tatsachen zum Gegenstand, hingegen nicht das Rechtliche. Der Richter darf also nicht einer Partei Rechtshinweise geben oder sie über eine materielle Unrichtigkeit aufklären. Ebenso wenig hat das Gericht die Parteien auf den entscheidrelevanten Sachverhalt hinzuweisen.27
Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn der Parteivortrag aufgrund einer bisher nicht bedachten Rechtsnorm unvollständig ist.28 Unzulängliche Rechtsbegehren fallen nicht unter die gerichtliche Fragepflicht. Denn wenn das Gericht einer Partei bei der Stellung ihrer Rechtsbegehren hilft, so bietet es ihr damit eine unzulässige prozessuale Hilfestellung beziehungsweise Rechtsberatung. Aus Art. 56 ZPO lässt sich keine Pflicht des Gerichts ableiten, die Parteien in prozessualen Fragen zu beraten. Das Gericht würde seine Unabhängigkeit vielmehr verlieren, wenn es einer Partei darlegen würde, was sie zu beantragen hat.29 In solchen Fällen hat allenfalls – sofern die Voraussetzungen erfüllt sind – Art. 132 Abs. 2 ZPO zu greifen, wonach den Parteien Frist zur Behebung von Mängeln angesetzt werden kann.30 Für die gegenteilige Ansicht finden sich keine Anhaltspunkte im Gesetz.31
Auch das Beweisangebot kann unzulänglich oder fehlerhaft sein, so bei fehlenden oder unvollständigen Beweisofferten. Während das Gesetz für das vereinfachte Verfahren ausdrücklich vorsieht, dass der Richter darauf hinzuwirken hat, dass die Parteien die Beweismittel bezeichnen (Art. 247 Abs. 1 ZPO), fehlt ein entsprechender Hinweis für das ordentliche beziehungsweise summarische Verfahren. Das Bundesgericht scheint eine Unterstellung von Beweisofferten unter Art. 56 ZPO in diesen Fällen abzulehnen: Die gerichtliche Fragepflicht trage dem Gericht nicht auf, einer Partei bei der Beweisführung behilflich zu sein.32 Zudem kann eine Partei aus dem für sie ungünstigen Beweisergebnis auch nicht ableiten, ihre Vorbringen seien mangelhaft im Sinne von Art. 56 ZPO gewesen.33
8. Fragepflicht bei Anwaltsvertretung fraglich
Weiter dient die gerichtliche Fragepflicht nicht dazu, prozessuale Nachlässigkeiten beziehungsweise eine prozessuale Unsorgfalt auszugleichen. Unsorgfältige Prozessführung darf mithin durchaus Rechtsverlust zur Folge haben. Im Übrigen soll die richterliche Fragepflicht nie die zumutbare Mitwirkung der Parteien bei der Feststellung des Sachverhalts ersetzen und darf den Parteien auch nicht die grundsätzliche Substanziierungslast abnehmen.34 Eine Partei, welche den Prozess schlecht vorbereitet hat, darf mittels Hinweisen durch das Gericht zudem nicht in die Lage versetzt werden, das Versäumte nachzuholen.35
Für das Gericht besteht hier die grosse Herausforderung darin, diejenigen Situationen, bei denen widersprüchliche, unklare, unbestimmte oder offensichtlich unvollständige Vorträge aufgrund eines unverschuldeten Unvermögens einer Partei vorliegen, von denjenigen Fällen abzugrenzen, bei welchen diese Mängel auf eine prozessuale Unsorgfalt zurückzuführen sind. Bei Laien hat der Richter das Mass ihrer intellektuellen Fähigkeiten und ihrer jeweiligen Prozesserfahrung einzuschätzen. Falls eine oder beide der Parteien anwaltlich vertreten sind, so besteht die allgemeine Erwartung an die Fähigkeit der Parteivertreter zur sorgfältigen Prozessführung (Art. 7 BGFA). Wenn es einem zur Berufsausübung befähigten Anwalt nicht gelingt, auf dem Niveau des objektiven Sorgfaltsmassstabs zu prozessieren, stellt dies grundsätzlich eine prozessuale Unsorgfalt dar.36
Es fragt sich daher, ob bei einer anwaltlichen Vertretung die gerichtliche Fragepflicht überhaupt noch zum Zuge kommt. Anwälte verfügen über dieselbe – und oft sogar noch über eine bessere – Ausbildung als der Richter, weshalb sie der Fürsorge des Gerichts nicht bedürfen. In der Literatur wird verschiedentlich die Ansicht vertreten, dass die gerichtliche Fragepflicht bei Beizug eines Anwalts zwar greifen solle, indes in geringerer beziehungsweise gemilderter Form.37 Das Bundesgericht hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass die richterliche Fragepflicht bei anwaltlich vertretenen Parteien nur eine sehr eingeschränkte Tragweite hat.38 Diese Überlegung entspricht auch dem Grundsatz, dass mit Bezug auf das Mass der richterlichen Hilfestellung die jeweiligen Fähigkeiten der Parteien – und hierunter zählen auch entsprechende Fähigkeitszeugnisse von Bevollmächtigten – zu berücksichtigen sind.39
9. Neutralität des Richters nicht gefährden
Die obigen Ausführungen zeigen, dass die gerichtliche Fragepflicht direkt in den Verhandlungsgrundsatz beziehungsweise in die Substanziierungslast eingreift. Es kommt zu einer «Verzahnung» der prozessualen Last der Parteien, ihre Sachvorbringen bestimmt und vollständig dem Gericht vorzutragen, mit der richterlichen Fürsorgepflicht als Mittel zur Milderung dieser Last beziehungsweise der Suche nach der materiellen Wahrheit. Das Gericht hat im Rahmen der Verfahrensleitung sowohl der formellen als auch der materiellen Prozessleitung nachzuleben und dabei die jeweiligen Besonderheiten des einzelnen Falls zu berücksichtigen.
Es ist darauf zu achten, dass das Element der materiellen Prozessleitung nicht Überhand gewinnt, denn dann besteht die immanente Gefahr, dass die Neutralität des Gerichts in Frage gestellt wird. Gerichtliche Hinweise können zu einer einseitigen Bevorzugung einer der Prozessparteien und im Extremfall sogar zu einem anderen Prozessausgang führen. Aufgrund der im Rahmen des Verhandlungsgrundsatzes geltenden Substanziierungsobliegenheit der Parteien ist es daher unabdingbar, die gerichtliche Fragepflicht äusserst zurückhaltend auszuüben.
Die Unparteilichkeit des Richters beziehungsweise des Richtergremiums darf nicht gefährdet werden und die gerichtliche Fragepflicht darf auch nie zu einer Beeinträchtigung des Grundsatzes der Waffengleichheit führen.40 Die Bevorzugung einer der Parteien ist strikte zu vermeiden. Das Gericht kann seine Funktion innerhalb der Gesellschaft nur dann uneingeschränkt wahrnehmen, wenn es dem Grundsatz der Unabhängigkeit bedingungslos nachlebt. Nur dann kann die Justiz die notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung erfahren. Die richterliche Neutralität muss daher immer das oberste Gebot der Verfahrensleitung und der Rechtsprechung bleiben.
Vgl. zum Ganzen Myriam A. Gehri, Art. 56 N 1, in: Karl Spühler / Luca Tenchio / Dominik Infanger (Hrsg.), Basler Kommentar Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl.,
Basel 2013; sowie Christoph Hurni, Art. 56 N 4 f., in: Berner Kommentar Schweizerische Zivilprozessordnung, Band I: Art. 1–149 ZPO, Bern 2012.
Vgl. auch Daniel Glasl, Art. 55 N 1, in: Alexander Brunner / Dominik Gasser / Ivo Schwander (Hrsg.), Dike Kommentar Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen 2016.
Vgl. indes Art. 153 Abs. 2 ZPO, wonach das Gericht von sich aus Beweis erheben kann, wenn
an der Richtigkeit einer nicht streitigen Tatsache erhebliche Zweifel bestehen.
Glasl, a.a.O., Art. 55 N 9.
Vgl. Glasl, a.a.O., Art. 55 N 5; Hurni, a.a.O., Art. 55 N 6.
Vgl. u. a. BGer 4A_501/2014
vom 18.12.2014, E. 3.1.;
BGer 4A_42/2011
vom 15.7.2011, E. 8.1.;
Glasl, a.a.O., Art. 55 N 21 ff.; Gehri, a.a.O., Art. 55 N 2 ff.
Vgl. zum Ganzen Glasl, a.a.O., Art. 55 N 30;
Hurni, a.a.O., Art. 55 N 30 ff.
Glasl, a.a.O., Art. 57 N 4.
Vgl. u. a. BGer 4A_501/2014
vom 18.12.2014, E. 3.1.
BGE 127 III 365, E. 2.b; vgl. auch Glasl, a.a.O., Art. 55 N 21 f.
Hurni, a.a.O., Art. 55 N 37 ff.
BGer 4A_501/2014
vom 18.12.2014, E. 3.1.
BGE 136 III 322, E. 3.4.2.
Vgl. Hurni, a.a.O., Art. 55 N 15; Glasl, a.a.O., Art. 55 N 28.
Glasl, a.a.O., Art. 55 N 26.
Vgl. u. a. BGE 127 III 365, E. 2c; BGer 4A_42/2011
vom 15.7.2011, E. 3.2.;
Hurni, a.a.O., Art. 55 N 29.
BGer 4A_149/2009 bzw. 4A_141/2009 vom 7.9.2009,
E. 13.3.; Entscheid LB140037-O des Obergerichts des Kantons Zürich vom 29.10.2014, E. III./3.4.
Vgl. zum Ganzen u. a. Hurni, a.a.O., Art. 55 N 21;
Glasl, a.a.O., Art. 55 N 26 f.
Vgl. Botschaft zur ZPO, Bundesblatt 2006, S. 7275.
Vgl. Hurni, a.a.O., Art. 56 N 3; Gehri, a.a.O., Art. 56 N 3 ff.
Vgl. Glasl, a.a.O., Art. 56 N 15.
Vgl. zum Ganzen Gehri, a.a.O., Art. 56 N 15; Hurni, a.a.O., Art. 56 N 24 f., welcher allerdings den Hinweis auf Einreden unter gewissen Bedingungen zulassen will.
BGer 5A_921/2014 vom 1.3.2015, E. 3.4.2.; Stephan Mazan, Art. 247 N 16 ff., in: Karl Spühler / Luca Tenchio / Dominik Infanger (Hrsg.),
Basler Kommentar Schweizerische
Zivilprozessordnung, 2. Aufl.,
Basel 2013;
Hurni, a.a.O., Art. 56 N 27 ff.
BGer 5A_921/2014 vom 11.3.2015, E. 3.4.2.; Gehri, a.a.O., Art. 56 N 6; Hurni, a.a.O., Art. 56 N 11 und N 41.
Hurni, a.a.O., Art. 56 N 9; siehe ferner Gehri, a.a.O., Art. 56 N 8.
Glasl, a.a.O., Art. 56 N 12.
BGE 108 Ia 293, E. 4c; Glasl, a.a.O., Art. 56 N 24; Gehri, a.a.O., Art. 56 N 12.
Vgl. zum Ganzen Glasl, a.a.O., Art. 56 N 25; Hurni, a.a.O., Art. 56 N 20.
Vgl. BGE 137 III 617, E. 5.2.; BGer 5A_2/2013 vom 6.3.2013,
E. 4.2.; Glasl, a.a.O., Art. 56 N 19; a.M. Hurni, a.a.O., Art. 56 N 20.
Vgl. Glasl, a.a.O., Art. 56 N 22; Nina J. Frei, Art. 132 N 14, in: Berner Kommentar Schweizerische Zivilprozessordnung, Band I: Art. 1–149 ZPO, Bern 2012.
Vgl. die Systematik von Art. 56 ZPO sowie die Marginalie zu Art. 247 Abs. 1 ZPO: «Feststellung des Sachverhalts».
BGer 5A_921/2014 vom 1.3.2015, E. 3.4.2.; BGer 5A_586/2011 vom 20.10.2011, E. 2.4.2.; BGer 4A_444/2013 vom 5.2.2014,
E. 6.3.3., in: sic! 6/2014, S. 367; BGE 139 III 278, E. 4.3.
Hurni, a.a.O., Art. 56 N 21.
Vgl. zum Ganzen: BGer 5A_115/2012 vom 20.4.2012,
E. 4.5.2.; BGE 139 III 278, E. 4.3.;
BGE 115 II 464, E. 1.; BGer 4P.84/2003 vom 28.8.2003, E. 4.2.;
BGer 4A_169/2011 vom 9.7.2011, E. 5.4.; Hurni, a.a.O., Art. 56 N 26;
Gehri, a.a.O., Art. 56 N 14.
Vgl. Gehri, a.a.O., Art. 56 N 15.
Vgl. auch Hurni, a.a.O., Art. 56
N 29.
Hurni, a.a.O., Art. 56 N 27 ff.; Gehri, a.a.O., Art. 56 N 3;
Glasl, a.a.O., Art. 56 N 6.
BGer 4A_375/2015 vom 26.1.2016, E. 7.1.; BGer 4A_336/2014 vom 18.12.2014, E. 7.6.; BGer 4A_57/2014 vom 8.5.2014, E. 1.3.2.; BGer 4D_57/2013 vom 2.12.2013, E. 3.2.; vgl. auch BGer 4A_169/2011 vom 19.7.2011, 5.4., wonach aufgrund der anwaltlichen Vertretung des Beschwerdeführers «keine Gefahr von Nachteilen wegen Rechtsunkenntnis» bestand und damit «die Fragepflicht der Vorinstanz grundsätzlich eingeschränkt war».
Mazan, a.a.O., Art. 247 N 16.
Vgl. BGer 4P.84/2003
vom 28.8.2003, E. 4.2.