Die Parole «Catalunya, nou estat d’Europa!» – «Katalonien, ein neuer Staat Europas!» stand bereits im Jahr 2012 im Zentrum einer Protestbewegung, welche die Unabhängigkeit der autonomen Provinz Katalonien vom spanischen Staat forderte. Nach den Ereignissen der letzten Wochen, die in der Unabhängigkeitserklärung des katalanischen Regionalparlaments gipfelten, fragen sich nun aber viele: «Catalunya, nou estat d’Europa...?»
Die Situation in Katalonien – so einzigartig sie ist – steht auch exemplarisch für das Spannungsfeld zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem Recht der Staaten auf territoriale Integrität. Das Verlangen nach Selbstbestimmung ist nicht auf die nordöstliche Region der iberischen Halbinsel beschränkt. Neben den Kurden, die im Norden Iraks ihre Pläne für einen unabhängigen Staat vorantreiben, beobachten auch andere Gruppen in Europa mit unterschiedlich weit gehenden Autonomieforderungen die Entwicklungen in Katalonien aufmerksam – so in Schottland, Istrien, Schlesien, auf den Färöern, in der Lombardei oder im Südtirol. Auch weltweit gesehen interessiert Katalonien – etwa in der Westsahara oder im Kaschmir.
Die Idee der kollektiven Selbstbestimmung reicht Jahrhunderte zurück. Ihre Ansätze finden sich bereits in den Texten von Rousseau, Locke und Montesquieu. Sie manifestieren sich im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg von 1776 sowie der Französischen Revolution von 1789. Im 19. Jahrhundert wiederum verbreitete sich die Maxime, dass jede Nation auch ihren eigenen Staat haben sollte. Im Fall des Königreichs Italien (1870) wirkte dieses Prinzip einigend. Der Zerfall von Österreich-Ungarn (1918) steht aber für das Gegenteil.
Auftrieb nach dem Zweiten Weltkrieg
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts engagierte sich US-Präsident Woodrow Wilson für ein Selbstbestimmungsrecht der Völker als Schlüssel zur Demokratisierung der Welt. Seine Vision fand jedoch nach dem Ersten Weltkrieg weder im Vertrag von Versailles noch in der Satzung des neu gegründeten Völkerbunds Eingang. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr das Konzept international neuen Auftrieb – nicht nur in der Charta der Vereinten Nationen (1945) und den beiden Uno-Menschenrechtspakten (1966), sondern auch in zahlreichen Resolutionen und Erklärungen. Dabei gehören die Dekolonisierungerklärung (1960), die Friendly Relations Declaration (1970) und die Schlussakte von Helsinki (1975) zu den bedeutendsten.
Auch der Internationale Gerichtshof (IGH) im niederländischen Den Haag anerkannte wiederholt den universellen und gewohnheitsrechtlichen Charakter des Selbstbestimmungsrechts der Völker, so etwa im Fall Nicaragua (1986) oder im Barcelona-Traction-Fall (1970).
Inhaltlich wird in der Lehre und Praxis zuweilen zwischen einem «externen» und einem «internen» Selbstbestimmungsrecht unterschieden. Beim externen Selbstbestimmungsrecht handelt es sich um das Recht, den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Status ohne äussere Einmischung festzulegen, wie es zum Beispiel in der Friendly Relations Declaration heisst. Diese ist jedoch rechtlich nicht bindend.
Im Unterschied dazu steht das interne Selbstbestimmungsrecht, nach dem der politische Status frei bestimmt und die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung gestaltet werden kann. So wird es übereinstimmend in den Uno-Menschenrechtspakten von 1966 aufgeführt. Bei dieser Variante hat der Prozess jedoch innerhalb bestehender Staatsgrenzen zu erfolgen. In der Schweiz könnte also der mit dem föderativen System einhergehende «Kantönligeist» als Ausdruck des internen Selbstbestimmungsrechts gesehen werden.
Der Träger des Selbstbestimmungsrechts ist so eindeutig wie vage: «Völker» beziehungsweise das «Volk». Prinzipiell vor fremder Herrschaft geschützt sind Staatsvölker, wie es sich etwa aus dem völkerrechtlichen Aggressionsverbot ergibt. Ein weiterer Schutz wie das explizite Selbstbestimmungsrecht der Völker erübrigt sich folglich. Im Zeitalter der Dekolonisierung in den Sechzigerjahren waren unzweifelhaft und ausschliesslich Völker unter kolonialer Fremdherrschaft als Träger des Selbstbestimmungsrechts gemeint. Die Ausschliesslichkeit zeigte sich daran, dass die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts nur Völkern in Übersee und nur innerhalb der von den Kolonialmächten festgelegten Staatsgrenzen zugestanden wurde – ohne Rücksicht auf die Heterogenität der Gesamtbevölkerung.
Unterscheidung zwischen “Volk” und “Minderheit”
Heute jedoch fallen Kolonialvölker als Normträger weg, während zugleich das «Volk» als Definitionssubjekt unscharf bleibt. In Lehre und Praxis, so im IGH-Gutachten zur Westsahara (1975), werden als Annäherung häufig zwei supplementäre Merkmalselemente verwendet, um eine Gruppe als Volk zu qualifizieren: Das objektive Element umfasst kumulative Eigenschaften wie eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Religion und gemeinsame Kultur. Als subjektives Element hinzu kommt eine gemeinsame Identität im Sinn eines Zusammengehörigkeitsgefühls. Einem anhand dieser Elemente definierten «Volk» steht die «Minderheit» gegenüber. Im Gegensatz zu einem Volk mit einem absoluten Recht auf externe Selbstbestimmung steht einer Minderheit «bloss» ein internes Selbstbestimmungsrecht im Sinn einer mehr oder weniger weit gehenden staatsinternen Autonomie zu.
In der Praxis ist die Unterscheidung zwischen einem «Volk» und einer «Minderheit» oft schwierig und die Grenzen sind fliessend. Eine heutzutage weitherum akzeptierte Definition entwarf der Uno-Sonderberichterstatter Francesco Capotorti 1977. Demnach definieren eine Minderheit nebst dem subjektiven Element der Gruppenidentität mehrere objektive Elemente: Die Mitglieder der Minderheit sind Staatsbürger des Aufenthaltsstaats und unterscheiden sich von der Restbevölkerung alternativ durch ethnische, religiöse oder sprachliche Merkmale. Eine Minderheit steht zusätzlich in einer sowohl numerisch unterlegenen wie auch nicht-dominanten Position in Bezug zur Gesamtbevölkerung.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker steht allerdings zumeist dem Recht der Staaten auf territoriale Integrität entgegen. Als eines der Kernkonzepte des Völkerrechts steht die territoriale Integrität der Staaten als Garant für Stabilität und Frieden in den internationalen Beziehungen. Deshalb findet sich die territoriale Integrität auch in der Uno-Charta, der Friendly Relations Declaration und der Schlussakte von Helsinki als relativierende Komponente des Selbstbestimmungsrechts. Denn eine Beschränkung der territorialen Unversehrtheit oder gar der Verlust von Territorium nicht nur durch andere Staaten, sondern auch durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts eines Teils der eigenen Bevölkerung durch Sezession liegt nicht im Interesse der Staaten.
Im Falle einer Sezession – also der Separation eines Gebietsteils von einem bestehenden Staat mit dem Ziel der Unabhängigkeit – kollidiert das Konzept des Selbstbestimmungsrechts der Völker mit jenem der territorialen Unversehrtheit der Staaten. Aufgrund des Fehlens eines völkerrechtlichen Verbots ist eine einseitige Unabhängigkeitserklärung zwar per se noch nicht völkerrechtswidrig, wie der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten zum Kosovo (2010) feststellte. Doch kann ein Staat solche Bestrebungen zur Unabhängigkeit auf innerstaatlicher Ebene verbieten. Deshalb erklärte Spanien das Referendum zur katalanischen Unabhängigkeit für verfassungswidrig.
Heikle Anerkennung durch Drittstaaten
Würde nun ein Drittstaat die aus der Unabhängigkeitserklärung folgende Sezession anerkennen, könnte der betroffene Staat dies als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten verstehen und Sanktionen gegen den Drittstaat ergreifen. Dies trifft natürlich nicht zu, wenn der Mutterstaat der Abspaltung zustimmt, wie dies etwa bei der beabsichtigten schottischen Unabhängigkeit 2014 durch die Billigung der britischen Regierung der Fall war.
Die vorgängige Zustimmung des betroffenen Staates zur beabsichtigten Sezession ist somit wesentlich für die Anerkennung durch Drittstaaten. Fehlt diese Akzeptanz des Mutterstaats, verweigern üblicherweise auch andere Staaten ihre Anerkennung. Dies geschah etwa bei der Abspaltung der Krim von der Ukraine.
Zusätzlich zur Zustimmung des betroffenen Staats sind weitere Faktoren für die Anerkennung durch Drittstaaten relevant. Nebst den Effektivitätskriterien (Staatsvolk, Staatsterritorium und effektive Regierung) spielen Legalitätskriterien eine Rolle. Drittstaaten werden eine neue Situation nicht als rechtmässig akzeptieren, wenn diese im Widerspruch zu bestehendem Recht geschaffen wurde.
Darüber hinaus sind Legitimitätskriterien bei Anerkennungserwägungen wichtig, wenn nicht entscheidend. Deshalb können Ausnahmesituationen entstehen und trotz Opposition des Mutterstaats Sezessionen durch Drittstaaten anerkannt werden. Hierbei wird die beschriebene Unterscheidung von innerem und äusserem Selbstbestimmungsrecht» aufgehoben und stattdessen in einem Stufenverhältnis verstanden.
Wird einer Minderheit in krasser Weise und unter Missachtung elementarer Menschenrechte das innere Selbstbestimmungsrecht verweigert, können andere Staaten Ansprüche auf ein äusseres Selbstbestimmungsrecht als letzten Ausweg anerkennen. Dies geschah bei der Abspaltung Kosovos von Serbien. Zwar wies die serbische Regierung diese zurück, doch veranlasste die systematische Unterdrückung der kosovarischen Bevölkerung durch Serbien bislang über 110 Uno-Mitgliedstaaten dazu, die Sezession Kosovos anzuerkennen. Trotz dieser hohen Akzeptanz ist diese Abspaltung bis heute nicht ganz unumstritten. Ein anderes Beispiel ist Osttimor, das nach einem Völkermord, bei dem Hunderttausende durch die indonesische Zentralregierung ermordet wurden, nach einem Referendum (1999) im Jahr 2002 die vollständige und international anerkannte Unabhängigkeit erlangte.
Katalonien: Nur internes Selbstbestimmungsrecht
Auch im Fall von Katalonien sehen sich die Drittstaaten konfrontiert mit dem Gegensatz zwischen dem katalanischen Recht auf Selbstbestimmung und dem Recht Spaniens auf territoriale Integrität. International gelten die Katalanen jedoch als Minderheit innerhalb des spanischen Staats und nicht als eigenes Volk. Folglich steht ihnen kein Recht auf absolute Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu, sondern ausschliesslich ein Recht auf interne Selbstbestimmung. Auch wenn das spanische Verfassungsgericht 2010 gewisse Autonomierechte der Katalanen widerrief und es am Tag des Unabhängigkeitsreferendums zu einem erschreckenden Ausmass an Polizeigewalt kam, ist zweifelhaft, ob es sich dabei bereits um eine systematische Unterdrückung der Katalanen durch die Zentralregierung handelt.
Auch wenn der spanische Staat das katalanische Parlament und die Regierung temporär des Amtes enthoben hat, scheint er prinzipiell den Katalanen weiter zu erlauben, ihre Sprache und Kultur zu leben. Überdies stellt sich die Regierung auf den Standpunkt, dass das Unabhängigkeitsreferendum nicht verfassungskonform war.
Es besteht für Drittstaaten demnach keine Veranlassung, das Interesse der Katalanen über dasjenige der Spanier zu stellen und ein eigenständiges Katalonien anzuerkennen. In diese Richtung haben sich gemeinsam mit der EU und der Uno bereits eine überwiegende Zahl von Drittstaaten geäussert und einer etwaigen Anerkennung eine Absage erteilt. Strebten die Katalanen weiterhin eine vollständige Unabhängigkeit an, würde dies wahrscheinlich zu ihrer internationalen Isolation führen. Im Ergebnis könnten wohl nur die – gegenwärtig verweigerte – Zustimmung des spanischen Staates oder andernfalls gravierende Menschenrechtsverletzungen gegen die Katalanen andere Staaten zu einer Anerkennung eines unabhängigen katalanischen Staates bewegen.