1. Einleitung
Es gibt im Strafverfahren keinen Numerus clausus der Beweismittel. Im Rahmen des Rechts dürfen sämtliche Beweismittel eingesetzt werden, auch wenn sie in der Strafprozessordnung (StPO) nicht ausdrücklich vorgesehen sind (vgl. Art. 139 StPO). Diese grundsätzliche Zulässigkeit aller denkbaren Beweismittel bedeutet indes nicht, dass das Beweisrecht keine Schranken kennen würde. Sogenannte Beweiserhebungsverbote setzen den Behörden vielmehr Grenzen bei der Beschaffung von Beweisen.2
Wurde ein Beweiserhebungsverbot missachtet, kann dies nämlich zu einer Unverwertbarkeit des betreffenden Beweises (zu einem Beweisverwertungsverbot) führen (Art. 141 StPO).
2. Verbot aus höher-rangigem Recht
Nach Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hat jede Person ein Recht darauf, dass «über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innert angemessener Frist verhandelt wird».
Art. 6 EMRK garantiert so das Recht auf ein faires Verfahren, enthält jedoch keine Regelungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln an sich; solche Regelungen sind in erster Linie Gegenstand des nationalen Rechts.3 Der Europäische Gerichtshof befindet demnach grundsätzlich nicht darüber, inwiefern besondere Arten von Beweismitteln - etwa nach Massgabe des nationalen Rechts illegal erworbene Beweismittel - verwertet werden dürfen.4
Der EGMR überprüft indes, «ob das Verfahren insgesamt - mit Rücksicht auf die Art und Weise, wie Beweismittel beschafft wurden - fair war. Dabei müssen der Rechtsverstoss im Einzelfall und - soweit weitere Konventionsgarantien verletzt wurden - die Art des Verstosses gegen Konventionsgarantien berücksichtigt werden. Bei der Beurteilung der Fairness des Verfahrens insgesamt muss berücksichtigt werden, ob die Verteidigungsrechte respektiert wurden. Insbesondere muss geprüft werden, ob der Beschwerdeführer die Gelegenheit hatte, die Authentizität der Beweismittel in Frage zu stellen und ihrer Verwendung zu widersprechen.»5
«Zudem müssen sowohl die Qualität der Beweismittel als auch die Umstände ihrer Beschaffung berücksichtigt werden, insbesondere ob diese Umstände Zweifel an der Zuverlässigkeit und Genauigkeit begründen [...]. Je stärker und zuverlässiger die Beweismittel sind, desto weniger bedarf es zusätzlicher Beweise.»6
Nach Auffassung des EGMR kann demnach auch die Verwendung einer heimlich durch eine Privatperson angefertigten Aufnahme eines Telefongesprächs mit dem Grundsatz eines fairen Verfahrens in Einklang stehen, soweit die Verteidigungsrechte gewahrt bleiben.7 Auch die Verwendung von durch eine Abhöraktion in Wohnräumen ohne zureichende gesetzliche Grundlage und damit unter Verstoss gegen Art. 8 EMRK erlangter Beweise verstösst nicht zwingend gegen Art. 6 EMRK, sondern kann zulässig sein.8
Eine Sonderstellung nehmen indes Beweise ein, die in Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) erlangt wurden. Solche Beweismittel sind nach Auffassung des EGMR regelmässig unverwertbar.
«Die Verwendung von Beweismitteln, bei deren Erhebung gegen Art. 3 EMRK verstossen wurde, muss besonders geprüft werden. Die Verwendung derartiger, gegen ein fundamentales und absolut geschütztes Konventionsrecht erhobener Beweise wirft immer schwerwiegende Probleme betreffend der Fairness des Verfahrens insgesamt auf, auch wenn sie für die Verurteilung im konkreten Fall nicht entscheidend war.»9
«Die Verwendung durch Folter erlangter Geständnisse führt dazu, dass das Verfahren insgesamt unfair wird, unabhängig vom Beweiswert der Aussagen und vom Gewicht, das ihnen im Verfahren zukommt.»10 Dies gilt auch dann, wenn Aussagen zu einem späteren Zeitpunkt ohne Folter wiederholt werden, soweit das Risiko besteht, dass der Befragte weiterhin durch die Folter beeinflusst ist beziehungsweise dass er Repressalien befürchtet.11
«Sachbeweise, die als direkte Folge einer Verletzung von Art. 3 EMRK erhoben werden konnten, sollten unabhängig von ihrem Beweiswert nicht zum Nachweis der Schuld einer Person dienen, jedenfalls wenn sie durch Folter ermöglicht wurden. Ansonsten würden Verstösse gegen Art. 3 EMRK indirekt legitimiert.»12 Die Verwendung von durch eine gegen Art. 3 EMRK verstossende zwangsweise Verabreichung eines Brechmittels erlangten Drogenkügelchen, die der Beschuldigte verschluckt hatte, als Beweis im Strafverfahren wurde vom EGMR aus diesem Grunde als nicht statthaft betrachtet.13
Weder die Interessen der Strafverfolgung im konkreten Fall noch der Umstand, dass die Drohungen nicht zum Zwecke der Strafverfolgung ausgesprochen wurden, spielen dabei eine Rolle.14 Die im Fall Gäfgen aufgrund der Drohung gegen den Beschuldigten erhobenen Beweismittel (Spuren am Fundort und die Leiche des Opfers) hätten mithin im Strafverfahren nicht verwertet werden dürfen. Der EGMR kam indes zur Überzeugung, die Verurteilung in diesem Fall sei ausschliesslich auf das umfassende Geständnis des Beschuldigten in der Hauptverhandlung und auf unabhängig von dem ersten, durch die Drohung erlangten Geständnis erhobene Beweismittel (zum Beispiel Hausdurchsuchung) gestützt worden, das erzwungene Geständnis habe dabei keine Rolle gespielt.15 An dieser Argumentation ist indes problematisch, dass das in der Wahrnehmung des EGMR unbelastete Geständnis in der Hauptverhandlung letztlich zwar nicht durch fortwirkende Angst vor Folter und Repressalien, wohl aber durch den Umstand gefördert wurde, dass das unter Druck abgelegte Geständnis und die dadurch ermöglichten Folgebeweise dem Gericht in diesem Zeitpunkt bekannt waren.
In der Rechtsprechung des EGMR nimmt das Verbot des Selbstbelastungszwangs («nemo tenetur se ipse accusare vel prodere») eine bedeutende Stellung ein. Nach Auffassung des EGMR setzt dieses Recht voraus, «dass die Strafverfolgungsbehörden die Schuld des Beschuldigten zu beweisen suchen, ohne auf Beweismittel zurückzugreifen, die durch Zwang und Druck unter Überwindung des Willens des Beschuldigten erhoben wurden».16 Eine derartige Überwindung des Willens des Beschuldigten nahm der EGMR etwa in einem Fall an, in dem ein Polizeiinformant während einiger Wochen in der Zelle eines sich auf sein Schweigerecht berufenden Untersuchungshäftlings platziert und beauftragt wurde, den Beschuldigten über die vorgeworfene Tat auszufragen, da durch diese Situation (Verhöre und neugieriger Zellengenosse) ein psychischer Druck aufgebaut worden sei, der die Freiwilligkeit der Einlassungen gegenüber dem Zellengenossen in Frage stelle.17 Auch die zwangsweise Verabreichung eines Brechmittels zur Sicherstellung durch einen Beschuldigten verschluckter Betäubungsmittel wurde als Verstoss gegen das Selbstbelastungsprivileg gewertet, da hier - anders als bei der Abnahme einer Atemluft- oder Blutprobe - nicht nur im Körper ohnehin und unabhängig vom Willen des Beschuldigten vorhandene Substanzen durch einen relativ unbedeutenden Eingriff sichergestellt werden, sondern durch einen vergleichweise massiven Eingriff (Einführen eines Schlauchs in die Speiseröhre) eine pathologische Reaktion des Körpers (Erbrechen) herbeigeführt werde.18
Der EGMR folgt mithin einer typologischen Betrachtungsweise: Er überprüft anhand verschiedener Kriterien, ob das konkrete Verfahren insgesamt den Anforderungen von Art. 6 EMRK genügt. Wesentliche Kriterien sind dabei die Wahrung des Selbstbelastungsprivilegs, der Rechtsschutz im Verfahren, die Qualität der Beweismittel und ihre Bedeutung für die Verurteilung im konkreten Fall sowie die Verletzung anderer Konventionsgarantien. Weder der Verstoss gegen nationales Verfahrensrecht noch gegen Konventionsgarantien hat indes zwingend einen Verstoss gegen Art. 6 EMRK zur Folge.19 Dabei kommt Art. 3 EMRK eine Sonderstellung zu: Durch Folter oder sonstige Verstösse gegen Art. 3 EMRK (also auch durch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung) ermöglichte Beweismittel sind in der Regel nicht verwertbar.
3. Verwertungsverbot gemäss StPO
Die StPO unterscheidet mit Bezug auf deren (Un-)Verwertbarkeit die folgenden drei Kategorien von Beweisen (vgl. Tabelle).
3.1 Absolute Unverwertbarkeit
Absolut unverwertbar sind gemäss Art. 141 Abs. 1 StPO vorab Beweise, die in Verletzung von Art. 140 StPO erhoben wurden. Art. 140 Abs. 1 StPO verbietet bei der Beweiserhebung Zwangsmittel, Gewaltanwendung, Drohungen, Versprechungen, Täuschungen sowie Mittel, welche die Denkfähigkeit oder die Willensfreiheit einer Person beeinträchtigen können.20
Absolut unverwertbar sind jene Beweise, die in der StPO als unverwertbar bezeichnet werden. Erfasst sind demnach die folgenden Konstellationen und Regelungen:21
- Beweiserhebung unter Verletzung von Teilnahmerechten (Art. 147 Abs. 4 StPO);
- Zeugenaussagen unter Zusicherung der Anonymität, wenn das Zwangsmassnahmengericht in der Folge die Genehmigung verweigert (Art. 150 Abs. 3);
- Aussagen des Beschuldigten ohne vorgängige Belehrung (Art. 158 Abs. 2 StPO);
- Aussagen eines Zeugen, der nicht auf sein Zeugnisverweigerungsrecht aufmerksam gemacht wurde (Art. 177 Abs. 3 StPO);
- Beweise, die unter Verletzung von Berufsgeheimnissen erlangt wurden (Art. 271 Abs. 3 StPO);
- Beweise aus einer nicht genehmigten Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs beziehungsweise einer nicht genehmigten Überwachung mit technischen Überwachungsgeräten (Art. 277 Abs. 2 StPO; Art. 281 Abs. 4 StPO);
- Beweise aus einer nicht genehmigten verdeckten Ermittlung (Art. 289 Abs. 6 StPO);
- Aussagen von Parteien im Hinblick auf das abgekürzte Verfahren, wenn die Durchführung dieses Verfahrens in der Folge scheitert (Art. 362 Abs. 4 StPO).
Beweise, die einem absoluten Verwertungsverbot unterliegen, sind «in keinem Falle verwertbar» (Art. 141 Abs. 1 StPO). Es besteht also keinerlei Raum für eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen. Die Schwere des in Frage stehenden Deliktes und die Bedeutsamkeit des betreffenden Beweismittels bleiben ohne Belang.
3.2 Relative Unverwertbarkeit
Relative Unverwertbarkeit besteht zunächst immer dann, wenn ein Beweis «in strafbarer Weise» erhoben wurde. Strafbarkeit setzt Tatbestandsmässigkeit und Rechtswidrigkeit voraus. Nicht verlangt ist hingegen, dass der fehlbare Beamte strafrechtlich belangt wird beziehungsweise dass ihn ein Verschulden trifft.
Im Ergebnis dürfen also Beweise verwertet werden, selbst wenn die betreffenden staatlichen Behörden bei der Beweiserhebung absichtlich eine Strafnorm verletzt haben. Das scheint - etwa vor dem Hintergrund der Debatten um die «geklauften» Steuerdaten - doch mindestens bemerkenswert.22
Relative Unverwertbarkeit besteht ferner immer dann, wenn ein Beweis «unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben» wurde. Eine Gültigkeitsvorschrift (im Unterschied zu einer blossen Ordnungsvorschrift) soll gemäss Botschaft23 vorliegen, wenn die betreffende «Verfahrensvorschrift für die Wahrung der zu schützenden Interessen der betreffenden Person eine derart erhebliche Bedeutung [hat], dass sie ihr Ziel nur erreichen kann, wenn bei Nichtbeachtung die Verfahrenshandlung ungültig ist».
Diese Formulierung ist weitgehend zirkulär:24 Eine Vorschrift ist eine Gültigkeitsvorschrift, wenn sie als Gültigkeitsvorschrift aufgefasst werden muss. Damit ist offenkundig wenig gewonnen. Im Übrigen lässt sich die Bedeutsamkeit einer prozessualen Vorschrift kaum je abstrakt beurteilen. Ein geringfügiger Verstoss gegen ein fundamentales Grundprinzip des Strafprozessrechts ist in seinen Auswirkungen unter Umständen weniger gravierend als die gänzliche Missachtung einer scheinbar nebensächlichen Regelung. Die Abgrenzung zwischen Gültigkeits- und Ordnungsvorschriften wird deshalb stets mit Bezug auf den konkreten Einzelfall erfolgen müssen.
Nicht weniger problematisch ist die Umschreibung der Rechtsfolgen: Bei relativer Unverwertbarkeit ist eine Beweisverwertung dann (und nur dann) zulässig, wenn sie «zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich» ist.
Unklar ist dabei vorab, was als «schwere Straftat» zu gelten hat. Das Gesetz lässt diese Frage offen, und auch in der Botschaft finden sich keine einschlägigen Hinweise. Angezeigt scheint eine individualisierende Betrachtungsweise. Namentlich das schematische Abstellen auf Deliktskategorien («Verbrechen und Vergehen») schiene nicht angemessen: Eine Beschimpfung (Art. 177 StGB) beispielsweise ist zwar ein Vergehen, aber im Regelfall ein wenig gravierendes Massendelikt. Umgekehrt liesse sich eine Beschränkung auf Verbrechen kaum rechtfertigen, und sie liesse sich auch mit dem Wortlaut von Art. 141 Abs. 2 StPO kaum vereinbaren.25
Unter rechtspolitischen Gesichtspunkten ist überdies nicht einleuchtend, weshalb eine Beweisverwertung gerade dann zulässig sein soll, wenn sich der Beschuldigte gegen einen schweren Vorwurf zur Wehr setzen muss. Selbstverständlich gilt der Grundsatz: Je gravierender das in Frage stehende Delikt, desto gewichtiger ist das öffentliche Interesse an wirksamer Strafverfolgung. Analoges gilt freilich auch mit Bezug auf das Interesse des Beschuldigten: Je gravierender der Tatvorwurf, desto grösser ist sein Interesse daran, dass eine Beweisverwertung unterbleibt. Eine eigentliche Abwägung der Interessen kann indes gar nicht stattfinden - massgebend ist allein das öffentliche Interesse.26
Weitgehend unbestimmt ist schliesslich, wann ein Beweis zur Aufklärung einer Straftat «unerlässlich» ist. Ob ein Beweis im weiteren Verfahren berücksichtigt werden darf, ist laufend zu prüfen (Art. 141 Abs. 5 StPO). Während des Verfahrens lässt sich aber kaum je zuverlässig einschätzen, welche Bedeutung ein Beweis im weiteren Verlauf des Verfahrens erlangen wird beziehungsweise erlangen würde. Ob weitere Beweise erhoben werden können (und ohne den fraglichen Beweis erhoben werden könnten), ist schlechterdings nicht prognostizierbar.
3.3 Rechtsfolge festgestellter Unverwertbarkeit
Steht fest, dass ein bestimmter Beweis nicht verwertet werden darf (weil er einem absoluten Beweisverwertungsverbot unterliegt oder weil ein relatives Verwertungsverbot besteht und der Beweis nicht für die Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich ist), so sind die entsprechenden Aufzeichnungen aus den Strafakten zu entfernen, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens (Art. 437 StPO) unter separatem Verschluss zu halten und danach zu vernichten (Art. 141 Abs. 5 StPO).
Es ist fraglich, ob diese Massnahme tatsächlich ausreicht: Hat ein zuständiger Beamter von einem nicht verwertbaren Beweis bereits Kenntnis genommen, bleibt dieser unweigerlich in seinem Gedächtnis haften.27 Deshalb ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob nicht ein Ausstandsgrund (Art. 56 StPO) gegeben ist: Ein Beamter, der den massgeblichen Sachverhalt aufgrund eines unverwertbaren Beweises kennt (oder zu kennen meint), ist nicht mehr unabhängig.
Eigenartig scheint zudem, dass Beweisverwertungsverbote offenbar selbst dann gelten sollen, wenn der betreffende Beweis die Unschuld des Beschuldigten nachzuweisen vermag.28 Eine unter Verletzung von Art. 140 StPO vom Beschuldigten erhobene DNA-Probe müsste also selbst dann unberücksichtigt bleiben, wenn sie die Unschuld des Betroffenen beweist.29
3.4 Fernwirkung von Beweisverboten
Oft ziehen Beweiserhebungen weitere Beweiserhebungen nach sich. Wird beispielsweise anlässlich einer Hausdurchsuchung ein Schlüssel sichergestellt, interessiert sich die Strafbehörde in der Regel auch dafür, zu welchen Räumlichkeiten dieser Schlüssel Zugang verschafft.
Wurde die erste Beweiserhebung unter Verletzung eines Beweisverbotes durchgeführt, stellt sich in Bezug auf die bei der zweiten Beweiserhebung sichergestellten Beweise die Frage der sogenannten Fernwirkung von Beweisverboten. Wenn also im obigen Beispiel die Hausdurchsuchung ohne gültigen Durchsuchungsbefehl durchgeführt wurde und aufgrund der sichergestellten Schlüssel eine - gesetzeskonform durchgeführte - zweite Hausdurchsuchung stattfindet, die weitere Beweismittel zu Tage fördert.
Im angloamerikanischen Recht gilt in solchen Konstellationen die «fruit of the poisonous tree doctrine»:30 Wurde ein Beweismittel illegal erhoben, sind auch die gestützt darauf erhobenen Beweismittel gänzlich unverwertbar (auch die Früchte des giftigen Baumes sind giftig). Bereits die frühere schweizerische Praxis war hingegen von einem - mehr oder weniger gesunden - Pragmatismus geprägt.
Das Bundesgericht betrachtete einen Folgebeweis nur dann als unverwertbar, wenn der primäre unverwertbare Beweis Bestandteil sine qua non des mittelbar erlangten Beweises war. Es wurde also hypothetisch überprüft, ob der Folgebeweis auch legal hätte erlangt werden können: «Die Beschwerdeführerin hat ein weitreichendes Geständnis abgelegt, ohne dass ihr gegenüber erwähnt worden wäre, sie werde aufgrund der Telefonkontrolle des Drogenhandels verdächtigt, und ohne dass ihr konkrete Gesprächsinhalte aus der Telefonüberwachung vorgehalten worden wären.» Es könne indes «als sicher angesehen werden, dass sie von der Polizei beim Ein- und Aussteigen ins Auto von A. auch beobachtet worden wäre, wenn man damals einzig ihn wegen des aus der ordnungsgemäss bewilligten Telefonkontrolle stammenden Verdachts auf Drogenhandel observiert hätte.
Dieser von der Polizei wahrgenommene Kontakt zwischen dem mutmasslichen Drogenhändler A. und der Beschwerdeführerin hätte aufgrund der konkreten Umstände zweifelsohne den Verdacht aufkommen lassen, sie sei in den Drogenhandel verwickelt. Folglich wäre die Polizei ihr höchstwahrscheinlich zwecks Verhaftung gefolgt und dabei auf die Drogen gestossen. Sie wäre damit auch in diesem Fall verhaftet und mit den belastenden Aussagen von A. konfrontiert worden.»31 Und wenn ein hellblauer Hase das Ganze gesehen hätte, wäre er zur Polizei gehoppelt und hätte dort alles bis ins Detail erzählt ...
An sich wäre zu erwarten gewesen, dass der Gesetzgeber solch wilden Spekulationen ein Ende setzt. Und tatsächlich wurde die Frage der Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten in der StPO erstmalig kodifiziert. Ein Blick ins Gesetz enttäuscht indes allfällige Hoffnungen.32 Art. 141 Abs. 4 StPO hält nämlich fest: Ermöglicht ein Beweis, der nach Art. 141 Abs. 2 StPO33 nicht verwertet werden darf, die Erhebung eines weiteren Beweises, so ist dieser nur dann nicht verwertbar, wenn er ohne die vorhergehende Beweiserhebung nicht möglich gewesen wäre.
Offenbar sollte also die bisherige Trudi-Gerster-Praxis gesetzlich festgeschrieben werden.34 Auch in Zukunft wäre demnach eine hypothetische Betrachtungsweise anzustellen, also danach zu fragen, ob der Folgebeweis auch ohne den unverwertbaren primären Beweis hätte erhoben werden können.
Eine solche Vorgehensweise scheint indes - wie bereits die frühere bundesgerichtliche Rechtsprechung - in sich widersprüchlich. Es besteht nämlich ein «Paradox des Folgebeweises»:
Wenn die Behörden aufgrund eines (unverwertbaren) primären Beweises einen Folgebeweis erlangen, dann haben sie den (unverwertbaren) primären Beweis nämlich bereits (unzulässigerweise) verwertet, und zwar zur Beschaffung des Folgebeweises. Wenn Beweisverwertungsverbote überhaupt Bestand haben sollen, muss dies konsequenterweise bedeuten, dass «Folgebeweise» nur dann verwertbar sind, wenn sie unabhängig vom Vorliegen des unverwertbaren Primärbeweises in die Hände der Strafbehörden gelangt sind, wenn es sich also gar nicht um «Folgebeweise» handelt.
Eine Verwertung von «Folgebeweisen» kann vielmehr aus rein logischen Gründen nur dann zulässig sein, wenn diese unabhängig vom nicht verwertbaren Primärbeweis erhoben wurden oder aufgrund der standardmässigen Ermittlungsarbeit der Strafbehörden ohne weiteres erhoben worden wären.35
Jede andere Sichtweise widerspricht folglich dem Verwertungsverbot von Art. 141 Absätze 1, 2 und 5 StPO.
4. Schluss
Bei der Frage nach der Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise zeigen sich die im Strafprozessrecht allgegenwärtigen Zielkonflikte in beispielhafter Weise: Selbstverständlich scheint es unbillig, wenn ein Beschuldigter allein deshalb einer Bestrafung entgeht, weil die Strafbehörden im Zuge des Verfahrens mehr oder weniger geringfügige Formalitäten missachtet haben.
Umgekehrt meint Strafprozessrecht eben nie Strafverfolgung um jeden Preis, sondern Strafverfolgung nach möglichst klar definierten, rechtsstaatlichen Regeln. Diese rechtsstaatlichen Grundsätze werden aber auf Dauer nur Bestand haben, wenn ihnen auch und gerade in solchen Fällen Sorge getragen wird, in denen das ärgerlich oder gar schmerzlich ist.
Christof Riedo, Rechtsanwalt, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Freiburg, Gerhard Fiolka, Lektor für Strafrecht an der Universität Freiburg
Die Tabelle zur Beweisverwertbarkeit finden Sie im Anhang.
1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags an der Tagung «Strafverteidigung und Schweizerische StPO» des Vereins Forum Strafverteidigung, 5./6. November 2010.
2 In der Lehre wird regelmässig zwischen Beweisthema-, Beweismethoden- und Beweismittelverboten unterschieden; vgl. zum Ganzen statt vieler Robert Hauser / Erhard Schweri / Karl Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel 2005, § 60 N 2 ff.; Niklaus Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, Zürich 2009, N 784 ff.; Mark Pieth, Schweizerisches Strafprozessrecht, Grundriss für Studium und Praxis, Basel 2009, 146.
3 EGMR «Gäfgen c. Deutschland» vom 1.6.2010, Nr. 22978/05, Ziff. 162. So bereits EGMR «Schenk c. Schweiz» vom 12.7.1988, Nr. 10862/84, Ziff. 46.
4 EGMR «Gäfgen c. Deutschland» vom 1.6.2010, 22978/05, Ziff. 163.
5 Ebd., Ziff 163 f. Zur Wahrung der Verteidigungsrechte vgl. auch EGMR «Schenk c. Schweiz» vom 12.7.1988, 10862/84, Ziff. 47; EGMR «Khan c. Vereinigtes Königreich» vom 12.5.2000, 35394/97, Ziff. 38. Der Begriff Fairness entzieht sich indes weitgehend einer Definition, vgl. Sebastian Lubig / Johanna Sprenger, «Beweisverwertungsverbote aus dem Fairnessgebot des Art. 6 EMRK in der Rechtsprechung des EGMR», in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik ZIS 9/2008, 433-440.
6 EGMR «Gäfgen c. Deutschland» vom 1.6.2010, 22978/ 05, Ziff. 164. Vgl. bereits EGMR «Khan c. Vereinigtes Königreich» vom 12.5.2000, 35394/97, Ziff. 37.
7 Vgl. EGMR, «Schenk c. Schweiz» vom 12.7.1988, 10862/84, Ziff. 46 ff.
8 EGMR «Bykov c. Russland» vom 21.1.2009, 4378/02, Ziff. 89 ff.
9 EGMR «Gäfgen c. Deutschland» vom 1.6.2010, 22978/05, Ziff. 165; vgl. bereits EGMR «Jalloh c. Deutschland» vom 11.7.2006, 54810/00, Ziff. 99, 105.
10 EGMR «Gäfgen c. Deutschland» vom 1.6.2010, 22978/05, Ziff. 166. So bereits EGMR «Harutynyan c. Armenien» vom 28.6.2007, 36549/03, Ziff. 60.
11 Bereits EGMR «Harutynyan c. Armenien» vom 28.6.2007, 36549/03, Ziff. 62.
12 EGMR «Gäfgen c. Deutschland» vom 1.6.2010, 22978/05, Ziff. 167.
13 EGMR «Jalloh c. Deutschland» vom 11.7.2006, 54810/00, Ziff. 105 ff.
14 Vgl. EGMR «Gäfgen c. Deutschland» vom 1.6.2010, 22978/05, Ziff. 175 f.
15 EGMR «Gäfgen c. Deutschland» vom 1.6.2010, 22978/05, Ziff. 179 f.
16 Ebd., Ziff. 168 («in defiance of the will of the accused»); EGMR «Jalloh c. Deutschland» vom 11.7.2006, 54810/00, Ziff. 100.
17 EGMR «Allan c. Vereinigtes Königreich» vom 5.11.2002, 48539/99, Ziff. 52.
18 EGMR «Jalloh c. Deutschland» vom 11.7.2006, 54810/00, Ziff. 114.
19 Vgl. Lubig / Sprenger, a.a.O., 438 ff.
20 Dazu v.a. Hansjürg Brodbeck, Lügen verboten, Überlegungen zum Täuschungsverbot nach Art. 140 StPO, FP 2010, 300 ff.; ferner Sabine Gless, «Beweisverbote und Fernwirkung», ZStrR 2010, 146 ff.; Sabine Gless in: Marcel Alexander Niggli / Marianne Heer / Hans Wiprächtiger (Hrsg.), Kommentar zur Strafprozessordnung, Basler Kommentar (BSK), Basel 2010, Art. 140 N 32 ff.; Daniel Häring, «Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise gemäss Schweizerischer Strafprozessordnung - alte Zöpfe oder substanzielle Neuerungen?», ZStrR 2009, 225 ff., 237 ff.; Wolfgang Wohlers in: Andreas Donatsch / Thomas Hansjakob / Viktor Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), Zürich 2010, Art. 140 N 3 ff.
21 Gless, ZStrR 2010, a.a.O., 152 f.; Gless, BSK StPO, a.a.O., Art. 141 N 48 ff.
22 Kritisch Andreas Donatsch / Claudine Cavegn, «Ausgewählte Fragen zum Beweisrecht nach der Schweizerischen Strafprozessordnung», ZStrR 2008, 158 ff., 165 f. Ist das fragliche Verhalten nicht nur mit Strafe bedroht, sondern erfüllt auch den Tatbestand von Art. 140 Abs. 1 StPO, ist nicht von relativer, sondern absoluter Unverwertbarkeit auszugehen. Wohlers, a.a.O., Art. 141 N 19; Gless, BSK StPO, a.a.O., Art. 141 N 65.
23 Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085, 1183 f., unter Hinweis auf Hauser /Schweri / Hartmann, a.a.O., § 44 N 51; vgl. auch bereits Begleitbericht zum Vorentwurf für eine Schweizerische Strafprozessordnung, Bern 2001, S. 108; zur bisherigen Praxis etwa Hans Vest / Andrea Höhener, «Beweisverwertungsverbote - quo vadis Bundesgericht?», ZStrR 2009, 95 ff.
24 Vgl. auch Gless, ZStrR 2010, a.a.O., 156; Gless, BSK StPO, a.a.O., Art. 141 N 74; Häring, a.a.O., 240 ff.; Wohlers, a.a.O., Art. 141 N 22 ff.
25 Donatsch / Cavegn, a.a.O., 166, halten es für «vertretbar, darunter Delikte zu verstehen, die im Katalog betreffend geheime Überwachungsmassnahmen und verdeckte Ermittlung angeführt werden». Auch dieser Vorschlag findet indes im Wortlaut des Gesetzes keine Stütze (Gless, BSK StPO, a.a.O., Art. 141 N 72).
26 Gless, ZStrR 2010, a.a.O., 157; Gless, BSK StPO , a.a.O., Art. 141 N 71; Häring, a.a.O., 243 ff.; Wohlers, a.a.O., Art. 141 N 21; Franz Riklin, Schweizerische Strafprozessordnung, Kommentar, Zürich 2010, Art. 141 N 7.
27 Häring, a.a.O., 254.
28 So auch die Botschaft, BBl 2006 1085, 1184.
29 Kritisch auch Donatsch / Cavegn, a.a.O., 166 f.; Gless, ZStrR 2010, a.a.O., 159 f.; für eine Berücksichtigung an sich unverwertbarer Beweise zugunsten des Beschuldigten Häring, a.a.O., 166 f.; Riklin, a.a.O., Art. 141 N 9; Gless,
BSK StPO, a.a.O., Art. 141 N 111 ff.
30 Grundlegend: U.S. Supreme Court, «Nardone vs. United States» vom 11.12.1939, 308 U.S. 338 (1939); zum Ganzen etwa Schmid, a.a.O., N 798; Pieth, a.a.O., 151.
31 Zum Ganzen: BGE 133 IV 329, 332 ff.
32 Optimistischer etwa Donatsch / Cavegn, a.a.O., 165: Es handle sich um eine «eindeutige» Regelung.
33 Ist der Erstbeweis absolut unverwertbar im Sinne von Abs. 1, gilt Gleiches auch für Sekundärbeweise, vgl. Häring, a.a.O., 250 f.; Wohlers, a.a.O., Art. 141 N 15; Pieth, a.a.O., 152; Gless, BSK StPO, a.a.O., Art. 141 N 90.
34 Botschaft, BBl 2006 1085, 1184; Begleitbericht, 109.
35 Ähnlich im Ergebnis Gless, ZStrR 2010, a.a.O., 154 f. und 159; Gless, BSK StPO, a.a.O., Art. 141 N 93 ff.; Häring, a.a.O., 253; Riklin, a.a.O., Art. 141 N 8; Wohlers, a.a.O., Art. 141 N 15; vgl. ferner Schmid, a.a.O., N 799.