Sach- und Transportversicherungen enthalten häufig Verwirkungsklauseln. Eine solche war Gegenstand des Urteils des Bundesgerichts 4A_196/2019 vom 10. Juli 2019. Die Klausel hat folgenden Wortlaut: «Lehnt die Gesellschaft die Entschädigungsforderung ab, muss sie der Anspruchsberechtigte innert zwei Jahren nach Eintritt des Ereignisses gerichtlich geltend machen, andernfalls er seine Rechte verliert (Verwirkung).»
Anlass des vorliegenden Rechtsstreits war ein Brand in den Räumen eines Unternehmens. Der Versicherer lehnte die Übernahme des Schadens ab, weil «diverse Widersprüche und Ungereimtheiten» zu klären seien. Ein von der Staatsanwaltschaft eingeleitetes Verfahren wegen versuchten Betrugs und Brandstiftung wurde nach einem Jahr eingestellt. Der Versicherer gab gegenüber dem Versicherungsnehmer eine Verjährungsverzichtserklärung ab, berief sich aber wenig später auf die Verwirkungsklausel im Vertrag. Das kantonale Gericht gab dem Versicherer recht. Der Versicherte wandte sich ans Bundesgericht, doch dieses zeigte sich hart.
Es stellte fest, dass solche Klauseln branchenüblich sind. Mehr noch: «Vielmehr erscheint es naheliegend, dass der Zeitraum zur Geltendmachung bei abgelehnter Leistungspflicht vertraglich auf zwei Jahre nach Eintritt des Ereignisses befristet wird; zumal dies auch gesetzlich vorgesehen ist.» Letzteres begründete das Bundesgericht mit einem Verweis auf Artikel 46 Absatz 2 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG). Gestützt auf diese Überlegung schützte es die Position des sich auf die Verwirkung berufenden Versicherers. «Für den anwaltlich vertretenen» Versicherungsnehmer wäre es laut dem Bundesgericht zumutbar gewesen, zu erkennen, dass neben der Verjährungsfrist auch eine davon unabhängige Verwirkungsfrist läuft.
Gesetz lässt Verwirkungsklauseln zu
Der Versicherungsnehmer dürfte in diesem Fall mit einem blauen Auge davonkommen. Zu deutlich ist der Hinweis des Bundesgerichts auf seine anwaltliche Vertretung. Für den Versicherer käme der Entscheid allerdings einem Pyrrhussieg gleich, falls er gleichzeitig Berufshaftpflichtversicherer des Anwaltes sein sollte.
Trotz dem vom Bundesgericht gewiesenen Königsweg verbleiben nach der Lektüre des Urteils gewichtige Bedenken. Allerdings ist dem Bundesgericht in einem zentralen Punkt recht zu geben. Das Versicherungsvertragsgesetz lässt Verwirkungsklauseln tatsächlich zu, sofern deren Frist mindestens zwei Jahre dauert.
Verpönte Verkürzung der Verjährung
Das Gesetz ist aber nicht ganz widerspruchsfrei. Einerseits lässt es zweijährige Verwirkungsklauseln zu, andererseits darf die zweijährige Verjährungsfrist nicht zuungunsten des Versicherungsnehmers abgeändert werden (Artikel 98 VVG). Dem leistungsunwilligen Versicherer genügt die Verjährung. Will er ergänzend noch eine Verwirkungsfrist in den Vertrag aufnehmen, so ergibt dies ökonomisch nur Sinn, wenn mit deren Ablauf eine noch laufende Verjährungsfrist ausgehebelt werden soll. Dies läuft – zwar nicht formell, denn Verjährung und Verwirkung sind, wie das Bundesgericht zu Recht betont, zwei verschiedene Dinge –, aber im Ergebnis auf eine verpönte Verkürzung der Verjährung hinaus.
So war es auch im vorliegenden Fall. Die Verjährung wurde durch eine Verzichtserklärung des Versicherers unterbrochen, war also zum Zeitpunkt der Geltendmachung der Verwirkung noch nicht abgelaufen. Solche Widersprüche im Gesetz sind zwar unschön, aber letztlich kaum ganz zu vermeiden.
Das Bundesgericht hatte sich schon in anderem Zusammenhang mit solchen Widersprüchen zu befassen. Erinnert sei etwa an jenen zwischen Artikel 51 OR (Haftung mehrerer Personen) und Artikel 72 VVG (Regressrecht). Da Verwirkungsfristen bezwecken, «dass jemand ein Recht verliert, weil sein Verhalten die Lage des Verpflichteten über Gebühr erschwert hat»,1 sind sie dem redlichen Versicherungsnehmer gegenüber eigentlich unangebracht. Dies wiederum sollte die Gerichte dazu veranlassen, dem halbzwingenden Charakter von Artikel 46 gegenüber der Zulässigkeit von Verwirkungsfristen Priorität einzuräumen.
Aus diesem Grund sollten Verwirkungsfristen, die bereits vor Ablauf der Verjährungsfrist eine Leistungsverweigerung legitimieren sollen, meines Erachtens als ungewöhnlich qualifiziert werden.
Aufklärungspflicht für die Versicherung gefordert
Das Bundesgericht hat schon mehrfach durch die Anerkennung von aus Treu und Glauben abgeleiteten Aufklärungspflichten stossende Bestimmungen des VVG «gezähmt». Erinnert sei an die Problematik von Artikel 9 (Rückwärtsversicherungsverbot)2 oder an jene von Artikel 12 (Genehmigungsfiktion).3 In beiden Fällen hat es aus dem Unterlassen der im Gesetz nicht vorgesehenen, aber durch die Rechtsprechung gebotenen Aufklärung geschlossen, dass der Versicherer das Vertrauen des Versicherungsnehmers in den Bestand des Versicherungsschutzes zu honorieren habe.4
Übertragen auf den vorliegenden Fall könnte das Bundesgericht aus Treu und Glauben ableiten, dass der seine Leistungspflicht ablehnende Versicherer seinen Kunden im Ablehnungsschreiben auf die drohende Verwirkung hinweisen muss.5 Unterlässt er diese Aufklärung, so haftet er dem Versicherungsnehmer nach den Grundsätzen der Vertrauenshaftung für den Ersatz des wegen der eingetretenen Verwirkung erlittenen Schadens.
Beide Argumentationslinien hätten im vorliegenden Fall die Konsequenz, dass die Klage des Versicherungsnehmers hätte gutgeheissen werden müssen. Dies ändert aber nichts daran, dass das Bundesgericht bisher in ständiger Rechtsprechung Verwirkungsklauseln schützt. Die Versicherten und ihre Anwälte müssen deshalb nach wie vor neben der drohenden Verjährung auch eine mögliche Verwirkung im Auge behalten. Dass dies zwangsläufig zu einer Zunahme der Gerichtsverfahren führt, ist eine Konsequenz, an der eigentlich niemand ein Interesse haben kann.
Unfairer Beginn des Fristenlaufs
Unabhängig davon, dass Verwirkungsklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Versicherungen eigentlich nichts zu suchen haben sollten, ist noch auf ein anderes Problem der streitgegenständlichen Klausel hinzuweisen: Die Verwirkungsfrist beginnt nach dem Wortlaut der Klausel mit dem Schadenereignis. Zu diesem Zeitpunkt weiss der Versicherungsnehmer aber noch gar nicht, ob die Versicherung den Schaden ablehnen oder vergüten wird. Lässt sich der Versicherer mit diesem Entscheid Zeit (etwa weil er den Ausgang eines Strafverfahrens abwarten will), so kann es sein, dass der Anspruch des Versicherungsnehmers verwirkt, bevor die Voraussetzung der Anwendbarkeit der Klausel erfüllt ist, nämlich die Ablehnung des Anspruchs durch den Versicherer.
Wenn schon mit Verwirkungsklauseln gearbeitet werden soll, dann müsste zumindest klar sein, ob der Versicherungsnehmer zu dem mit der Verwirkungsfolge bedrohten Handeln verpflichtet ist. Da der Versicherungsnehmer nur klagen muss, wenn die Versicherung den Fall ablehnt, sollte die Frist erst zu diesem Zeitpunkt zu laufen beginnen.
Karl Spiro, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen, Bern 1975, § 366.
BGer 5C.45/2004 vom 9.7.2004.
BGer 4C.98/2007 vom 29.4.2008.
Ausführlich: Stephan Fuhrer, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, Zürich 2011, N 3.20 ff.
Das alte deutsche VVG enthielt im Gesetz eine vergleichbare Verwirkungsfrist. § 12 Abs. 3 aVVG sah Folgendes vor: 3 Der Versicherer ist von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Anspruch auf Leistung nicht innerhalb von sechs Monaten gerichtlich geltend gemacht wird. Die Frist beginnt erst, nachdem der Versicherer dem Versicherungsnehmer gegenüber den erhobenen Anspruch unter Angabe der mit dem Ablauf der Frist verbundenen Rechtsfolge schriftlich abgelehnt hat.
In der Lehre wurde diese Bestimmung heftig (und zu Recht) kritisiert (vgl. z.B. Michael Gruber, § 12 N 108 ff., in: Heinrich Honsell [Hrsg.], Berliner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, Berlin 1999). Mit der Totalrevision des deutschen VVG hat der Gesetzgeber diese Bestimmung im Jahre 2007 gestrichen.