Anfang 1995 trat der neue Artikel 261bis des Schweizerischen Strafgesetzbuchs (StGB) in Kraft. Er verbietet den öffentlichen Aufruf zu Hass oder Diskriminierung und die Verbreitung rassistischer Ideologien. Ebenso sind Äusserungen strafbar, die das Ziel haben, Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion herabzusetzen, sowie die Verweigerung einer Leistung aus rassistischen Gründen und das Leugnen von Völkermord und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Seit 1. Juli 2020 kann zudem nach dieser Norm bestraft werden, wer Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert (plädoyer 3/2020).
Im Auftrag der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus hat die Zürcher Juristin Vera Leimgruber, zurzeit Gerichtsschreiberin am Bezirksgericht Meilen ZH, die Rechtsprechung zu Artikel 261bis StGB von 1995 bis Ende 2019 analysiert. Dazu wertete sie alle 935 Urteile, Strafbefehle und Einstellungsbeschlüsse aus, die in der Datenbank der Kommission zu diesem Straftatbestand enthalten sind.
Resultat: Zwei Drittel aller Anzeigen endeten mit einer Verurteilung. Mehr als die Hälfte der Urteile betraf die rassistisch motivierte Herabsetzung, gefolgt vom Aufruf zu Hass oder Diskriminierung (150 Fälle) und der Verbreitung rassistischer Ideologien (130 Fälle). Nur rund 20 Fälle betrafen die Leistungsverweigerung aus rassistischen Gründen. Opfer in diesen Verfahren waren am häufigsten Juden (265), gefolgt von Ausländern (217) und Schwarzen (188).
Menschenwürde vor Redefreiheit
Die Rassismusstrafnorm schützt die Menschenwürde. Wer diese mit einer Äusserung «ganz offensichtlich» verletzt, kann sich nicht mehr auf die Meinungsäusserungsfreiheit berufen. Als Beispiele nennt die Autorin Kommentare auf Facebook wie «Vergase, die Hünd!».
In weniger eindeutigen Fällen berücksichtigen die Strafbehörden die Meinungsäusserungsfreiheit. Zum Beispiel bei einem auf Facebook geposteten Bild mit der Überschrift «Weisheit des Tages: ‹Hast du Allah in der Birne, ist kein Platz mehr für’s Gehirne›». Der Beschuldigte erklärte, es handle sich um eine Karikatur. Das Gericht berücksichtigte die Meinungsäusserungsfreiheit in seinen Erwägungen, beurteilte sie aber als weniger wichtig und verurteilte den Autor des Textes.
Laut Vera Leimgruber räumen die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte in der politischen Diskussion der Meinungsäusserungsfreiheit «einen hohen Stellenwert ein». Dazu führt sie ein Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahre 2004 an. Das Gericht hob damals eine Verurteilung wegen Rassendiskriminierung auf und wies den Fall an die Vorinstanz zurück. Es ging um eine Medienmitteilung auf der Website der Freiheits-Partei, die kosovarische Flüchtlinge als übermässig gewaltbereite und kriminelle Personen bezeichnete und ihre sofortige Rückschaffung forderte. Ein Verstoss gegen die Rassismusstrafnorm sei nicht leichthin zu bejahen, da in einer Demokratie auch Kritik an einer bestimmten Bevölkerungsgruppe erlaubt sei, so das Bundesgericht.
Die Meinungsäusserungsfreiheit hat aber auch in der Politik ihre Grenzen. Dies erfuhren die zwei SVP-Parteifunktionäre Martin Baltisser und Silvia Bär wegen eines Inserats mit dem Titel «Kosovaren schlitzen Schweizer auf». Das Bundesgericht bestätigte im Jahre 2017 eine Verurteilung durch das Berner Obergericht, weil die Aussage ein unsachliches Pauschalurteil sei, das Menschen mit kosovarischen Wurzeln «als überdurchschnittlich kriminell» darstelle und ihnen das Recht auf einen Aufenthalt in der Schweiz abspreche.
Whatsapp-Gruppenchat kann öffentlich sein
Eine rassistische Handlung ist nur strafbar, wenn sie in der Öffentlichkeit und nicht im privaten Rahmen verübt wird. Die Öffentlichkeit wird schnell als gegeben betrachtet, wenn nicht eindeutig enge persönliche Bindungen zwischen allen Personen bestehen, die körperlich oder via Internet «anwesend» sind. Daher gelten Webseiten und Netzwerke wie Facebook, Youtube, Twitter als öffentlich. Ebenso geschlossene Whatsapp-Gruppen, wie ein Genfer Polizist erfahren musste: Vor zwei Jahren teilte er in einem Gruppenchat mit weiteren Polizisten Bilder, die den Holocaust banalisierten und lächerlich machten. Die Gruppe zählte zwanzig Mitglieder, zwischen denen aber «keine enge persönliche Bindung» bestand. Die Staatsanwaltschaft Genf erachtete die Öffentlichkeit deshalb als gegeben und verurteilte den Mann.
In den vergangenen 25 Jahren gab es insgesamt 98 Urteile, die das Leugnen oder «gröbliche Verharmlosen» von Völkermord betreffen. Am häufigsten wurden Personen verurteilt, die den Holocaust gesamthaft oder einzelne Elemente davon leugneten. Für eine Verurteilung genügten Aussagen wie «Der Holocaust, ein zionistischer Mythos», «Propagandaleichen in Buchenwald», «die Lüge um Anne Frank», «es ist technisch absolut unmöglich, Menschen mit Zyklon B umzubringen» oder «nächste Station Auschwitz». Das Bundesgericht bestätigte im Jahr 2019, dass der Holocaust eine gerichtsnotorische Tatsache und dessen Anzweiflung ohne weiteres strafbar sei.
Folgen des Genozidurteils aus Strassburg
Anders ist es bei Völkermorden wie dem Massaker im bosnischen Srebrenica oder dem Völkermord an den Armeniern. Im Jahr 2007 stützte das Bundesgericht die Verurteilung von Dogu Perinçek. Der türkische Politiker hatte an verschiedenen Vorträgen in der Schweiz den Genozid an den Armeniern als «internationale und historische Lüge» bezeichnet. Perinçek gelangte an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und bekam recht. Der Gerichtshof beurteilte den Völkermord an den Armeniern nicht als juristisch anerkannte Tatsache. Das Bundesgericht musste sein Urteil revidieren und den türkischen Politiker 2016 freisprechen.
Das Perinçek-Urteil zeigte Wirkung auf die Beurteilung des Genozids in Srebrenica. Die Tessiner Strafbehörden verurteilten den Autor eines Artikels, der den Massenmord an mehr als 8000 Bosniaken geleugnet und als propagandistische Lüge bezeichnet hatte. Ende 2018 sprach das Bundesgericht den Autor gestützt auf den Perinçek-Fall frei.
Vera Leimgruber kritisiert die unterschiedliche Behandlung des Holocaust im Vergleich zu anderen Völkermorden. Als Grund vermutet sie das Perinçek-Urteil des EGMR.
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