Nach einer über 20-jährigen Diskussion trat 2007 eine Strafrechtsrevision in Kraft. Inspiriert von Entwicklungen im übrigen Europa drängte sie unter anderem kurze Freiheitsstrafen zurück und stellte in der Form der Tagessatzgeldstrafe und der gemeinnützigen Arbeit Alternativen zur Verfügung. Diese Reform war von einer liberalen, dem Verhältnismässigkeitsprinzip verpflichteten, rationalen Haltung geprägt. Die Vorschläge in der damaligen Botschaft wurden durch ausführliche, sachkundige und heute noch gültige Begründungen belegt (so beispielsweise in der Botschaft vom 21.9.1998, Separatdruck S. 62f. und Anm. 126ff. zu den kurzen Freiheitsstrafen).
Seither ist das Klima repressiver geworden. Es ist eine Art Gegenreformation oder Restauration im Gang, die ausdrücklich oder sinngemäss eine Strafverschärfung sowie ein Zurückbuchstabieren bei den Sanktionen anstrebt.
Erinnert sei an zwei jüngste Vernehmlassungen. Bei der einen geht es um die Erhöhung des oberen Strafrahmens und erhöhte Strafminima bei bestimmten Delikten. Sie soll die Richterschaft zu höheren Strafen animieren oder gar zwingen. Die andere plädiert unter anderem für die Wiedereinführung kurzer Freiheitsstrafen. Auch sollen die angeblich nutzlosen bedingten Geldstrafen abgeschafft werden. Dies, obwohl auch in solchen Fällen die Verurteilten finanziell meist stark belastet werden, weil sie die Gerichtskosten bezahlen müssen und in aller Regel auch mit einer unbedingten pekuniären Sanktion belegt werden - ganz zu schweigen von allfälligen eigenen Anwaltskosten sowie Administrativmassnahmen bei SVG-Delikten. Das wird in Verbindung mit dem ebenfalls geplanten hohen Mindesttagessatz von dreissig Franken wegen der noch stärkeren finanziellen Belastung der Verurteilten unweigerlich zu mehr Ersatzfreiheitsstrafen führen.
Auch der sinnvollen, sozialkonstruktiven Sanktion der gemeinnützigen Arbeit geht es an den Kragen. Man argumentiert mit der unbelegten Behauptung, sie habe sich nicht bewährt. Geplant ist, sie nur noch als mögliche Alternative zu einer stationären kurzen unbedingten Freiheitsstrafe einzusetzen. Ferner soll die Obergrenze für den teilbedingten Freiheitsentzug von drei auf zwei Jahre hinuntergesetzt werden - obwohl man bei der Lektüre von Urteilen, die heute zu Freiheitsstrafen zwischen zwei und drei Jahren mit teilbedingtem Vollzug führen, den Eindruck hat, sie würden dem Bedürfnis nach Vergeltung ausreichend Rechnung tragen. Wenn der unbedingte Teil ein Jahr nicht überschreitet, eröffnen sie gleichzeitig dem Betroffenen die Chance, die sozialen Folgen des Freiheitsentzugs abzufedern, da bis zu dieser Strafdauer die Halbgefangenschaft möglich ist.
Man fühlt sich betroffen, wenn man in diesem Zusammenhang sehen muss, wie in der medialen Öffentlichkeit mit unbewiesenen Alltagstheorien und Faktenignoranz der Ist- und Sollzustand des Strafwesens diskutiert wird. Man vermisst einen fundierten, sachbezogenen Diskurs. Es wird einfach behauptet. Unausrottbar ist namentlich der Irrglaube an eine spürbare Reduktion der Kriminalität bei mehr Härte. Dies, obwohl die massgebenden kriminologischen Studien belegen, dass die Höhe der drohenden Strafe im Rahmen der Kriminalitätsfaktoren und für die Rückfallwahrscheinlichkeit eines Verurteilten nur eine untergeordnete Rolle spielt. Missachtet wird auch die sich daraus ergebende Erkenntnis, dass im untern Bestrafungsbereich die verschiedenen Sanktionen (kurze unbedingte und bedingte Freiheitsstrafen, Geldstrafen oder gemeinnützige Arbeit) weitestgehend gleiche Erfolgschancen haben und austauschbar sind. Mehr Freiheitsstrafen führen statt zu mehr innerer Sicherheit einzig zu massiven Mehrkosten für den Staat - was gewisse Protagonisten nicht daran hindert, sich gleichzeitig für weniger Steuern stark zu machen.
Im geschilderten Kontext ist auch das Postulat nach ersatzloser Abschaffung der Wiedergutmachungsnorm des Artikels 53 StGB zu sehen. Die Kritik stützt sich auf die zwei Aufsehen erregenden Fälle: Zum einen das Verfahren gegen den ehemaligen Armeechef Nef wegen Stalking und Nötigung etc. (siehe Urteil 1C_322/2010 des Bundesgerichts vom 6.10.2010, BGE-Publikation vorgesehen), zum anderen der Fall des Industriellen Vekselberg wegen Börsendelikten (Einstellungsverfügung des Eidgenössischen Finanzdepartements vom 18.10. 2010; zum Wortlaut siehe www.beobachter.ch/Vekselberg).
Dazu ist zu bemerken, dass man ein Institut, mit dem Neuland betreten wird, über eine längere Zeit beobachten sollte, bevor man über sein weiteres Schicksal befindet. Dies inbesondere angesichts der reichhaltigen Erfahrungen mit Wiedergutmachungsregelungen im Ausland und der inzwischen entstandenen, die Einzelfragen vertiefenden schweizerischen Literatur zur Thematik. Zu den erwähnten beiden Fällen ist deshalb vorerst nur zu sagen: «Hard cases make bad laws.»
Kritisiert wird, die Regelung nütze Reichen, die sich durch Bezahlung einer Bestrafung entziehen könnten, und verstosse gegen die Rechtsgleichheit. Dies wurde schon bei Einführung der Norm vereinzelt geltend gemacht, aber nicht als überzeugend angesehen.
Zum «Reichenprivileg»: Dieses Argument wird schon durch den Gesetzestext widerlegt. Voraussetzung ist, dass der Täter entweder den Schaden gedeckt «oder alle zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, um das begangene Unrecht auszugleichen». Profitieren können somit auch Leute, die nicht in der Lage sind, innert nützlicher Frist den Schaden zu ersetzen. Verlangt werden Anstrengungen, die man vernünftigerweise vom Beschuldigten erwarten kann, unter Berücksichtigung aller Umstände, namentlich seiner Schuld und seiner finanziellen Situation (siehe Botschaft des Bundesrates zur Sanktionenreform, Anmerkung 1, S. 88). Teilschadenersatzleistungen können namentlich bei geringer Schuld als vollständige Wiedergutmachung gewertet werden, denn die strafrechtliche Schuld kann trotz eines hohen materiellen Schadens gering sein, so zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall oder bei einer fahrlässigen Brandstiftung.
Zu denken ist aber auch an alternative Formen der Wiedergutmachung, wenn kein materieller Schaden entstanden ist oder der Geschädigte die Wiedergutmachung nicht annimmt (beispielsweise durch aktive soziale Leistungen an die Allgemeinheit in Geldform oder in Form gemeinnütziger Arbeit) oder wenn der rechtmässige Zustand wiederhergestellt wird (zum Beispiel die Reinigung einer besprayten Wand). Auch ist es möglich, verschiedene Wiedergutmachungsleistungen miteinander zu verbinden. Verlangt wird ferner neben dem Vorliegen der Voraussetzungen des bedingten Strafvollzugs, dass das Interesse der Öffentlichkeit und des Geschädigten an der Strafverfolgung gering sein muss. Es genügt somit nicht, dass der Reiche einfach sein Checkbuch zückt. General- und spezialpräventive Gründe können gegen eine Strafbefreiung sprechen.
Die Kritik verkennt ferner die Funktion der Wiedergutmachung. Diese orientiert sich an in weitem Umfang erprobten ausländischen Vorbildern und dient Opfern - namentlich bei zwischenmenschlichen Konflikten - oft mehr als ein stures Abstrafen. Die Rechtsordnung soll eine Friedensordnung sein. Die Meinung, der Rechtsfriede könne einzig durch eine ausnahmslose Bestrafung wiederhergestellt werden, beruht auf einer einseitigen Sichtweise.
Fokussiert man sich einzig auf mögliche Vorteile für Reiche, müsste man noch vor der Wiedergutmachung auch die Antragsdelikte abschaffen: Ein Reicher kann, etwa nach einer einfachen Körperverletzung, durch ein fürstliches Honorar leichter einen Antragsrückzug erreichen als weniger Bemittelte. Auch die Regel über die häusliche Gewalt (Artikel 55a StGB) müsste man ändern. Dort hat man zwar ein Offizialdelikt geschaffen, aber das Gesetz sieht die Möglichkeit der Sistierung und der Verfahrenseinstellung ausdrücklich vor. Selbst unbedingte Geldstrafen müssten abgeschafft werden, weil Reiche diese, selbst wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse bei der Höhe eines Tagessatzes berücksichtigt werden, leichter verkraften als Arme.
Was die Rechtsgleichheit angeht, bietet die neue Schweizerische Strafprozessordnung ideale Voraussetzungen für ihre Berücksichtigung. Denn es entscheiden nicht mehr voneinander unabhängige Untersuchungsrichter, sondern die hierarchisch strukturierte Staatsanwaltschaft. Deren Spitze kann durch Weisungen oder Genehmigungsvorbehalte eine einheitliche Praxis sicherstellen. Zudem ist ein Strafbefreiungsentscheid anfechtbar und laut Bundesgerichtspraxis bei berechtigten Interessen (also etwa der Medien) einseh- und öffentlich kritisierbar.
Die Wiedergutmachungsnorm ist eine Opportunitätsregel. Diese haben es in der Schweiz schwer. Sie spielen jedoch im Zusammenhang mit den Prozesserledigungsmethoden eine wichtige Rolle. Man hat in vielen zivilisierten Staaten Mühe, den grossen Anfall an Strafverfahren mit konventionellen Mitteln zu bewältigen. In vielen Ländern ist deshalb die sogenannte Diversion gang und gäbe. Sie bedeutet «Ablenkung» des Verfahrens auf informelle Erledigungsarten ohne Schuldspruch und Strafe. Es wird zwischen schlichter und intervenierender Diversion unterschieden, wobei bei der Ersteren das Verfahren einfach eingestellt wird. Bei der Letzteren hängt die Einstellung davon ab, dass der Betroffene eine bestimmte Leistung erbringt, namentlich einen Geldbetrag bezahlt, gemeinnützig arbeitet oder eben Wiedergutmachung leistet. In Österreich zum Beispiel werden von hundert anklagetauglichen Verfahren 55 Prozent so erledigt, in Deutschland sind es grosso modo 50 Prozent. Der Beschuldigte ist dabei am Ende nicht vorbestraft.
Untersuchungen zeigen, dass Diversionsentscheidungen, was die Rückfallwahrscheinlichkeit anbetrifft, keineswegs weniger effizient sind als förmliche Bestrafungen. Diversion ist eine Alternative zur klassischen Bestrafung. Dem Interesse der Strafökonomie und dem Ultima-ratio-Charakter der Strafe wird Rechnung getragen. Klassische Sanktionen werden gezielt für gravierendes Fehlverhalten und Wiederholungstäter reserviert.
In der Schweiz ist der «Fluchtweg» das Strafbefehlsverfahren. Es ist an sich ein sinnvoller Prozesstyp, wenn es um geringfügigere Fälle mit pekuniären Strafen geht. Die in der Schweiz geübte Praxis gibt jedoch zu grossen Bedenken aus rechtsstaatlicher Sicht Anlass. Bekanntlich können dabei Strafen bis zu sechs Monaten Freiheitsentzug ausgesprochen werden. Deshalb stammen über 95 Prozent aller Verurteilungen nicht von einem Strafgericht gestützt auf eine öffentliche Hauptverhandlung, sondern sind Folge des Strafbefehls eines Staatsanwalts. Über 95 Prozent aller Verurteilten der Schweiz haben somit im Laufe ihres Verfahrens keinen Richter gesehen. Viele nicht einmal einen Staatsanwalt, denn Staatsanwälte haben bei Strafbefehlen oft keinen persönlichen Kontakt mit dem Beschuldigten. Es erfolgt eine Verurteilung auf dem Korrespondenzweg, ein Fernurteil. Die richterliche Tätigkeit erleidet dadurch einen Bedeutungsverlust, während das Vorverfahren zur ausschlaggebenden Prozessphase und der Staatsanwalt zum dominanten Verfahrensmanager wird. Der Inquisitionsprozess feiert Wiederauferstehung.
Zwar kann der Beschuldigte Einsprache erheben. Dann kommt es zu einem gerichtlichen Verfahren. Es ist jedoch bekannt, dass Strafbefehle von zahlreichen Betroffenen mangels Lesekompetenz, Sprachkenntnissen oder Intelligenz gar nicht verstanden werden. So wissen wir aus der Pisa-Studie, dass zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung nicht lesen oder jedenfalls keine komplizierten Texte verstehen kann. Auch Personen, die der Gerichtssprache nicht mächtig sind, werden oft (übrigens EMRK-widrig) mit unübersetzten Strafbefehlen eingedeckt (siehe Basler Kommentar zur StPO von Franz Riklin, Vor Art. 352-356 N 5). Zudem weist diese Verfahrenserledigungsart den höchsten Anteil an Fehlurteilen auf (Gwladys Gilliéron / Martin Killias in: Marcel Alexander Niggli / José Hurtado Pozo / Nicolas Queloz, FS Franz Riklin, 379ff.; Gilliéron, Strafbefehlsverfahren und plea bargaining als Quelle von Fehlurteilen, Zürich 2010). Diese Defizite sind besonders gravierend, wenn nun wieder vermehrt auch Freiheitsstrafen mit Strafbefehlen verhängt werden sollen.
Und allen, welche die Strafrechtsreform mit dem Argument bekämpfen, sie betreibe Täter- statt Opferschutz, sei ins Stammbuch geschrieben, dass die in den letzten zwanzig bis dreissig Jahren erfolgte prozessuale Stärkung des Geschädigten und Opfers durch das Strafbefehlsverfahren unterlaufen wird - dies namentlich in Bezug auf die Möglichkeit, zivilrechtliche Ansprüche im Strafverfahren adhäsionsweise geltend zu machen, da nicht anerkannte Zivilforderungen zwingend auf den Zivilweg verwiesen werden müssen.
Im Unterschied zur derart «urteilshungrigen» Schweiz werden in keinem anderen Land mit so legeren Regeln Strafbefehle verhängt und nirgendwo ist ihr prozentualer Anteil derart hoch. In Deutschland erlässt gegebenenfalls ein Richter auf Antrag der Staatsanwaltschaft den Strafbefehl. Diese Art der Verfahrenserledigung ist bei unbedingten Freiheitsstrafen verboten und bei bedingten nur zulässig, wenn der Beschuldigte verteidigt ist. In Österreich hat man dieses Verfahren wegen rechtsstaatlicher Bedenken gar völlig abgeschafft!
Statt sich auf die Abschaffung der Wiedergutmachung zu kaprizieren, die eine Bereicherung darstellt und begrenzt die Bahn zu alternativen Konfliktlösungsstrategien ebnet, wäre es höchste Zeit, unseren «Fluchtweg» über das Strafbefehlsverfahren und die sehr problematische «Urteilsproduktionsmaschinerie» kritischer unter die Lupe zu nehmen, als es bisher geschehen ist.