Die Bedenken bei der Einführung des Titels Fachanwalt des Schweizerischen Anwaltsverbandes (SAV) waren gross: Generalisten sahen sich durch die Fachanwälte des SAV bedroht. Von Anwälten wie den Baslern Philipp Simonius und Luc Saner, aber auch aus Anwaltssektionen wie St. Gallen gab es vor rund zehn Jahren Widerstand.
Philipp Simonius formulierte damals seine Bedenken in einem plädoyer-Interview so: Anwälte würden an der Universität und in den Kantonen bereits mehrfach auf Spezialwissen geprüft, gerade im Arbeits- und Familienrecht. Alltägliche Fälle seien selten hochkomplex. Die Spezialisierung führe zu einer Verteuerung der anwaltlichen Leistungen, die gerade Menschen mit kleinen Einkommen den Zugang zum Recht erschwerten.
Bau- und Immobilienrecht am beliebtesten
Die Zulassungshürden seien zu hoch, lautete eine Stossrichtung der Kritik. Kleine und mittlere Büros von Generalisten erreichten kaum die nötige Anzahl Stunden in einem Fachgebiet. Gerade Junganwälten sei die Ausbildung verwehrt. Grosskanzleien würden so bevorzugt. Zudem befürchtete mancher Generalist, Klienten in anderen Rechtsgebieten zu verlieren, wenn er mit dem Stempel Fachanwalt versehen sei (plädoyer 3/02).
Inzwischen tragen 3,5 Prozent der Anwälte in der Schweiz oder insgesamt 292 Personen den Titel Fachanwalt SAV. Am beliebtesten ist mit 71 vergebenen Titeln der im Jahr 2008 eingeführte Kurs Bau- und Immobilienrecht. Den im gleichen Jahr gestarteten Titel Familienrecht tragen nur 36 Anwälte. Bei den restlichen drei Titeln, die bereits im Jahr 2007 eingeführt wurden, halten sich die Zahlen die Waage: 65 Anwälte erwarben den Titel im Arbeits-, 58 im Erb- sowie 62 im Haftpflicht- und Versicherungsrecht.
Bislang haben insgesamt 14 Kandidaten die Prüfung nicht bestanden: 8 Kandidaten scheiterten an der schriftlichen Prüfung, 6 am Fachgespräch. 9 SAV-Mitglieder wurden nicht zu den Kursen zugelassen, weil sie die Zulassungskriterien nicht oder noch nicht erfüllten.
Nicht bestätigt hat sich die anfängliche Annahme, dass sich vor allem Grosskanzleien für die Titel interessieren. Nach Erhebungen des SAV kommen knapp neunzig Prozent der Teilnehmer aus kleinen und mittleren Kanzleien mit drei bis fünf Partnern. Sie sind zu achtzig Prozent zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Zugelassen zur SAV-Weiterbildung werden vollzeitlich tätige Anwälte, wenn sie während mindestens fünf Jahren überdurchschnittliche praktische Erfahrungen auf dem jeweiligen Rechtsgebiet vorweisen können. Bei Anwälten, die Teilzeit arbeiten, verlangt der Anwaltsverband eine Berufserfahrung von mindestens sieben Jahren.
Die Kosten für die Ausbildung veranschlagte Mirkos Roš, Präsident der Rekurskommission Fachanwalt SAV, in der Anwaltsrevue 8/2007 auf 15 000 Franken (Kursunterlagen, Titelgebühr und Übernachtungen). 300 Stunden müsse ein Fachanwalt etwa für die Ausbildung aufwenden. Wenn davon 180 Stunden in die Arbeitszeit fielen und man mit einem Stundenansatz von 200 Franken rechne, investiere ein Fachanwalt zusätzlich zu den Kurskosten rund 36 000 Franken an normalerweise verrechenbaren Stunden. Damit belaufen sich die Gesamtkosten für diese Spezialisierung auf gut 50 000 Franken.
Neuer Schwung dank der Zusatzausbildung
Diese Zahlen bestätigt Patrick Wagner, Fachanwalt Haftpflicht- und Versicherungsrecht aus Rheinfelden. Er hat zwar die Erfahrung gemacht, dass er nun weniger Klienten aus anderen Fachgebieten hat. Trotzdem überwiegen für ihn die Vorteile. So habe er wieder mehr Motivation und Freude an der Arbeit und neue Klienten aus anderen Regionen gewonnen. Und er erfahre bei den Behörden als Fachanwalt mehr Respekt. «Ich bin mittlerweile zu siebzig Prozent im Haftpflicht- und Versicherungsrecht tätig», sagt Wagner. Er schätzt den anhaltenden Kontakt zu Kollegen in der ganzen Schweiz. Dank dieser Ausbildung habe er eine komplette, detaillierte Dokumentation zum Fachgebiet und verwandten Rechtsgebieten. Zudem könne die Ausbildung neuen Schub geben, sollte man nach einigen Jahren oder Jahrzehnten Anwaltstätigkeit einen Durchhänger verspüren. Sein Fazit: «Ich würde die Ausbildung auf jeden Fall wieder machen.»
Die Berner Familienrechtsanwältin Jasmin Brechbühler bestätigt Wagners Eindruck. Sie arbeitet heute bis zu 70 Prozent im Familienrecht. «Die vertieften Kenntnisse ermöglichen mir, komplexe Fälle anzunehmen», so Brechbühl. Antrieb ist somit hauptsächlich der Wunsch nach Weiterbildung. Diese Erwartung scheint der Fachanwalt zu erfüllen. Die Vernetzung mit Kollegen und die umfangreiche Dokumentation zum Fachgebiet finden Zuspruch. Fachanwälte treffen sich an eigenen Weiterbildungsveranstaltungen wie den Zurzacher Erbrechts- oder den Luzerner Arbeitsrechtstagen. Auch die Familienrechtler treffen sich einmal pro Jahr.
Gemäss Weiterbildungsreglement des SAV muss ein Fachanwalt pro Kalenderjahr zwei Tage Weiterbildung nachweisen, was zwölf Weiterbildungspunkten (Credits) entspricht. Eine persönlich besuchte Lektion von 45 Minuten entspricht einem Credit, eine dozierte Lektion von 45 Minuten im Fachgebiet entspricht drei Credits. Im Einzelfall werden für Fachpublikationen ein Credit pro 3000 Zeichen, höchstens jedoch sechs Credits angerechnet.
Mässiges Interesse bei ausgebufften Profis
Für altgediente Anwälte mit festem Klientenstamm ist der Fachanwalt hingegen kein Thema. Dank dichten Netzwerken können sie Fachwissen anderweitig an Bord holen. Ein eingefleischter Generalist wiederum will Generalist bleiben und schätzt seine fachliche Freiheit. «Grosse institutionelle Klienten wie Banken und Versicherungen wenden sich eher an den Fachanwalt, um Haftungsklagen auszuschliessen», sagt der Tessiner Anwalt Roberto Haab. Dafür sei er als Generalist frei in der Wahl von Mandaten und der Einteilung seiner Arbeitszeit. Trotzdem schliesst der 63-Jährige nicht aus, dass er sich heute den Erwerb des Fachtitels überlegen würde, wäre er nochmals dreissig.
Bei seiner bereits vor zehn Jahren vorgebrachten Kritik bleibt der Basler Advokat Luc Saner. Für ihn geht die zunehmende Spezialisierung in die falsche Richtung. «Es gilt, das Wesentliche ins Zentrum zu rücken und ein sinnloses Zerfallen der Wissenschaft in zu viele unnötig spezialisierte Fachgebiete zu verhindern.» Er kritisiert die Fanclub-Mentalität der Spezialisten und kämpft für ein Studium generale. Die globalisierte Welt verlange in Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft nach Führungskräften, die den Überblick hätten.
Spezialisten als Ergänzung, nicht Konkurrenz
Die Gefahr, dass die Spezialisten überhandnehmen, sieht Mirko Roš nicht. Spezialisten und Generalisten ergänzten sich eher, als dass sie sich konkurrenzierten. Dies bestätige ein Blick über die Grenzen. Deutschland kennt den Fachanwalt seit bald dreissig Jahren. Dennoch sind bis heute erst zwanzig Prozent der Mitglieder beim Deutschen Anwaltsverein als Fachanwalt eingetragen. Roš anerkennt: «Ein Generalist kann hervorragende Arbeit leisten.» Der Schweizer Anwaltschaft bescheinigt er ein hohes Niveau. Anwaltsverbände, Universitäten und Fachhochschulen böten seit langem viele Weiterbildungen an. «Die Kleinräumigkeit der Schweiz setzt der Spezialisierung Grenzen», so Roš. Den deutschen Fachanwalt für Transport- und Speditionsrecht werde es in der Schweiz nie geben.
Die nächsten Kurse zum Fachanwalt
Arbeitsrecht
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich bietet zusammen mit den Universitäten Basel und St. Gallen und dem Schweizerischen Anwaltsverband Spezialisierungskurse im Arbeitsrecht an. Bei Bestehen der abschliessenden schriftlichen Prüfung wird das «Certificate of Advanced Studies der Universität Zürich in Arbeitsrecht» verliehen.
Anmeldeschluss: 29. Februar 2012.
Bau- und Immobilienrecht
Ab November 2011 führt das Institut für Schweizerisches und Internationales Baurecht der Universität Freiburg in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Anwaltsverband den dritten Spezialisierungskurs zum Bau- und Immobilienrecht durch. Dieser einjährige Kurs bietet eine intensive, interaktive Auseinandersetzung mit Fragen aus dem gesamten (privaten und öffentlichen) Bau- und Immobilienrecht. Das erfolgreiche Bestehen der schriftlichen Prüfungen führt zum Erwerb des «Certificate of Advanced Studies Bau- und Immobilienrecht (Construction and Real Estate Law)», das vom Institut für Schweizerisches und Internationales Baurecht der Universität Freiburg verliehen wird.
Anmeldeschluss: 31. Mai 2011.
Familienrecht
Die Rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Freiburg und Zürich führen in Zusammenarbeit mit den Universitäten Bern, Luzern und St. Gallen und dem Schweizerischen Anwaltsverband im Zeitraum Ende August 2011 bis März 2012 den dritten Spezialisierungskurs im Familienrecht durch. Bei Bestehen der Prüfungen wird das «Certificate of Advanced Studies (Familienrecht)» der Universität Freiburg und der Universität Zürich verliehen.
Nächster Kursbeginn 2012.
Erbrecht
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich organisiert in Zusammenarbeit mit der Universität Luzern sowie dem Schweizerischen Anwaltsverband den derzeit laufenden vierten Spezialisierungskurs im Erbrecht. Bei Bestehen der abschliessenden schriftlichen Prüfung wird das «Certificate of Advanced Studies der Universität Zürich in Erbrecht» der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich verliehen.
Nächster Kursbeginn 2012.
Haftpflicht- und Versicherungsrecht
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Luzern führt in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich und dem Schweizerischen Anwaltsverband derzeit den dritten Spezialisierungskurs im Haftpflicht- und Versicherungsrecht durch. Der Kurs bietet eine intensive, interaktive Auseinandersetzung mit Fragen des Sozialversicherungsrechts, des privaten Versicherungsrechts sowie des vertraglichen und des ausservertraglichen Schadensrechts. Den Schwerpunkt bilden dabei Personenschäden. Bei Bestehen der abschliessenden schriftlichen Prüfung wird das «Certificate of Advanced Legal Studies (Haftpflicht- und Versicherungs-
recht)» der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern verliehen.
Nächster Kursbeginn 2012.
www.fachanwalt.sav-fsa.ch