plädoyer: Die Volksinitiative ist ein Vorschlagsrecht der Bevölkerung. Der Bundesrat schlägt vor, dass die Verwaltung die Vereinbarkeit einer Initiative mit dem Völkerrecht beurteilt, und zwar schon vor der Unterschriftensammlung. Ist das nicht eine Bevormundung des Volkes durch die Verwaltung?
Gret Haller: Die Stellungnahme der Verwaltung wäre nicht verbindlich. Die Kompetenz zur Ungültigkeitserklärung läge auch in Zukunft bei der Bundesversammlung. Dieser Entscheid kann wie bisher aber erst erfolgen, wenn die Initiative eingereicht und zustande gekommen ist.
Andreas Auer: Das Ziel des bundesrätlichen Vorschlags, menschenrechtswidrige Initiativen wenn möglich zu verhindern, ist ja sympathisch. Aber die materielle Vorprüfung bewirkt einen starken Eingriff in das Initiativrecht und die Abstimmungsfreiheit. Sie wirft dazu ernsthafte Probleme auf bezüglich ihrer Durchführbarkeit. Vor allem aber ist sie unverhältnismässig, denn das angestrebte Ziel vermag sie nicht zu erreichen.
plädoyer: Warum nicht?
Auer: Noch vor der Unterschriftensammlung unterzieht die Verwaltung den Initiativentwurf einer Vorprüfung und gibt grünes, gelbes oder rotes Licht für die Initiative. Grün heisst: kein Problem mit dem Völkerrecht, Gelb heisst mögliche Verletzungen von Menschenrechten und Tot bedeutet Verletzung von zwingendem Völkerrecht. Ein entsprechender Vermerk kommt auf den Unterschriftenbogen. Und die Stellungnahme wird im Bundesblatt publiziert. Damit soll verhindert werden, dass Initiativen menschenrechtswidrig formuliert werden, dass sie zustande kommen oder dass das Volk sie annimmt.
plädoyer: Würden dadurch den Urhebern einer Initiative nicht mögliche Konflikte mit dem Völkerrecht bewusst?
Auer: Bei vielen problematischen Initiativen nimmt das verantwortliche Komitee eine Völkerrechtswidrigkeit bewusst in Kauf, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Auf die Stimmberechtigten, die sich anschicken, eine völkerrechtlich problematische Initiative zu unterschreiben, hat ein Vermerk der Verwaltung keinen Einfluss. Ihnen geht es um die Sache. Sie wollen zum Beispiel keine Minarette mehr oder alle Ausländer ausschaffen – egal ob das völkerrechtswidrig ist oder nicht. Gleich verhält es sich bei der Abstimmung.
Haller: Ich habe den Bericht des Bundesrates zu den drei Zielen – nicht lancieren, nicht unterschreiben, in der Abstimmung ablehnen – nicht so gelesen. Ziel der materiellen Vorprüfung ist es, rechtzeitig aufzuzeigen, ob eine Volksinitiative in Konflikt mit dem Völkerrecht geraten könnte. So erreicht man, dass die politische Diskussion nicht erst im Abstimmungskampf, sondern bereits viel früher einsetzt. Deshalb sehe ich im Vorschlag des Bundesrates eine Verwesentlichung der Volksrechte.
plädoyer: Ist es nicht grundsätzlich problematisch, von der Verwaltung eine unverbindliche Meinungsäusserung zu einer Volksinitiative zu verlangen?
Haller: Das ist in der Tat ein wenig problematisch. Aber was wäre die Alternative zur unverbindlichen Stellungnahme der Verwaltung? Eine verbindliche Verfügung, die bis ans Bundesgericht weitergezogen werden könnte. Ein Gericht könnte also Volksinitiativen autoritativ verbieten. Das ist gegen die Tradition unseres Landes, wonach generell-abstrakte Normen auf Verfassungs- und formeller Gesetzesebene ausschliesslich aus der Politik hervorgehen, der Schutz des Einzelnen vor diesen Normen hingegen Sache der Gerichte ist.
Auer: Könnte das Bundesgericht definitiv über Initiativen beschliessen, würde das in unserer Verfassungsgerichtsbarkeit völlig quer stehen. Dann müsste man dem Bundesgericht auch zugestehen, Bundesgesetze zu prüfen. Dafür müsste der Artikel 190 der Bundesverfassung gestrichen werden. Zudem würde sich die Frage stellen, wie mit Verfassungsinitiativen zu verfahren ist, die von Behörden lanciert werden.
plädoyer: Stört es Sie nicht, dass die Verwaltung ihre Meinung abgibt und damit eine «Entscheidungshilfe» vorlegt?
Haller: Ich erachte finanzkräftige Emotionalisierungskampagnen kurz vor Abstimmungen als eine grössere Gefahr für die Abstimmungsfreiheit. Die unverbindliche Stellungnahme der Verwaltung fällt da kaum ins Gewicht.
plädoyer: Der Kanton St. Gallen kennt bereits ein Zulassungsverfahren für Initiativen. Gab es je Probleme damit?
Auer: Die seit 1996 geltende St. Galler Lösung erreicht zumindest das angestrebte Ziel. Eine Initiative ist vorab dem Regierungsrat vorzulegen, der innert vier Monaten einen Zulässigkeitsentscheid fällt. Verneint er, ist eine Beschwerde am Verwaltungsgericht möglich. Das hat sich bewährt.
plädoyer: Schon heute dauert die formelle Vorprüfung einer Initiative und die Freigabe der Übersetzungen in den Landessprachen durch die Bundeskanzlei mehrere Monate. Ist es sinnvoll, die zeitlichen Hürden noch zu erhöhen?
Auer: Das Verfahren würde wahrscheinlich verlängert. Zudem: Viele Initianten sind Amateure, ihnen stehen hochqualifizierte Beamte der Verwaltung gegenüber. Doch gute Verhandlungen gibt es nur, wenn sich die Verhandlungspartner auf Augenhöhe begegnen.
Haller: Ich halte viele dieser formellen Fragen, die Sie als problematisch bezeichnen, für lösbar. Viel wichtiger erscheint mir, dass durch das vorgeschlagene Verfahren die Zeitspanne der politischen Auseinandersetzungen über allfällige Konflikte mit dem Völkerrecht verlängert würde und die rationale Aufklärungsarbeit rechtzeitig einsetzen könnte.
plädoyer: Sind die Verhandlungen über den Initiativtext unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung vertretbar?
Auer: Ganz und gar nicht. Nach heutigem Recht besteht die Möglichkeit eines ausgearbeiteten Vorschlags oder einer allgemeinen Anregung. Bei der Anregung wird die Initiative von den politischen Behörden ausformuliert und kommt dann vors Volk. Beim ausgearbeiteten Vorschlag formuliert das Komitee den Text und der Bundesrat kann kein Komma daran ändern. Die materielle Vorprüfung verwischt diese beiden Verfahren, zudem wird die Verantwortlichkeit für den Text unklar.
Haller: Die Initianten müssen die Ratschläge der Verwaltung ja gar nicht annehmen.
plädoyer: Wird die geplante Vorprüfung dem Stimmbürger beim Entscheid helfen?
Auer: Sie wird Verwirrung stiften. Hat ein Stimmbürger einen Unterschriftenbogen mit einem Vermerk der Völkerrechtswidrigkeit vor sich, wird er sich überlegen, ob er unterschreiben darf. Er ist also beeinflusst und fragt sich eventuell, ob seine Stimme überhaupt zählt. Kommt eine solche Initiative zur Abstimmung und auf dem Abstimmungszettel steht wiederum «völkerrechtswidrig», wird sich mancher fragen, ob er trotzdem Ja stimmen darf. Das ist ein direkter Eingriff in die Abstimmungsfreiheit. Das Bundesgericht hat bisher nie akzeptiert, wenn ein Kanton so direkt auf die Willensbildung einwirkt.
Haller: Sie verkaufen den Stimmbürger für dumm. Initiativkomitees, die sozusagen missionarisch unterwegs sind und das Völkerrecht absichtlich torpedieren, werden die Stellungnahme der Verwaltung als Argument verkaufen, eine Initiative erst recht zu unterschreiben. Der Stimmbürger ist nicht so unwissend, dass er nicht einschätzen kann, ob seine Unterschrift etwas bringt oder nicht.
plädoyer: Spurt die Stellungnahme der Verwaltung die Meinung des Parlaments vor?
Auer: Wo Inhalt und Grenzen der Menschenrechte liegen, kann die Bundesversammlung als politisches Organ nicht entscheiden. Nach geltendem Recht darf sie einzig Initiativen, die zwingendes Völkerrecht verletzen, ungültig erklären. Was Menschenrechte im Einzelfall bedeuten, kann nur der Richter entscheiden. Das Bundesgericht hat im Urteil BGE 139 I 16 vom 12. Oktober 2012 gesagt, dass die Ausschaffungsinitiative mit Artikel 121, Absatz 3 bis 6 keinen Vorrang vor der Europäischen Menschenrechtskonvention geniesst und dass es die Verfassungsbestimmung im Einzelfall, beispielsweise bei einem Konflikt mit dem Recht auf Familienleben oder einem anderen Grundrecht, nicht anwenden kann. Das ist ein Jahrhundertentscheid.
Haller: Der Richter darf und soll nicht nur Gesetzes-, sondern sogar vom Volk verabschiedete Verfassungsnormen nicht anwenden, wenn es zum Schutz des Individuums vor Grund- und Menschenrechtsverletzungen nötig ist. Das Gegenstück dazu besteht darin, dass ein Richter eine generell-abstrakte Norm auf Verfassungs- oder formeller Gesetzesebene weder ausser Kraft setzen noch ihr Zustandekommen verbieten darf. Das sind für mich zwei Seiten derselben Medaille. Es ist einzig Aufgabe des Gesetzgebers zu entscheiden, ob und wann eine vom Richter nicht angewendete Norm formell wieder aufgehoben wird.
Auer: Die Ausschaffungsinitiative zeigt, dass die Bundesverfassung nicht sakrosankt ist und dass es Verfassungsbestimmungen gibt, die im Einzelfall nicht anwendbar sind. Wir kennen das vom kantonalen Recht. Auf Bundesebene meinen wir aber immer noch, alles vom Volk Entschiedene müsse umgesetzt werden. Das Volk ist das höchste Organ im Staat, aber es darf die Menschenrechte nicht verletzen. Die Menschenrechte stehen nicht zur Disposition.
Andreas Auer, 65, ist Professor für öffentliches Recht an der Universität Zürich und Honorarprofessor an der Universität Genf. Zudem leitet er das Zentrum für Demokratie in Aarau.
Gret Haller, 65, ist Juristin und Politikerin. Sie war Nationalratspräsidentin, Botschafterin beim Europarat und arbeitete bis 2011 als Gastwissenschafterin an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Der bundesrätliche Vorschlag zur Überprüfung von Initiativen
Volksinitiativen sollen vom Bundesamt für Justiz und von der Direktion für Demokratie daraufhin geprüft werden, ob sie mit dem Völkerrecht und mit dem Kerngehalt der Grundrechte der Bundesverfassung vereinbar sind. Das noch bevor die Sammlung der nötigen 100 000 Unterschriften begonnen hat. Der Bundesrat hat dazu aufgrund von zwei parlamentarischen Motionen eine Vorlage ausgearbeitet.
Das Prüfungsergebnis ist für die Initianten zwar nicht bindend, soll aber auf den Sammelbogen vermerkt werden. Den Initianten steht es frei, ihren Text nachträglich anzupassen. Weder sie noch der Bundesrat oder das Parlament sind an die Stellungnahme der Bundesverwaltung gebunden. Über die Gültigkeit einer Volksinitiative entscheidet weiterhin die Bundesversammlung. Die vorgeschlagene Überprüfung bedingt eine Verfassungsänderung, das materielle Prüfungsverfahren durch die Verwaltung eine Anpassung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte.