Viel zu kompliziert sei der doppelte Proporz mit Standardrundung, behaupteten die grossen Parteien im Vorfeld der Abstimmung in Nidwalden und Zug. Das Verfahren (siehe Kasten Seite 13) sei nicht nachvollziehbar und dem Volk nicht zuzumuten. Doch dieses Volk selbst war am 22. September andererer Meinung: Mit 80,6 Prozent sagte es im Kanton Zug Ja zum doppelten Proporz, mit 57,4 Prozent sprach es sich in Nidwalden für dieses Verfahren aus, das den Willen der Wähler viel besser umsetzt als bisherige Methoden. Für eine Rückkehr zum Majorz, die in Nidwalden ebenfalls zur Debatte stand, sprachen sich nur 20,5 Prozent aus.
Stimmen einiger Gemeinden zählen mehr
Ein klares Signal also an den Kanton Schwyz, der daran ist, ein neues Wahlrecht auszuarbeiten? «Nein», entgegnet Xaver Schuler, Präsident der SVP, der mit 35 von 100 Kantonsratssitzen mächtigsten Partei, «bei uns sind die Verhältnisse anders.» Er spricht von einem Schwyzer Erfolgsrezept, das seit 115 Jahren funktioniere, weil es jede Gemeinde berücksichtige. Es «beruht darauf, dass die Kleinsten, Geringsten alle eine Stimme haben». Jede Gemeinde ist ein Wahlkreis und jeder Wahlkreis hat mindestens einen Sitz zugut. Bloss: Das Wahlsystem «hält vor der Bundesverfassung nicht stand», wie das Bundesgericht am 19. März 2012 festhielt (Urteil 1C_407/2011). Grund: Die Stimmkraft ist höchst unterschiedlich verteilt. Wohnt jemand in einer vom Verfahren bevorzugten Gemeinde, hat seine Stimme viel mehr Gewicht, als wenn seine Mitwählerin in einer anderen Gemeinde ihren Wahlzettel in die Urne wirft.
Krassestes Beispiel in den Kantonsratswahlen vom März 2012 war Riemenstalden, die kleinste Gemeinde. Mit 56 Stimmberechtigten erhielt sie einen Sitz. Auch nur einen Sitz bekam Unteriberg mit 1754 Stimmberechtigten. Eine Stimme aus Riemenstalden hatte also ein 31-mal höheres Gewicht als eine Stimme aus Unteriberg.
Das zweite und gravierendere Problem ist die Benachteiligung der kleineren Parteien. Sie ergibt sich aus der fehlenden Erfolgswertgleichheit: 13 der 30 Wahlkreise haben nur einen Sitz, woraus ein «natürliches Quorum» von 50 Prozent entsteht. Das heisst, wer sicher einen Sitz erringen will, muss 50 Prozent der Stimmen erhalten. Alle Stimmen, die nicht dem Sieger gelten, verpuffen wirkungslos. Diese Wähler hätten genauso gut zu Hause bleiben und den Wahlzettel in den Papierkorb werfen können. Auch in 14 weiteren Wahlkreisen liegt das natürliche Quorum zu hoch. Das Bundesgericht toleriert maximal 10 Prozent, weil sonst «nicht bloss unbedeutende Splittergruppen, sondern auch Minderheitsparteien mit einem gefestigten Rückhalt in der Bevölkerung von der Mandatsverteilung ausgeschlossen bleiben» (1C-407/2011).
«20 988 von 259 432 Wählerstimmen sind bei der Schwyzer Kantonsratswahl 2012 so verloren gegangen», sagt Toni Reichmuth, Präsident der Grünen und Initiant der Interessengemeinschaft pro faire Wahlen. Jede vierte Stimme, die 2008 für die Liste SP/Grüne eingelegt wurde, blieb laut Reichmuth wirkungslos, 2012 jede sechste. Bei den drei grossen Parteien SVP, CVP und FDP lagen diese Verluste nur im einstelligen Bereich. Entgegen der Einschätzung von SVP-Präsident Schuler nimmt das Wahlsystem also ausgerechnet den Kleinsten und Geringsten die Stimme weg.
Pukelsheim: Keine Stimme verpufft wirkungslos
Das Problem wäre zu lösen: mit dem doppelten Proporz, den der Mathematikprofessor Friedrich Pukelsheim zusammen mit der Stadt Zürich für die Parlamentswahlen von 2006 entwickelt hat. Das Verfahren heisst so, weil es zu einer doppelten Verteilung kommt. Zuerst werden alle abgegebenen Stimmen aus dem gesamten Wahlgebiet auf die Listen verteilt. Das ist ein wichtiger Effekt: Es verpuffen keine Stimmen wirkungslos, weil alle, auch jene der Wähler von Minderheitsparteien in kleinen Wahlkreisen, eingesammelt und auf gesamtkantonaler (oder -städtischer) Ebene verwertet werden. Ist in einem Wahlkreis das natürliche Quorum höher als vom Bundesgericht erlaubt, beseitigt der doppelte Pukelsheim das Problem mit diesem Schritt des Einsammelns. Im zweiten Schritt ordnet er dann die errechneten Mandate den einzelnen Wahlkreisen zu.
Dank dieser Verwertung aller Stimmen lassen sich sogar die kleinen Wahlkreise beibehalten, selbst die Einerwahlkreise im Kanton Schwyz – wenn man das tatsächlich will. Allerdings ist dann bei der zweiten Verteilung ein «Schönheitsfehler» nicht auszuschliessen. Es kann sein, dass aus rechnerischen Gründen einem Einerwahlkreis das Mandat einer Partei zufällt, die dort gar nicht auf den ersten Rang kam. «Deshalb empfiehlt sich der majorzbedingte Doppelproporz», erläutert Professor Pukelsheim, der den Kanton Schwyz auch mit Blick vom Gipfel des kleinen Mythen kennt. Bei dieser weiterentwickelten Version werde «immer sichergestellt, dass der Stimmenkönig in einem Einerwahlkreis den Sitz erhält». Der Sitzausgleich erfolgt dann einfach in den grösseren Wahlkreisen. Kritiker des doppelten Pukelsheim sprechen von nicht nachvollziehbaren «Ausreissern». Sie vergessen aber, dass Ausreisser auch bei herkömmlichen Wahlverfahren vorkommen, zum Beispiel durch den Effekt von Listenverbindungen.
Bei der Kantonsverfassung den Bogen überspannt
Im Kanton Schwyz tun die grossen Parteien seit Jahren alles, um den doppelten Proporz zu verhindern. 2010 drückten die SVP und die CVP bei der neuen Kantonsverfassung die explizite Bestimmung durch, dass jede Gemeinde ein Wahlkreis sei, einen Sitz auf sicher habe. Und in Absatz 3 von Paragraf 48 schrieben sie fest, dass der Kantonsrat «innerhalb der Wahlkreise nach dem Grundsatz der Verhältniswahlen bestellt» wird. Das stiess die Tür zum doppelten Proporz komplett zu und führte dazu, dass dieser Absatz im März 2013 wegen Verfassungswidrigkeit von der Bundesversammlung nicht gewährleistet wurde. Seither versucht die SVP, das Problem mit einer Flucht nach vorn zu lösen. Im August reichte sie eine Volksinitiative ein, die damit droht, das Majorzwahlrecht einzuführen – das kleinere Parteien noch krasser benachteiligt.
Der Regierungsrat flüchtet sich in dieser Situation ins Dickicht der Details. So hat das Gremium – SVP und CVP stellen fünf der sieben Mitglieder – eine breite «Auslegeordnung» mit acht Wahlmodellen in die Diskussion geworfen. Komplexe Mischvarianten und die Kombination von Wahlkreisen in Verbänden sollen möglichst viel vom alten System in die Zukunft retten. Dabei ist der Fall laut dem Staats- und Verwaltungsrechtler Andrea Töndury von der Universität Zürich längst klar: «Unter den jetzigen rechtlichen Bedingungen – mit der Beibehaltung der kleinen Wahlkreise – ist der doppelte Pukelsheim der einzige gangbare Weg. Denn die Wahlkreisverbände wären in Schwyz extrem schwierig zusammenzusetzen und führten zu hochkomplexen Sitzberechnungen, ohne aber das Problem der sterbenden Stimmen befriedigend zu lösen.»
Klar ist eins: Es geht um Macht. Nach doppeltem Proporz hätte die Sitzverteilung im Kantonsrat 2012 anders ausgesehen: SVP 34 (statt 35), CVP 29 (29), FDP 22 (23), SP/Grüne 13 (11), übrige 2 (2). Offenbar bestehe eine Angst davor, dass im Kantonsrat mehr Meinungen geäussert würden, so SP-Präsident Martin Reichlin: «Das ist undemokratisch. Das Parlament sollte ein Abbild aller Meinungen in der Bevölkerung sein. Früher wäre es ja auch niemandem in den Sinn gekommen, an der Landsgemeinde Einzelnen den Mund zu verbieten.»
Im Oktober haben die fünf Minderheitsparteien BDP, EVP, Grüne, Grünliberale und SP eine Volksinitiative eingereicht. Sie will in der Verfassung folgenden Grundsatz verankern: «Die Sitze sind den politischen Gruppierungen so zuzuteilen, dass die Stimme jeder Wählerin und jedes Wählers im ganzen Kantonsgebiet möglichst gleiches Gewicht hat.» Ziel ist ein Ersatz der vielen Miniwahlkreise durch vier bis fünf gleich grosse Wahlkreise. In den Miniwahlkreisen sei es für kleinere Parteien angesichts der tiefen Bevölkerungszahl nämlich sehr schwierig, überhaupt Kandidaten aufzustellen.
Aus wissenschaftlicher Sicht haben solche Einerwahlkreise mit Besitzstandsgarantie für abgelegene Dörfer laut Töndury ihre Berechtigung ohnehin verloren: «Früher waren solche Ortsvertretungen für abgelegene Täler sinnvoll, doch mit dem Ausbau der Verkehrswege, mit Telefon und Internet sind nicht mehr die territorialen Fragen von politischer Bedeutung, sondern soziale, wirtschaftliche und kulturelle Anliegen über die örtlichen Grenzen hinweg.»
Pflästerlipolitik im Kanton Freiburg
Ähnlich liegt der Fall im Kanton Freiburg. Dort beschränkt sich das Problem allerdings auf die Wahlkreise Glane und Vivisbach mit 8 und 6 Sitzen. Die Grünliberalen reichten Beschwerde gegen die Grossratswahlen 2011 ein und erhielten recht. Der kantonale Verwaltungsgerichtshof hielt fest, in den beiden Wahlkreisen verstosse das natürliche Quorum von 16,6 beziehungsweise 12,5 Prozent gegen die Bundesverfassung, und verpflichtete die Regierung, «umgehend» ein verfassungsmässiges Wahlystem zu schaffen.
Auch in Freiburg wehren sich die etablierten Parteien mit allen politischen Tricks gegen die Abgabe von Macht und versuchen, andere Stellschrauben im Wahlsystem zu ihren Gunsten zu verändern (siehe Kasten). So forderte die SP – mit 29 von 110 Sitzen die zweitstärkste Partei nach der CVP – den Einbau einer neuen Hürde, um kleinere Parteien fernzuhalten. Nach den Vorstellungen der SP sollte eine Partei allen Ernstes bei der Sitzverteilung nur berücksichtigt werden, wenn sie mindestens 7 Prozent der Stimmen im ganzen Kanton erhalten hat. Der Staatsrat halbierte die Zahl im Vorentwurf auf 3,5 Prozent. Doch der Verfassungsrechtler Jacques Dubey, Professor an der Universität Freiburg, wies nach, dass eine solche Bestimmung «nicht mit den Anforderungen des übergeordneten Rechts kompatibel ist». Als Folge wäre in einzelnen Wahlkreisen nämlich ein Quorum von bis zu 52 Prozent entstanden, falls eine Partei nur in einem Bezirk antritt.
Nun versuchen die Parteien ein Modell durchzuboxen, das zwar das natürliche Quorum in den beiden problematischen Wahlkreisen unter die geforderten 10 Prozent senkt, ansonsten aber alles beim Alten lässt. Dabei würden die Kreise Glane und Vivisbach zu einem Wahlkreisverband zusammengeschlossen, in dem die Sitze im Sinne eines Mini-Pukelsheim verteilt werden. Alles andere bliebe unverändert. Der Vorteil solcher Pflästerlipolitik für die grossen Parteien: In den übrigen fünf Wahlkreisen würden weiterhin Tausende von Wählerstimmen für kleinere Parteien ohne Wirkung verpuffen. Die Vernehmlassung ist abgeschlossen, der Staatsrat arbeitet an einem Gesetzesentwurf.
SVP: Einmal für und dann wieder gegen den Majorz
Ein Blick in die Kantone zeigt, wie opportunistisch die Parteien agieren. Wo sie stark sind und von den «sterbenden» Stimmen profitieren, lassen sie keinen guten Faden am doppelten Proporz. Gehören sie aber zu den benachteiligten Kleinen, fordern sie lautstark ein gerechteres System. Bestes Beispiel dafür ist die SVP. Im Kanton Schwyz fordert sie den Majorz, im Wallis das Gegenteil. Sie ist zusammen mit der SP Oberwallis und den Grünen im Komitee der Volksinitiative «Jede Stimme zählt», die bald zur Abstimmung gelangen soll. Zudem pushte das Komitee den doppelten Pukelsheim im August 2012 mit einer Beschwerde ans Bundesgericht gegen die Zuteilung der Grossrats-sitze auf die Wahlkreise. Die Aussichten auf Erfolg scheinen intakt. «In seinem Schwyzer Entscheid zeichnete das Bundesgericht vor, dass es seine frühere Haltung aufgrund neuer Rechtsentwicklungen und Wahlverfahren revidieren könne», sagt Töndury. Tatsächlich war der doppelte Proporz noch nicht erfunden, als das Bundesgericht im Wallis natürliche Quoren von über 10 Prozent tolerierte – gerechtfertigt durch den Minderheitenschutz und die Wahrung historisch gewachsener Gebietsidentität.
In Graubünden kämpfte die SVP explizit gegen den Majorz. Zusammen mit SP, Grünen, Grünliberalen, EVP und EDU sammelte sie Unterschriften für eine Initiative, die den Proporz für die Grossratswahlen forderte. Das heutige Majorzsystem, so das Initiativkomitee, «ist veraltet und ungerecht. Es bildet den Willen der Wählenden nicht ab.» Die SVP kam bei den Nationalratswahlen 2011 auf 24 Prozent Wähleranteil, hält aber im Grossen Rat nur 3 Prozent der 120 Sitze. Die FDP hingegen kommt mit 12 Prozent Wähleranteil auf 32 Prozent der Sitze, die CVP mit 17 Prozent Wähleranteil auf 28 Prozent der Sitze. Das Volk lehnte die Initiative im März mit 56 Prozent Nein ab. So wird der Grosse Rat Mitte 2014 erneut im Majorz gewählt.
Wie im Kanton Schwyz verursacht die Wahlkreiseinteilung massive Verzerrungen. So hat eine Person im Kreis Avers elf Mal mehr Stimmkraft als eine aus dem Kreis Ruis. Eine Beschwerde ans Bundesgericht ist absehbar. Bislang ist höchstrichterlich nicht geklärt, welche Anforderungen an ein Majorzwahlsystem gelten. «Dass die Erfolgswertgleichheit der Stimmen im Majorz systembedingt eingeschränkt ist, mag einleuchten», sagt der emeritierte Zürcher Staatsrechtsprofessor Andreas Auer, «doch das kann kein Freipass dafür sein, beim Majorz mit unterschiedlich grossen Wahlkreisen die Stimmkraft- beziehungsweise Repräsentationsgleichheit zu verletzen.»