Der seit 2014 pensionierte leitende Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich raucht noch immer. Aber wohl nicht aus Langeweile. Denn langweilig scheint es dem heute 72-Jährigen nicht zu werden. Seit 2018 ist er Präsident des Vereins «Gewaltfreie Erziehung» und fordert, dass für Kinder und Jugendliche im Zivilgesetzbuch ein Recht auf gewaltfreie Erziehung festgeschrieben wird. Einer aktuellen Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften konnte Brunner entnehmen, dass nur 38 Prozent der Eltern gewaltfrei erziehen. «20 Prozent wenden schwere ­Gewalt an. Sie verprügeln ihre Kinder, reissen sie an den Haaren und schlagen sie mit Gegenständen.» Neben dem Engagement für den Verein nimmt Brunner ­Beratungs- und Evaluationsaufträge der Kantone und des Bunds an. 

Andreas Brunner war 35 Jahre lang für die Zürcher Staatsanwaltschaft tätig, die letzten zehn Jahre als leitender Oberstaatsanwalt. Für ihn war das «der ­interessanteste Job des Kantons». Nachdem das Büro geräumt war, stieg er in ein Expeditionsschiff, das von Ushuaia (Argentinien) aus Kurs auf die ­Antarktis und abgelegene Inseln wie Tristan da Cunha und St. Helena nahm. «Ich wollte eine mehrmonatige Zäsur, um für Neues bereit sein», so Brunner. Zur Entwicklung des schweizerischen Strafrechts ­äussert er sich besorgt: «Das Strafrecht ist zu einem Präventions- und Sicherheitsrecht mutiert.» Wegen dem Ziel einer Nullrisikogesellschaft würden heute viele Verurteilte nicht aus der Verwahrung entlassen. «In 50 Jahren werden wir darüber so reden wie heute über die Verdingkinder.» 

Auch das aktuelle Flüchtlingsproblem macht ihn nachdenklich. Europäische Staaten nehmen seiner Ansicht nach zu wenige besonders schutzwürdige Flüchtlinge auf – eine sehr restriktive Politik. «Die Quote sollte höher sein», sagt er, drückt seine Marlboro light aus und verschwindet in den Gassen der Zürcher Altstadt.