Weniger Kriminalität dank IBM
Inhalt
Plädoyer 5/10
05.10.2010
Letzte Aktualisierung:
07.10.2013
Thomas Müller
Eine Software für Kriminalitätsprognosen kann «schwere Straftaten um mehr als dreissig Prozent reduzieren». Das verspricht das IT-Unternehmen IBM. Es verweist dabei auf die Erfahrungen in der US-Stadt Memphis, Tennessee. Die Stadt, in der Martin Luther King und Elvis Presley den Tod fanden, arbeitet seit Ende 2005 mit dem System «Blue Crush». Crush steht für Criminal Reduction Utilizing Statistical History. Der Name verdeutlicht das Prinzip: Mit der...
Eine Software für Kriminalitätsprognosen kann «schwere Straftaten um mehr als dreissig Prozent reduzieren». Das verspricht das IT-Unternehmen IBM. Es verweist dabei auf die Erfahrungen in der US-Stadt Memphis, Tennessee. Die Stadt, in der Martin Luther King und Elvis Presley den Tod fanden, arbeitet seit Ende 2005 mit dem System «Blue Crush». Crush steht für Criminal Reduction Utilizing Statistical History. Der Name verdeutlicht das Prinzip: Mit der Auswertung von Daten über vergangene Straftaten soll die Zahl der künftigen gesenkt werden.
Das Programm sucht nach Mustern: Wann und wo kam es zu einer Häufung bestimmter Delikte? Die Daten verknüpft es mit aktuellen Informationen - etwa dem Wetterbericht, dem Veranstaltungskalender oder mit Erkenntnissen aus Polizeirapporten und Meldungen aus Streifenwagen. Daraus entstehen Hotspots, die für den Zeitraum der beispielsweise nächsten vier Stunden abgebildet werden.
Ein solcher Ort mit einer voraussichtlichen Häufung von Delikten kann zum Beispiel «rund um den Veranstaltungsort eines Konzerts» entstehen. Die Software hat errechnet, dass auch regnerische Nächte spezielle Aufmerksamkeit erfordern, weil dann Autoknacker gerne auf Pirsch gehen. «Blue Crush» soll zudem die Reaktion bei sich anbahnenden Delikten beschleunigen, weil es die Einsatzkräfte besonders schnell mobilisiere. So hätten letzten Januar dank einer gezielten Polizeiaktion im Quartier Hollywood-Springdale über fünfzig Drogendealer verhaftet werden können.
Nicht auszudenken, was die Beamten ohne die Spezialsoftware getan hätten. Zum Nichtstun verdammt wären sie wohl ahnungslos in der falschen Ecke der 670 000-Einwohner-Stadt festgesessen, abhängig allein vom Polizeifunk, und hätten Parkbussen verteilt.
«Blue Crush» vollbringt laut IBM Erstaunliches. Im genannten Quartier sei die Zahl der Delikte um 36,8 Prozent zurückgegangen, die Zahl der Gewaltverbrechen in ganz Memphis seit 2006 um 15 Prozent gesunken. Und weil IBM die Software gerne auch anderswo verkaufen würde, listet sie gleich auch die entsprechenden Werte auf: Die Investition habe sich für die Stadt nach 2,76 Monaten ausbezahlt, der jährliche Return on Investment betrage 863 Prozent.
Dabei bleiben zwei Fragen unbeantwortet: Sind Ursache (Software) und Wirkung (Rückgang der Delikte) belegt? Und: Wie steht es um die Kriminalität in Memphis im Vergleich mit anderen Städten? Ein Blick in die Statistiken des FBI zeigt: Nicht nur in Memphis, sondern im ganzen Land sind die Kriminalitätsraten zurückgegangen - obwohl die Polizei anderswo nicht mit «Blue Crush» arbeitet. Und auf der Liste der gefährlichsten US-Städte belegt Memphis trotz IBM den unrühmlichen zweiten Platz, knapp nach Detroit.