Als im Kanton Nidwalden vor einem Jahr die Präsidenten des Kantonsgerichts neu gewählt wurden, setzte sich im Landrat eine langjährige Gerichtsschreiberin gegen einen seit acht Jahren im Teilzeitpensum tätigen Richter durch. Im Vorfeld war die Zusatzausbildung für Richter, die die Schreiberin absolviert hatte, als Argument für ihre Wahl ins Feld geführt worden. Und als der Kanton Bern vergangenes Jahr im Hinblick auf eine Justizreform 56 Regionalrichterstellen besetzte, war im Anforderungsprofil der Stellenausschreibung zu lesen: «Lehrgang Judikative der Schweizerischen Richterakademie oder Ähnliches.» Laut Grossrat Samuel Leuenberger, der als Präsident des Ausschusses der Justizkommission für die Prüfung der Bewerbungsdossiers und die Hearings zuständig war, wollte man mit dieser Ausschreibung den Kreis der Adressaten einschränken. «Im Kanton Bern wollen wir nach Möglichkeit keine Richter, die direkt vom Studium kommen», sagt er. Die Formulierung im Inserat sei aber auch als sanfter Druck zu verstehen, damit Richter sich permanent weiterbilden.
Abschlussarbeit als Herausforderung
Der Weiterbildungsdruck war sehr sanft - denn der Grosse Rat hat schliesslich bei der Wahl 44 bisherige Richter durchgewinkt. Laut Auskunft des Sekretariats der Justizkommission wird in Zukunft der Richterlehrgang aber Voraussetzung bei der Wahl zum erstinstanzlichen Richter im Kanton Bern sein. «Die justizinterne Weiterbildung ist schön und gut, aber ich persönlich begrüsse die externen Impulse, die der Lehrgang vermittelt», sagt Leuenberger, mittlerweile nicht mehr Mitglied der Justizkommission.
Nach der Universität kennen Absolventen den Putativnotwehrexzess oder den Grundsatz «Iura novit curia». Wie aber ein Vergleich mit einem befriedigenden Ergebnis für alle Beteiligten geschlossen wird, welche Einvernahmetechnik wann angewendet wird, wie ein Budget erstellt, wie Personal geführt, wie mit Parteien und Mitarbeitenden kommuniziert wird - all das wird an den Hochschulen nicht gelehrt. «Mit dem Lehrgang wollen wir zu einer besser ausgebildeten Richterschaft beitragen», sagt Daniel Girsberger, Ordinarius an der Universität Luzern und Geschäftsleiter der Schweizerischen Richterakademie.
Der Bologna-Lehrgang wird von der Schweizerischen Richtervereinigung, der Stiftung für Weiterbildung schweizerischer Richterinnen und Richter und den Rechtsfakultäten der Schweizer Universitäten getragen. «Der Richterakademie liegt daran, den Zertifikatslehrgang ‹Judikative› einerseits wissenschaftlich solid zu fundieren, ihn anderseits aber auf die praktischen Bedürfnisse auszurichten», so die Ausschreibung.
In sechs Modulen zu je zweieinhalb Tagen, verteilt über zwei Jahre, werden Organisation, Kommunikation, Gericht und Öffentlichkeit, Beweis, Streitbehandlung und Finanzfragen gelehrt. Teile des Stoffs werden jeweils in Gruppen erarbeitet.
Andreas Bruggisser ist seit acht Jahren Richter am Regionalgericht Bern-Mittelland. Er hat den ersten Lehrgang im Januar 2011 mit dem Zertifikat abgeschlossen. «Das Learning by Doing ist im Beruf als Richter immer noch das Wichtigste. Aber der Richterjob ist auch ein einsamer Beruf, deshalb habe ich diese Ausbildung besonders geschätzt», sagt Bruggisser. Für ihn als Zivilrichter waren nicht alle Module gleich praxisrelevant.
Jedes Modul verlangt Präsenz und gleich viele Stunden Vorbereitung. Drei Module werden zusammen in einer Prüfung abgeschlossen. Dieses Open-Book-Examen soll laut Daniel Girsberger eher eine Lernzielkontrolle sein. Bruggisser erinnert sich: «Die Prüfungen waren machbar. Schwieriger war die Abschlussarbeit. Da tat ich mich schwer mit der Themenwahl, zumal ich vorher noch nie eine Lizentiats- oder Masterarbeit geschrieben habe, weil ich als Berner direkt das Fürsprecherexamen machte.»
Das Wehklagen über die Abschlussarbeit kennt Geschäftsleiter Girsberger: «Das Verfassen einer Arbeit ist wichtig. Nicht zuletzt, weil verschiedene - vor allem ältere - Teilnehmer schon lange kein Urteil mehr selbst begründet haben.» Alle 31 Deutschschweizer und alle 24 Romands haben den ersten Lehrgang bestanden.
Vier Module werden an der Uni Luzern in deutscher Sprache durchgeführt, vier in französischer Sprache an der Uni Neuenburg. Zwei Module finden gleichzeitig, aber sprachlich getrennt in Biel statt, damit auch der Austausch mit der anderen Sprachregion gefördert wird.
Auch erfahrene Richter könnten profitieren
Stephan Stucki, Berner Oberrichter und Präsident der Weiterbildungskommission der Justiz des Kantons Bern, unterrichtet «Sprache des Gerichts» im Modul Kommunikation. «Diese Ausbildung ist ein Riesenfortschritt. Vorher herrschte in Sachen Ausbildung für Richter Ödland», sagt er. «Jeder Richter hat eigentlich eine solche Ausbildung nötig, auch die mit Erfahrung können davon sehr profitieren.» Das Konzept des Lehrgangs überzeugt ihn: «Es wird auch ständig daran weitergearbeitet. Nicht zuletzt dank der strengen Bewertungen der Dozenten durch die Absolventen.»
Die Idee eines Zertifikatslehrganges sei von Anfang an von der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter unterstützt worden, sagt deren Präsident, der Zürcher Oberrichter Peter Hodel. «Im Gegensatz zum Ausland haben wir in der Schweiz keine spezifische Richterausbildung. Einzelne Kantone bieten Weiterbildungen an, aber nicht eine Zusatzausbildung. Das war eine Lücke.»
Werden wir jetzt bessere Richter haben? «Leider ist für die Wahl zum Richter oder zur Richterin immer noch die Partei ausschlaggebend», bedauert Hodel. Den Lehrgang erachtet er aber auch für erfahrene Richter als sinnvoll. Die Teilnehmerzahlen zeigen allerdings, dass von 32 Teilnehmenden pro Jahrgang nur gerade mal rund ein Drittel bereits das Richteramt ausübt. Mit 61 Jahren nimmt Hodel die Ausbildung nicht mehr in Angriff. «Ich wäre aber während meiner Justizkarriere oft froh um diese Ausbildung gewesen.»
Auch Marlis Koller-Tumler, seit Anfang Jahr Vorsitzende der Schlichtungsbehörde Bern-Mittelland, will die Zusatzausbildung nicht mehr machen: «Ich bin mit 55 Jahren zu alt dazu. Das würde den Kanton Bern zu viel kosten.» Stattdessen ist sie bei der Weiterbildungskommission der Justiz des Kantons Bern aktiv.
Judith Hofstetter war zehn Jahre Gerichtsschreiberin, seit Anfang Jahr ist sie Zivilrichterin am Regionalgericht Bern-Mittelland. Sie hat bis jetzt zwei Module an der Richterakademie abgelegt. «Für mich ist es ein Privileg, während zweieinhalb Tagen durch Koryphäen unterrichtet zu werden», sagt sie. «Es kann nicht sein, dass es eine Funktion ohne Qualitätslabel und ohne Ausbildung gibt.»
Weiterbildung als «Auszeit vom Job»
Hofstetter schätzt es, dass alle Teilnehmenden einen unterschiedlichen Background haben. Einige arbeiten in der zweiten Instanz, andere sind Gerichtsschreiber. «Die Schwierigkeit ist hier sicher die Ausarbeitung eines gemeinsamen Lehrplans. Aber da ist es jedem selber überlassen, das für ihn Passende herauszupicken.»
Marcel Winkler ist Oberrichter am Verwaltungsgericht des Kantons Aargau. Er ist seit zwölf Jahren im Amt. «Mich stört es gar nicht, mit Gerichtsschreibern zusammen im Kurs zu sitzen», sagt er. «Wer selbst nach vielen Jahren im Amt überzeugt ist, er habe keine Weiterbildung nötig, ist überheblich. Ich habe aus jeder Weiterbildung etwas mitgenommen, obwohl ich schon lange Richter bin», sagt er. Winkler bemängelt, dass für ihn als Verwaltungsrichter der Lehrgang im Moment zu sehr auf Mitarbeitende von Zivil- und Strafgerichten ausgerichtet sei.
Alle Befragten loben die gute Organisation der Module. Und sie sind sich einig, dass die Kurse eine willkommene «Auszeit vom Job» seien. Und das Wichtigste: Sie wenden das Gelernte im Alltag an.
Inhalte des Lehrgangs
Organisation: Stellung der Justiz, Gerichtsorganisation, Justizverwaltung, Personalführung
Kommunikation: Kommunikationstheoretische Grundlagen, psychologische Aspekte richterlicher Tätigkeit, Sprache vor Gericht, Urteilsredaktion
Beweis: Aussagewürdigung, Einvernahmetechniken, Fragen der Begutachtung
Streitbehandlung: Verfahrensführung, Gerichts- und Vergleichsverhandlung
Gericht und Öffentlichkeit: Medien- und Öffentlichkeitsarbeit
Finanzfragen: Rechnungslegung, Buchhalterische Fragen, Finanzwesen
Je nach Kanton übernimmt der Arbeitgeber die ganzen oder einen Teil der Kosten von insgesamt 12 500 Franken.