plädoyer: Seit die neue Zivilprozessordnung (ZPO) in Kraft ist, sinkt die Anzahl der Verfahren deutlich. Hat sie eine abschreckende Wirkung auf die Parteien?
Alexander Brunner: Es stimmt, die Anzahl Prozesse geht zurück. Die neue Zivilprozessordnung hat verschiedene Hürden aufgebaut, welche die Bürger abschrecken, eine Klage einzureichen. Ich denke da daran, dass neu flächendeckend Kostenvorschüsse verlangt werden. Das Handelsgericht Zürich hat auf Anraten der Anwaltschaft die Kautionspflicht überdacht. Wir haben früher ungefähr vier Drittel der Prozesskosten und Entschädigungen als Kaution verlangt. Nun haben wir die Vorschüsse auf 100 Prozent reduziert.
plädoyer: Kostenvorschüsse sind nach ZPO fakultativ. Hat man am Zürcher Obergericht darüber diskutiert, ob man sie ganz weglassen will – wie früher?
Brunner: Bei gewissen Zivilverfahren wäre dies sinnvoll. Vielleicht nicht gerade bei erbrechtlichen oder handelsgerichtlichen Streitigkeiten, weil da die Parteien in der Regel genug Geld haben.
Marc Russenberger: Meiner Erfahrung nach verlangen die Gerichte flächendeckend Vorschüsse. Und die Tarife sind sehr unterschiedlich. Im kantonalen Quervergleich ist Zürich moderat. Im Kanton Basel-Stadt zum Beispiel kostet bei einem Streitwert von 3 Millionen Franken bereits das Verfahren vor Friedensrichter über 10 000 Franken – obwohl er keine Erledigungskompetenz hat. Das verletzt das Äquivalenzprinzip. Die Gebühr muss sich an den Kosten, die der Staat für das Verfahren hat, orientieren. Klar ist, dass der Staat eine Quersubventionierung machen darf, indem er die teureren Verfahren mit den günstigeren kompensiert. Aber das hat eine Obergrenze, die hier meines Erachtens deutlich überschritten ist.
Brunner: Ja, das Äquivalenzprinzip muss beachtet werden. Das Verfahren, das der Staat für die Friedensordnung zur Verfügung stellt, darf nicht versteckte Steuern enthalten. Es muss ein Verhältnis geben zwischen Leistung und Gegenleistung, die der Bürger für ein solches Verfahren bekommt.
plädoyer: Ein neues, abschreckendes Mittel in der ZPO ist auch die Kostengarantie, die der Kläger leisten muss. Im schlimmsten Fall muss der Kläger für das Verfahren aufkommen, obwohl er den Prozess gewonnen hat. Wird auch deswegen weniger geklagt?
Brunner: Richtig, das Bonitätsrisiko trägt nicht mehr der Staat, sondern die klagende Partei. Man muss aber eines sehen: Wir haben in der Schweiz sehr viele internationale Verfahren, und Gerichtsgebühren sind im Ausland nicht vollstreckbar. Das bedeutet, dass der Staat auf den Kosten sitzen bleiben würde. Daher finde ich den Kostenvorschuss im internationalen Verhältnis angebracht. Im nationalen Verhältnis kann man ihn als Hürde ansehen, ja.
plädoyer: Der Zürcher Anwalt Ueli Vogel-Etienne kritisierte die Justiz in einem NZZ-Artikel fundamental: Die Parteien würden heute zur Selbsthilfe greifen und aussergerichtliche private Konfliktlösungsmethoden vorziehen – etwa Schiedsgerichte oder Mediationen. Diese seien kostengünstiger und effizienter. Teilen Sie diese Auffassung?
Russenberger: Die Schiedsgerichtsbarkeit ist nicht unbedingt schneller und je nach gewählter Schiedsordnung auch nicht günstiger, aber die Urteile sind in zeitlicher Hinsicht vorhersehbarer. Die Parteien vereinbaren mit dem Gericht jeden Schritt im Voraus – wann die Replik oder Duplik eingereicht wird, wann die Zeugen einvernommen werden usw.
plädoyer: Die Verfahren an den oberen Instanzen sind im Schnitt kürzer als bei der ersten Instanz. Sind vor allem die unteren kantonalen Gerichte ineffizient?
Brunner: Die erste Instanz muss den Sachverhalt feststellen. Das bedeutet, dass man alle Behauptungen und Bestreitungen auf dem Tisch haben muss. Das ist eine intensive Arbeit. Wenn der Prozess nicht gütlich erledigt werden kann, muss das Gericht ein Beweisverfahren durchführen. Dieses ist mit der neuen ZPO ohne Zweifel beschleunigt worden – aus Zürcher Sicht mit dem direkten Beweisabnahmebeschluss. Das ergibt einen Zeitgewinn von ein bis zwei Monaten. Anschliessend geht es ins Beweisverfahren mit Zeugeneinvernahmen, Augenscheinen und der Einholung von Expertisen. Das sind einige Gründe für das lange Verfahren in der ersten Instanz.
plädoyer: Es wird behauptet, am Handelsgericht Zürich sei seit Einführung der neuen ZPO noch kein einziges Beweisverfahren durchgeführt worden.
Brunner: Diese Behauptung stimmt so nicht. Das ist eine Aussage des Handelsgerichtspräsidenten, die aus dem Kontext gerissen wurde, als die neue ZPO gerade erst in Kraft getreten war. Im Rahmen der Behauptungsverfahren sind diese Prozesse noch gar nicht so weit gewesen, um ein Beweisverfahren zu machen.
Russenberger: Das stimmt nicht. Diese Aussage machte der Handelsgerichtspräsident im Mai 2013 im Rahmen eines Vortrags. Ich war dort anwesend! Auch wenn dies nur für die neuen Klagen gilt, die seit 1. Januar 2011 eingereicht wurden, die Grundaussage bleibt: Das Handelsgericht scheut das Beweisverfahren.
Brunner: Falsch! Damals wurde noch kein Beweisverfahren geführt, weil viele Verfahren im Rahmen der Wirtschaftsmediation verglichen worden sind.
Russenberger: Damit wären wir beim Thema Vergleichsdruck. Zuerst aber noch etwas zur Verfahrensdauer: Die Qualität der Zürcher Gerichte ist überdurchschnittlich, aber die Richter wollen es fast zu gut machen, was sehr viel Aufwand generiert. Die Flexibilität für das Gericht ist mit der neuen ZPO deutlich grösser geworden. Ein Nachteil für uns Anwälte: Ich kann dem Klienten nicht mehr genau sagen, wie der Prozess ablaufen wird. Die Richter haben viel mehr Möglichkeiten in der Prozessführung. Das finde ich grundsätzlich nicht schlecht. Aber ich plädiere an die Richter: Nutzt diese Flexibilität – im Sinn der Effizienz und Geschwindigkeit und orientiert die Anwälte über die nächsten Schritte! So kommt ihr schneller zu einem besseren Resultat.
Brunner: So machen wir das ja in der Praxis. Das Erfolgsrezept des Zürcher Modells liegt darin, dass die Parteien nach den ersten beiden Rechtsschriften zu einem informellen Gespräch eingeladen werden, an dem sie autonom nochmals die Probleme verhandeln können, gestützt auf Ideen der Gerichtsdelegation und unterstützt von ihren Anwälten. Das ist das, was das Ganze abkürzt.
Russenberger: Einverstanden. Deshalb empfehle ich meinen Klienten das Handelsgericht. Da hat man mit dem Richter eine Person, die eine echte Stimme hat und sagt: Schaut, ich sehe es so und so. Das hat Gewicht, weil der Richter Kompetenz hat.
plädoyer: Wären solche informellen Gespräche auch eine Idee für die Prozessführung an Bezirskgerichten?
Russenberger: Unbedingt! Einige Bezirksrichter tun das ja bereits. Ich halte diesbezüglich das Zuger Modell für erwähnenswert. Die Urteile sind von sehr guter Qualität. Erstaunlich ist aber für uns Zürcher Folgendes: In Zug sitze ich in einer Hauptverhandlung, der Streitgegenstand würde sich hervorragend zu einem Vergleich eignen. Dann wird plädiert, es werden noch Fragen gestellt – alles wunderbar. Die Zürcher Anwälte sitzen dort und denken, jetzt kommt dann gleich der Richter und sagt, er sehe die Sache so und so und schlage einen Vergleich vor. Aber in Zug kommt der Richter und sagt: «Die Verhandlung ist geschlossen, das Urteil folgt schriftlich.»
Brunner: Das ist schade.
Russenberger: Ja, der Richter verpasst so eine gute Chance. Aber dort, wo die Zuger zu weit auf der Urteilsseite sind, arbeitet ihr Zürcher zu sehr mit dem Vergleichsdruck.
Brunner: Das sind alte Geschichten. Man müsste mir mal klarmachen, wo da eigentlich ein Druck ist. Wie soll es möglich sein, dass eine Partei, die sonst in der freien Wildbahn des Markts ununterbrochen Verträge abschliesst, auf irgendeinen Druckversuch reagieren soll? Bitte, sagen Sie mir, wo der Druck ist!
Russenberger: Da sind der Kosten- und der Zeitdruck.
Brunner: Moment – das ist doch nicht ein Problem des Gerichts.
Russenberger: Aber sicher! Ich musste mir schon anhören: «Hören Sie, Herr Kollege, für diesen Streitwert schreiben wir an diesem Gericht keine Urteile», oder: «Wenn Sie keinen Vergleich schliessen, muss Ihre Partei mit diesen und jenen zusätzlichen Kosten rechnen.» Ersteres habe ich zwar schon länger nicht mehr gehört, Letzteres aber fast jedes Mal. Der grösste Hund liegt jedoch an einem anderen Ort begraben: Ich mache einen weiten Bogen um das Handelsgericht, wenn es um eine Versicherung oder eine Bank geht. Aber das ist ein anderes, eher politisches Thema wegen der gesetzlichen Zusammensetzung des Spruchkörpers mit drei Fachrichtern aus der betreffenden Branche. In Nicht-Finanzbranche-Fällen ist das Handelsgericht hervorragend. Denn ich weiss: Wegen des Vergleichsdrucks bin ich schnell bei einer fundierten Einschätzung. In anderen Kantonen sind Richter manchmal recht unvorbereitet und schlagen einfach als Vergleich 50/50 vor. So geht das nicht. Das überzeugt den Klienten nicht und schon gar nicht den gut vorbereiteten Anwalt.
Brunner: Verhandlungen kennen drei Stufen. Die erste Stufe ist die rechtliche. Auf dieser muss eine saubere Sachverhalts- und Rechtsanalyse gemacht werden, sonst hat die Verhandlung keinen Sinn. Zweitens gibt es die ökonomische Stufe. Man muss darauf achten, was es für die Parteien wirtschaftlich bedeutet, lange zu prozessieren und danach vielleicht nicht zu gewinnen. Der dritte Punkt ist die Psychologie. Man muss im Rahmen der Vergleichsverhandlungen die Verwerfungen zwischen den Parteien lösen und schauen, dass die Leute wieder zu einer vernünftigen Denkart kommen.
plädoyer: Ist es die Funktion der Gerichte, Mediationen anzubieten? Die Parteien, die schon viel Geld ausgegeben haben, erwarten doch ein Urteil zu einer materiellen Rechtsfrage und nicht eine Diskussion über Verwerfungen.
Brunner: Ich finde Vergleichsverhandlungen sehr sinnvoll, denn das oberste Prinzip des Rechts ist der Rechtsfrieden. Wenn der Rechtsfrieden schneller, kostengünstiger und sachgerechter mit einer Vergleichslösung wiederhergestellt werden kann, ist das besser. Man weiss auch, dass die Akzeptanz von Vergleichslösungen viel grösser ist als die von Urteilen. Ob der Bürger einen Entscheid über eine Rechtsfrage will, ist von den Parteien im Einzelfall zu entscheiden. Ich hatte aber schon Fälle, bei denen ich den Parteien gesagt habe: Bitte macht keinen Vergleich, es ist eine offene Rechtsfrage, die ich jetzt entscheiden können möchte im Sinne der Rechtsentwicklung. Demgegenüber stellt sich die Frage: Warum soll ein Bürger für eine Sache, bei der die Gerichtspraxis feststeht, noch weiter Geld ausgeben, wenn er im Rahmen der Friedensordnung einen Vergleich abschliessen kann?
Russenberger: Natürlich. Aber die ZPO ist ein Streiterledigungsmechanismus und keine Friedensordnung. Die Aufgabe des Gerichts ist es, ein Urteil zu sprechen.
plädoyer: Die neue ZPO sieht bei fast allen Zivilverfahren zu Beginn ein Schlichtungsverfahren vor. Aber in vielen Kantonen sind die Friedensrichter und Vermittler keine Juristen. Das verlängert die Prozessdauer. Wäre es nicht sinnvoller, wenn man am Anfang des Verfahrens einen erfahrenen Richter hinstellen würde, der den Parteien einen begründeten Kompromiss darlegen würde?
Russenberger: Ich teile diese Einschätzung nicht. Auch die Laienfriedensrichter – die zwar einen ganz anderen Ansatz haben – sind gut. Die haben im Übrigen auch eine sehr gute Erledigungsquote. Die machen den Job schon lange, sie wissen, wie die Parteien ticken. Stichwort Psychologie.
plädoyer: Hat eine Partei nicht ein Anrecht darauf, dass ihr Anliegen nicht nach psychologischen, sondern nach rechtlichen Kriterien entschieden wird?
Russenberger: Richtig. Aber der Friedensrichter hat die Aufgabe zu schlichten, im Unterschied zum Richter. Beim Friedensrichter ist der Vergleich das Hauptziel, beim Richter das Urteil.
plädoyer: Die neue ZPO ist formalistischer. Eine rechtsunkundige Partei kann ohne Anwalt kaum mehr prozessieren. Sie scheitert schon an der Substantiierungspflicht.
Brunner: Die Substantiierungsanforderungen, die im Kanton Zürich so übersteigert worden sind, haben historische Gründe: Es gab viele Rückweisungen der nächsten Rechtsmittelinstanz, obwohl die Parteien perfekt anwaltlich vertreten worden waren. Das hat dazu geführt, dass wir oft gefragt haben, damit man einen kassationssicheren Entscheid fällen konnte. Heute sind die Substantiierungsanforderungen moderater.
plädoyer: Die Anzahl der Rechtsschriften nimmt zu, auch nach abgeschlossenem Schriftenwechsel. Auch das zieht die Verfahren in die Länge. Zeigen die Gerichte nicht zu viel Nachsicht mit solchen Eingaben?
Brunner: Der EGMR hat im Fall Joos gegen die Schweiz entschieden, dass jede Eingabe, die ein Bürger in einem Verfahren macht, der Gegenpartei zugestellt werden muss. Diese Praxis wird nun flächendeckend berücksichtigt. Ich bin der Meinung, dass man das ganze Replikrecht anbinden müsste an ein vernünftiges Novenrecht. Denn dort ist das rechtliche Gehör entscheidend. Wenn wir aber mit dem EMRK-Replikrecht die unendlichen Prozesse einführen, dann haben wir ein ausschweifendes Verfahren, das im Endeffekt die Parteien zahlen müssen.
Russenberger: Mein Vorwurf an die Gerichte: Man sucht einen formellen Grund, um den Fall loszuwerden. Die Richter sagen sich bewusst: Wir lassen die Parteien «verhungern», die merken dann selbst, dass sie sich mit dem endlosen Pingpong ins eigene Fleisch schneiden. Denn das gibt dann eine Triplik und eine Quadruplik und so geht es immer weiter. Das Gericht schaut zu und stellt jedes Mal die Eingabe zur Kenntnisnahme der Gegenseite zu. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob ich eine Duplik zur Kenntnisnahme erhalte oder ob ich sie mit dem Hinweis bekomme, ich solle nur noch zu den Noven in Randziffer XY Stellung nehmen. Kaum ein Anwalt reicht eine zusätzliche Rechtsschrift gegen den ausdrücklichen Wunsch des Richters ein. Der Richter hat die Verfahrenshoheit. Mein Wunsch an die Richter: Bitte nutzt sie und setzt dem Schriftenwechsel ein Ende! Seid starke Richter!
plädoyer: Und was sind die Wünsche der Richter an die Anwälte?
Brunner: Dass man sich an die Grundsätze hält. Es läuft immer darauf hinaus, dass in der Duplik neue Sachen kommen. Es wäre fair von einem Anwalt, dass er sagt: Das und das ist ein Novum und dazu nehme ich jetzt Stellung. Dauernd alles zu wiederholen, redundant und nochmals und nochmals und immer das letzte Wort haben müssen, das ist nicht sehr zielführend.
Marc Russenberger, 56, Rechtsanwalt, Partner der Zürcher Kanzlei RKR Rechtsanwälte, seit dem Jahr 1988 in mehreren Kantonen forensisch tätig.
Alexander Brunner, 64, Oberrichter am Handelsgericht Zürich, Titularprofessor für Handels- und Konsumrecht sowie Verfahrensrecht an der Uni St. Gallen.