1. Einleitung
An der Substanzierung scheiden sich die Geister von Gerichten und Anwaltschaft. Es ist offensichtlich, dass sich die Gerichte mit einer Klageabweisung wegen mangelhafter Substanzierung einen Haufen Arbeit ersparen können, indem sie den Sachverhalt nicht materiell prüfen und auch kein Beweisverfahren durchführen müssen. Sie werden deshalb geneigt sein, die Anforderungen an die Substanzierung eher hoch anzusetzen.
Der Vorwurf der mangelnden Substanzierung im erstinstanzlichen Verfahren wird den Anwalt zudem oft zögern lassen, seinem Klienten ein Rechtsmittel zu empfehlen. Denn Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens bildet dann die Qualität seiner Arbeit, und das Vertrauen des Klienten in ihn ist aufgrund des gerichtlichen Vorwurfs der mangelnden Substanzierung ohnehin oft bereits erschüttert.(2)
Umgekehrt kommt es aber doch erstaunlich häufig vor, dass Anwälte in ihren Rechtsschriften nur generelle Behauptungen aufstellen, ohne diese mit konkreten Tatsachen und Beispielen zu unterlegen, obwohl das möglich wäre.
Dazu drei Beispiele:
- «Im Übrigen ist mein Klient von der Gegenseite getäuscht worden.» (betreffend Willensmängel)
- «Die Gegenseite hat mit allen erdenklichen Mitteln versucht, die Übergabe des Werkes zu verhindern.»(3)
- «Das Werk ist mangelhaft und völlig unbrauchbar.»
Es ist unbestritten, dass über solch pauschale Tatsachenbehauptungen, wenn sie bestritten werden, kein Beweis abgenommen werden kann, da sie zu unbestimmt sind. Auch die Gegenpartei könnte dazu – ausser schlichtem Bestreiten – wohl nicht allzu viel sagen. Erst das Beweisverfahren würde den Sachverhalt erstellen.
Doch wo liegt das richtige Mass der Substanzierung? Was ist der Zweck der Substanzierung? Gilt die Substanzierung nur für Behauptungen oder auch für Bestreitungen? Wie steht es mit der richterlichen Fragepflicht? Muss das Gericht nachfragen oder darauf hinweisen, wenn ein Sachverhalt nicht genügend substanziert ist? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.
Eine Einschränkung muss allerdings bereits hier angebracht werden: Trotz aller Theorie und Erfahrung ist es im Einzelfall sowohl für den Anwalt als auch für die Richterin nicht immer einfach zu entscheiden, ob etwas nun ausreichend substanziert ist oder eben nicht. Bezeichnend ist dabei der Umstand, dass gar niemand so genau weiss, wie das Wort überhaupt geschrieben wird: Substantiierung, Substanziierung oder Substanzierung?
Das Bundesgericht hat schon verschiedene Varianten ausprobiert, wobei es früher die (lateinische) Schreibweise «Substantiierung» und neuerdings vorwiegend die Variante «Substanziierung» verwendet.(4) Die Autorin entscheidet sich – seit jeher – bewusst für «Substanzierung».(5) Denn letztlich geht es nicht um etwas Kompliziertes oder Unverständliches, sondern darum, den Rechtsschriften Substanz zu verleihen.
2. Behauptungs- Bestreitungs- und Substanzierungslast
Behauptungs-, Bestreitungs- und Substanzierungslast sind Obliegenheiten, das heisst prozessuale Lasten, deren Missachtung prozessuale Nachteile nach sich zieht.(6) Die fehlende Behauptung oder Bestreitung oder die ungenügende Substanzierung wesentlicher Tatsachen kann je nach Tatsache ohne Weiteres zur Abweisung beziehungsweise zur Gutheissung der Klage führen.
Die folgenden Ausführungen beschränken sich zunächst auf die Darstellung dieser Obliegenheiten im ordentlichen Verfahren mit Verhandlungsmaxime. Auf die Besonderheiten im vereinfachten Verfahren wird anschliessend eingegangen.
2.1 Behauptungslast
Die Behauptungslast regelt, welche Partei die rechtserheblichen Tatsachen im Prozess zu behaupten hat (sogenannte subjektive Behauptungslast) und welche Partei die nachteiligen Folgen zu tragen hat, wenn entscheidungsrelevante Tatsachen nicht Prozessinhalt geworden sind (objektive Behauptungslast).(7)
Die Behauptungslast ist in Prozessen mit Verhandlungsmaxime den Parteien überbunden. Sie folgt der (materiellrechtlichen) Beweislast. Welche Partei welche Tatsachen behaupten muss, richtet sich daher nach dem den Anspruch begründenden materiellen Recht, das heisst insbesondere nach der Beweislastregel von Art. 8 ZGB.(8)
Jede Partei trifft die Behauptungslast für diejenigen Tatsachen, von denen sie die Entstehung ihrer Rechte oder den Untergang ihrer Verpflichtungen ableitet. Die klagende Partei hat in der Regel die rechtsbegründenden Tatsachen, die beklagte Partei die rechtshindernden und rechtsvernichtenden Tatsachen darzulegen.(9) Vorbehalten bleiben Klagen mit vertauschten Parteirollen, beispielsweise Aberkennungsklagen.
2.2 Bestreitungslast
Die Gegenpartei, in der Regel die beklagte Partei, trifft eine Bestreitungslast. Da das Gericht in Verfahren mit Verhandlungsmaxime zugestandene oder nicht bestrittene Tatsachen dem Urteil zugrunde zu legen hat, müssen entsprechende Behauptungen der Klägerin von der Beklagten bestritten werden, damit diese Folge nicht eintreten kann.
Bestritten werden können behauptete Tatsachen entweder ausdrücklich oder sinngemäss durch die Abgabe einer eigenen, der Behauptung widersprechenden Sachdarstellung. Ob eine nicht ausdrücklich bestrittene Tatsache als zugestanden zu betrachten ist, beurteilt sich nach dem gesamten Verhalten der Partei im Prozess. Im Zweifel hat das Gericht von seiner Fragepflicht Gebrauch zu machen (vgl. Art. 56 ZPO).(10)
2.3 Substanzierungslast
Die Substanzierungslast bestimmt nicht nur im Hinblick auf die anwendbaren Rechtsnormen, sondern auch im Hinblick auf die Bestreitungen der Gegenpartei, wie detailliert die rechtserheblichen Tatsachen vorzutragen sind. Der Sachverhalt ist so detailliert und präzise zu schildern, dass die Gegenpartei dazu «im Einzelnen» Stellung nehmen kann. Die rechtserheblichen Tatsachen sind nicht nur in den Grundzügen, sondern so umfassend und klar darzulegen, dass darüber Beweis abgenommen werden kann.(11) Denn das Beweisverfahren darf nicht dazu dienen, ungenügende Parteivorbringen zu vervollständigen.(12)
Auch wenn die Substanzierung vor allem für die Behauptungen von Bedeutung ist, kann sie auch bei den Bestreitungen eine wesentliche Rolle spielen.(13)
3. Substanziertes Behaupten
3.1 Gesetzliche Grundlage
Nach Art. 55 Abs. 1 ZPO haben die Parteien dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel anzugeben (Verhandlungsmaxime). Art. 221 Abs. 1 lit. d ZPO schreibt vor, dass die Klageschrift «die Tatsachenbehauptungen» zu enthalten hat. Zudem sind die einzelnen Beweismittel zu den behaupteten Tatsachen zu bezeichnen (Art. 221 Abs. 1 lit. e ZPO).
Nach Lehre und Rechtsprechung bedeutet das, dass die klagende Partei die rechtsbegründenden Tatsachen substanziert darzulegen hat. Aufgrund des Wortlauts dieser Bestimmung ist davon auszugehen, dass es – anders als nach einzelnen kantonalen Prozessrechten(14) – nicht mehr genügt, zunächst nur pauschale Behauptungen aufzustellen und diese erst zu substanzieren, wenn sie von der Gegenpartei bestritten werden.(15)
3.2. Inhalt und Zweck der Substanzierung
Substanzieren heisst, dass der Sachverhalt so präzise und detailliert vorzutragen ist, dass die Gegenpartei darauf antworten kann, eine rechtliche Subsumtion möglich ist und über die rechtserheblichen Tatsachen Beweis abgenommen werden kann. Eine Partei kann sich nicht mit allgemeinen Behauptungen begnügen. Wie weit ein Sachverhalt zu substanzieren ist, damit eine rechtliche Subsumtion möglich ist, bestimmt sich nach materiellem Recht.(16)
Eine Tatsachenbehauptung braucht nicht alle Einzelheiten zu enthalten; es genügt, wenn die Tatsache in einer den Gewohnheiten des Lebens entsprechenden Weise in ihren wesentlichen Zügen oder Umrissen behauptet worden ist. Immerhin muss die Tatsachenbehauptung so konkret formuliert sein, dass ein substanziertes Bestreiten möglich ist oder der Gegenbeweis angetreten werden kann.(17) So sind alle Elemente eines anspruchsbegründenden Tatbestands mit konkreten Tatsachenbehauptungen zu belegen. Zum Beispiel: Beim Haftungstatbestand nach Art. 41 OR sind konkrete und detaillierte Ausführungen zum Eintritt und Umfang des Schadens, zur widerrechtlichen Handlung, zum Kausalzusammenhang und zum Verschulden vorzubringen.
Aufgrund der Bestreitungen der beklagten Partei in der Klageantwort kann die Substanzierung in der Replik an der Instruktionsverhandlung, im zweiten Schriftenwechsel oder zu Beginn der Hauptverhandlung nötigenfalls noch ergänzt werden (Art. 225, 226 Abs. 2, 228 ZPO).(18) Das Bundesgericht hat sich immer wieder gegen übertriebene Substanzierungsanforderungen der kantonalen Gerichte gewendet und eine vernünftig detaillierte und schlüssige Sachverhaltsdarstellung als genügend erachtet.(19) Dies wird sich unter der Schweizerischen Zivilprozessordnung nicht ändern, sondern – im Hinblick auf die Fragepflicht – wohl eher noch akzentuieren.
Ist eine Partei jedoch nicht in der Lage, sich vollständig in Kenntnis über einen Sachverhalt zu setzen, so genügt es, wenn sie alle wesentlichen Umstände, soweit möglich und zumutbar, substanziert behauptet. Das gilt zum Beispiel für negative Tatsachen, etwa wenn der Kläger behauptet, er sei über die Risiken eines Bankgeschäfts anlässlich der verschiedenen Kundengespräche nie aufgeklärt worden.
Es obliegt dann der Bank zu behaupten und nachzuweisen, wann sie wie aufgeklärt hat beziehungsweise dass eine Aufklärung gar nicht nötig war, da der Kunde bestens Bescheid wusste. Dies gilt namentlich auch bei einem nicht ziffernmässig nachweisbaren Schaden, der nach Art. 42 Abs. 2 OR durch den Richter zu schätzen ist. Doch hat der Kläger alle Umstände substanziert zu behaupten, die Grundlage für die richterliche Schätzung bilden.(20)
Geringere Anforderungen bestehen auch für die Substanzierung eines hypothetischen Kausalverlaufs zwischen einer Unterlassung und dem Schaden.(21)
4. Substanziertes Bestreiten
Art. 222 Abs. 2 ZPO sieht vor, dass die beklagte Partei darzulegen hat, «welche Tatsachenbehauptungen der klagenden Partei im Einzelnen anerkannt oder bestritten werden». Damit ist grundsätzlich ein substanziertes Bestreiten verlangt. Die generelle Bestreitung detaillierter Behauptungen genügt der Substanzierungslast nicht.(22) Die in der Praxis zuweilen gebrauchte Wendung, wonach alles als bestritten gelte, was nicht ausdrücklich anerkannt sei, erweist sich unter dem Blickwinkel der Substanzierung als wirkungslos.(23) Bei Bauabrechnungen hat der beklagte Besteller detailliert zu erklären, welche Positionen er nicht anerkennt, um dem Unternehmer die Möglichkeit zu geben, diese nötigenfalls weiter zu substanzieren und darüber Beweis zu führen.(24)
An die Substanzierung der Bestreitung dürfen dennoch nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden wie an die Substanzierung der Behauptung. Es muss genügen, wenn die Bestreitung ihrem Zweck entsprechend konkretisiert wird, um die behauptende Partei zu der ihr obliegenden Substanzierung und Beweisführung zu veranlassen. Die Bestreitungslast darf nicht zu einer Umkehr der Behauptungs- und Beweislast führen.(25)
Massgebend für den Umfang der Substanzierung der Bestreitungen ist die Einlässlichkeit der Sachdarstellung der behauptungsbelasteten Partei sowie die Möglichkeit und Zumutbarkeit einer substanzierten Bestreitung. Schlichtes Bestreiten oder Bestreiten mit Nichtwissen genügt, wenn die bestreitende Partei den behaupteten Ereignissen so fern steht, dass ihr eine Substanzierung nicht zugemutet werden kann.(26)
Ist aber die behauptungsbelastete Partei ausserstande, den Sachverhalt aus eigener Kenntnis substanziert darzustellen, während die Gegenpartei die Verhältnisse genau kennt, so ist ihr die Substanzierung der Bestreitungen zuzumuten. Eine solche Mitwirkung der Gegenpartei bei der Sachverhaltsermittlung wird nach Treu und Glauben namentlich beim Vorliegen unbestimmter negativer Tatsachen verlangt.(27) Unbestimmte negative Tatsachen lassen sich auch durch mehrere positive Tatsachen nicht beweisen, zum Beispiel die Nichtvornahme einer Handlung während längerer Zeit oder die Leistung ohne Rechtsgrund im Sinne von Art. 62 ff. OR.(28)
Beispiel: Die vom klagenden Bankkunden behauptete Nichtaufklärung über die Risiken eines Bankgeschäfts anlässlich mehrerer aufgezählter Kundengespräche kann von der Bank widerlegt werden, indem sie substanziert behauptet, wann und wie der Vermögensverwalter den Bankkunden aufgeklärt habe beziehungsweise dass er selbst sachkundig gewesen sei und keiner weiteren Aufklärung bedurft habe. Schlichtes Bestreiten würde in dieser Situation nicht ausreichen.
Genügt die bestreitende Partei ihrer Substanzierungslast nicht, so gilt die fragliche Tatsache – unter Vorbehalt der richterlichen Fragepflicht – als nicht bestritten und wird ohne weitere Prüfung dem Urteil zugrunde gelegt.(29)
5. Fragepflicht und Substanzierungs-hinweise
Die Fragepflicht mildert die Folgen ungenügender Substanzierung. Der Umfang und die Ausgestaltung der Fragepflicht unterlag früher dem kantonalen Recht(30) und wird nun durch Art. 56 ZPO geregelt.
Diese Bestimmung sieht vor, dass das Gericht einer Partei, deren Vorbringen «offensichtlich unvollständig» sind, durch entsprechende Fragen Gelegenheit zur Ergänzung gibt. Diese gerichtliche Fragepflicht erfolgt in der Instruktions- oder Hauptverhandlung direkt durch geeignete Fragen an die betreffende Partei oder ihren (Rechts-)Vertreter. Bei anwaltlicher Vertretung genügen auch Hinweise, welche Tatbestandselemente noch zu substanzieren sind. Im schriftlichen Verfahren erfolgen in der Regel Substanzierungshinweise, die für juristische Laien so abzufassen sind, dass sie verstanden werden können.
Es genügt also nicht, wenn das Gericht der Partei schreibt: «Sie haben ihren Schaden zu substanzieren.» Vielmehr wäre die Aufforderung ungefähr wie folgt zu formulieren: «Sie haben darzulegen, inwiefern und in welchem Umfang Ihnen ein Schaden entstanden ist. Allfällige Beweismittel sind beizulegen oder genau zu bezeichnen.» Gerichtliche Substanzierungshinweise sind bei anwaltlich vertretenen Parteien jedoch dann nicht erforderlich, wenn die Gegenpartei in ihrer Klageantwort bereits konkret auf eine mangelnde Substanzierung hingewiesen hatte.
Mehrmalige Substanzierungshinweise sind nicht erforderlich. Hat eine Partei ihre Ausführungen trotz entsprechender Fragen oder Substanzierungshinweise nicht in genügender Weise vervollständigt, muss sie vom Gericht nicht erneut darauf hingewiesen und zu weiterer Ergänzung angehalten werden.(31) Es darf dann auf die unvollständigen Vorbringen abgestellt werden.
Offen ist, ob eine Klageabweisung wegen ungenügender Substanzierung voraussetzt, dass die Partei zunächst auf diesen Mangel hingewiesen wurde, wie dies in einzelnen Kantonen (zum Beispiel Zürich) üblich war. Diese Frage entschied sich früher nach kantonalem Recht.(32) Meines Erachtens ist dies nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung nicht in jedem Fall erforderlich.(33) Nur offensichtliche Mangelhaftigkeit der Parteivorbringen bedarf der Ausübung der Fragepflicht. Nicht jede Tatsache, die sich im Rahmen einer Urteilsbegründung als unsubstanziert erweist, braucht deshalb einen vorgängigen Hinweis. Dies gilt insbesondere auch für teilweise nicht sehr einlässlich begründete Eventualstandpunkte.
Erweist sich aber der Sachvortrag in der Klageschrift als derart unsubstanziert, dass die Klage offensichtlich abgewiesen werden müsste, ist ein gerichtlicher Substanzierungshinweis beziehungsweise die Ausübung der Fragepflicht geboten, wenn nicht bereits die Gegenpartei explizit darauf hingewiesen hatte. Die hohen Anforderungen an die Konkretisierung der Substanzierungshinweise, die einst das Zürcher Kassationsgericht verlangte,(34) erscheinen unter der ZPO jedenfalls nicht mehr gerechtfertigt.
6. Vereinfachtes Verfahren
Im vereinfachten Verfahren besteht für alle Rechtsbereiche (nicht nur für Verfahren mit sozialer Untersuchungsmaxime, sondern auch für rein vermögensrechtliche Klagen mit Verhandlungsmaxime) eine erweiterte Fragepflicht. Nach Art. 247 Abs. 1 ZPO wirkt das Gericht durch entsprechende Fragen darauf hin, dass die Parteien ungenügende Angaben zum Sachverhalt ergänzen und die Beweismittel bezeichnen.
Dem vereinfachten Verfahren unterliegen sämtliche vermögensrechtlichen Streitigkeiten mit einem Streitwert bis zu Fr. 30 000 (Art. 243 Abs. 1 ZPO), beispielsweise sachen- und erbrechtliche Streitigkeiten, Forderungsstreitigkeiten, inklusive arbeitsrechtliche Streitigkeiten, miet- und pachtrechtliche Streitigkeiten, konsumentenrechtliche Streitigkeiten, materiellrechtliche SchKG-Klagen (zum Beispiel Aberkennungs-, Arrestprosequierungsklagen) und betreibungsrechtliche SchKG-Klagen mit Reflexwirkung auf das materielle Recht (zum Beispiel Widerspruchs-, Kollokations-, Lastenbereinigungs-, Aussonderungsklagen). Zudem werden bestimmte sozialpolitisch besonders sensible Materien unabhängig vom Streitwert dem vereinfachten Verfahren zugewiesen (Art. 243 Abs. 2 ZPO).
Gegenüber dem ordentlichen Verfahren zeichnet sich das vereinfachte Verfahren durch eine Vereinfachung der Behauptungsphase aus. Merkmale sind die vereinfachte Klageeinleitung (Art. 244 ZPO), vorherrschende Mündlichkeit (Art. 245 ZPO), die verstärkte Mitwirkung des Gerichts (Art. 247 ZPO), die angestrebte Erledigung am ersten Termin (Art. 246 Abs. 1 ZPO) und ein teilweise erweitertes Novenrecht (Art. 247 i.V.m. 229 Abs. 2 und 3 ZPO). Im Übrigen verläuft das vereinfachte Verfahren wie das ordentliche (Art. 219 ZPO).(35)
Das vereinfachte Verfahren ist gekennzeichnet durch Laienfreundlichkeit, besondere Flexibilität in der Verfahrensgestaltung und die erweiterte richterliche Fragepflicht. Besonders betont wird in Art. 247 Abs. 1 ZPO, dass das Gericht durch entsprechende Fragen darauf hinwirkt, dass die Parteien ungenügende Angaben zum Sachverhalt ergänzen und Beweismittel bezeichnen. Damit wird die Verantwortung des Gerichts besonders hervorgehoben, im Interesse der materiellen Wahrheit bei der Sammlung des Prozessstoffs notfalls behilflich zu sein.(36) Dies gilt sowohl in Verfahren mit sozialer Untersuchungsmaxime als auch in Verfahren mit Verhandlungsmaxime.
Das Gericht soll einer nicht oder schlecht vertretenen Partei sagen können, worauf es bei ihrem Anspruch ankommt und sie speziell nach Beweismitteln für strittige Tatsachen fragen dürfen. Auch wenn nur eine Partei vertreten ist, liegt es in der Verantwortung des Gerichts, durch entsprechende Fragen ein Ungleichgewicht in der Ausdrucksfähigkeit und im rechtlichen Wissen notfalls auszugleichen. Dem Gericht obliegt daher eine im Verhältnis zur allgemeinen richterlichen Fragepflicht (Art. 56 ZPO) leicht verstärkte Fragepflicht.
In dieser Bestimmung äussert sich das Bestreben des Gesetzgebers, der materiellen Wahrheit gegenüber der formellen Wahrheit Vorrang einzuräumen. Wenn sich jedoch zwei anwaltlich vertretene Parteien gegenüberstehen, darf und soll sich das Gericht wie im ordentlichen Prozess grundsätzlich zurückhalten.(37)
Meines Erachtens sollte das Gericht bei mangelhafter Substanzierung jedoch aufgrund von Art. 247 Abs. 1 ZPO gerade auch bei anwaltlich vertretenen Parteien durch geeignete Fragen zur Sachverhaltsergänzung beitragen. Das Gericht ist allerdings nur in ergänzender Weise an der Sammlung des Prozessstoffs beteiligt. Die richterliche Fragepflicht kann keine Sachverhaltselemente betreffen, für die sich in den Parteidarstellungen keine Anhaltspunkte finden.
Damit nähert sich das Verfahren mit Verhandlungsmaxime und erweiterter Fragepflicht dem Verfahren mit (sozialer) Untersuchungsmaxime an.(38) Soweit zusätzlich die soziale Untersuchungsmaxime gilt, geht die Verantwortung des Gerichts noch eine Stufe weiter.
Aufgrund der erweiterten gerichtlichen Fragepflicht sind die Anforderungen an die Substanzierung grundsätzlich etwas tiefer als im ordentlichen Verfahren. Sind indessen beide Parteien von Anwälten vertreten, sind die Unterschiede in Verfahren mit Verhandlungsmaxime in der Praxis nicht sehr gross, da sich das Gericht mit Fragen zurückhalten darf und dies in der Regel auch tatsächlich tut.
7. Fazit
7.1 Grundsätze für Gerichte
Zivilprozessrecht ist dienendes Recht. Diesem Grundsatz haben auch die Substanzierungsregeln zu folgen. Die Substanzierungsanforderungen sollen dazu dienen, einen fairen Prozess zu ermöglichen und den Ausforschungsbeweis (sogenannte fishing expeditions) zu vermeiden. Sie bezwecken aber nicht, die Gerichte vor (mühsamen und ungeliebten) Beweisverfahren zu verschonen.
Es muss deshalb das oberste Gebot der Gerichte sein, den Parteien zu ihrem Recht zu verhelfen, und nicht berechtigte Forderungen mit übertriebenen Anforderungen an die Substanzierung zu verhindern.
Wenn das Gericht versteht, worum es geht, das heisst der Sachvortrag schlüssig, aber nicht in allen Punkten ausreichend substanziert ist, hat es durch Ausübung der Fragepflicht oder durch Substanzierungshinweise vor dem zweiten Vortrag (in der Verhandlung oder im zweiten Schriftenwechsel) auf eine Ergänzung der Parteivorbringen hinzuwirken. Wenn die beklagte Partei in der Klageantwort bereits auf die Substanzierungsmängel in der Klageschrift hingewiesen hat, entfällt diesbezüglich – jedenfalls gegenüber Anwälten – eine zusätzliche Hinweispflicht des Gerichts. Gegenüber juristischen Laien geht die Fragepflicht weiter. Eine erweiterte Fragepflicht besteht im vereinfachten Verfahren und in familienrechtlichen Verfahren. Dabei hat sich das Gericht am Grundsatz der materiellen Wahrheit zu orientieren.
Wenn das Gericht trotz gutem Willen und eventuell der Ausübung der Fragepflicht nicht versteht, worum es bei den Parteivorbringen geht, das heisst der Tatsachenvortrag nicht schlüssig ist beziehungsweise die Behauptungen so pauschal sind, dass ein Beweisverfahren nur der Sachverhaltsermittlung (und nicht dem Beweis eines behaupteten Sachverhalts) dienen würde, fehlt es an der nötigen Substanzierung.
Zu fordern ist, dass die Gerichte die Substanzierung mit Vernunft und Fairness anwenden, um ein gerechtes Verfahren zu gewährleisten. Zu bedenken ist dabei auch, dass übertriebene Anforderungen an die Substanzierung auf Dauer die Gefahr immer längerer Rechtsschriften und damit einer Verteuerung des Zivilprozesses bergen.
7.2 Hinweise für Anwälte
Rechtsschriften sind so abzufassen, dass das Gericht sie versteht. Dabei ist auf eine klare, übersichtliche, ausreichend detaillierte und schlüssige Sachverhaltsschilderung zu achten. Diese sollte nicht mit rechtlichen Ausführungen vermischt werden. Wenn das Gericht nicht versteht, das heisst nicht verstehen kann, worum es wirklich geht, und / oder keine hinreichend konkreten Beweissätze formulieren kann, ist die Klage ungenügend substanziert.
Von den Anwälten ist zu fordern, dass sie sich in ihren Rechtsschriften und – mehr noch – in ihren mündlichen Vorträgen so kurz wie möglich und so lang wie nötig halten. Substanzierung ist aber nicht mit der Länge der Rechtsschriften zu verwechseln. Nicht selten verbergen sich hinter ausufernden Rechtsschriften schwache Rechtspositionen.
(1) Dieser Beitrag basiert auf einem Referat der Autorin an der PraxiZ-Tagung vom 29.8.2013 in Zürich und ist ein kurzer Auszug aus ihrem Aufsatz im Tagungsband (Annette Dolge [Hrsg.], PraxiZ Bd. 3, Substantiieren und Beweisen, Praktische Probleme, Schulthess Verlag, Zürich 2013).
(2) Peter Hafter, Strategie und Technik des Zivilprozesses, Einführung in die Kunst des Prozessierens, 2. Aufl., Zürich 2011, N 885.
(3) Hafter, a.a.O., N 882; vgl. auch das Beispiel in BGer Urteil 4A_293/2011 E. 4.3 (ungenügende Substanzierung einer Zession).
(4) Mark Schweizer, Substanziieren – wozu?, Zwecke der Substanziierungslast und Anforderungen an den Substanziierungsgrad, SJZ 2012 557, S. 559.
(5) Jürgen Brönnimann, Die Behauptungs- und Substanzierungslast im schweizerischen Zivilprozessrecht, Diss., Bern 1989; Spühler / Dolge / Gehri, Schweizerisches Zivilprozessrecht und Grundzüge des internationalen Zivilprozessrechts, 9. Aufl. des von Oscar Vogel begründeten Werkes, Bern 2010, Kap. 7 N 87 ff., S. 136 ff.
(6) Spühler / Dolge / Gehri, a.a.O., Kap. 7 N 99, S. 138.
(7) Brönnimann, a.a.O., S. 26 ff., S. 130 ff.; Spühler / Dolge / Gehri, a.a.O., Kap. 7 N 90, S. 136 f.
(8) Spühler / Dolge / Gehri, a.a.O., Kap. 7 N 91, S. 137.
(9) Max Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. A., Zürich 1979, S. 166; Spühler / Dolge / Gehri, a.a.O., Kap. 7 N 91, S. 137.
(10) BGE 105 II 143, 145 f. E. 6a/bb; Spühler / Dolge / Gehri, a.a.O., Kap. 7 N 96, S. 137.
(11) BGE 127 III 365, 368 E. 2b; 108 II 337, 339 f. E. 2; BGer Urteil 4A_588/2011 E. 2.2.1; Brönnimann, a.a.O., S. 23 ff., S. 129 f., S. 148 ff.
(12) BGE 108 II 337, 341 f. E. 2d; vgl. auch BSK ZPO-Willisegger, 2. Aufl., Art. 221 N 29 f.
(13) BGE 105 II 143, 145 f. E. 6a/bb.
(14) BGE 127 III 365 368 E. 2b; Brönnimann, a.a.O., S. 149 f.; Hafter, a.a.O., N 908.
(15) Spühler / Dolge / Gehri, a.a.O., Kap. 7 N 101, S. 138; Hafter, N 909 f.
(16) BGE 127 III 365, 368 E. 2b;
123 III 183, 187 f. E. 3e; 108 II 337, 339 ff. E. 2 f.; 98 II 113, 116 f. E. 4a; BGer Urteile 4A_588/2011 E. 2.2.1; 4A_293/2011 E. 4.2; 4A_291/2007 E. 3.4; Guldener, S. 164, S. 167 f.; Brönnimann, a.a.O., S. 23 ff., S. 30, S. 149 ff., S. 165 ff.
(17) BGE 136 III 322, 328 E. 3.4.2.
(18) Spühler / Dolge / Gehri, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl., Bern 2011, Kap. 7 N 102, S. 139.
(19) BGE 136 III 322 (genügende Substanzierung des Konkursverschleppungsschadens); BGer Urteil 4A_588/2011 (genügende Substanzierung des hypothetischen Kausalzusammenhangs und des Schadens bei Anwaltshaftung).
(20) Spühler / Dolge / Gehri, a.a.O., Kap. 7 N 103, S. 139; Brönnimann, a.a.O., S. 210 f.; BGE 122 III 219, 221 f. E. 3a; 97 II 216, 218 E. 1.
(21) BGer Urteil 4A_588/2011 E. 2, insb. E. 2.2.4.
(22) BGE 117 II 113 f.; 105 II 143, 146 E. 6a/bb; Brönnimann, a.a.O., S. 178 ff.
(23) Spühler / Dolge / Gehri, a.a.O., Kap. 7 N 104, S. 139; vgl. Brönnimann, a.a.O., S. 177.
(24) Dike ZPO-Glasl, Art. 55 N 24.
(25) Spühler / Dolge / Gehri, a.a.O., Kap. 7 N 105, S. 139; BGE 115 II 1 ff.; 105 II 143, 145 f. E. 6a/bb.
(26) Brönnimann, a.a.O., S. 179 f., S. 183; BGE 105 II 143, 146 E. 6a/bb.
(27) Pra 2004 Nr. 28 E. 4; BGE 119 II 305 f.; 76 II 51, 70 f.; 66 II 145, 147 f.; Spühler / Dolge / Gehri, a.a.O., Kap. 7 N 106 f., S. 139 f.; Brönnimann, a.a.O., S. 183 f., S. 219 ff.
(28) Brönnimann, a.a.O., S. 219 ff.; BK-Kummer, Art. 8 ZGB N 196 ff.
(29) BGE 117 II 113 f.
(30) BGE 113 Ia 433, 434 f. E. 1; 108 II 337, 340 E. 2d.
(31) Hafter, N 912 f.
(32) BGE 113 Ia 433, 434 E. 1; 108 II 337, 340 E. 2d.
(33) Hafter, N 911.
(34) KassGer ZH vom 5. Juli 2004,SJZ 2005 Nr. 45, S. 43 ff.
(35) Botschaft ZPO, BBl 2006 7349.
(36) Spühler / Dolge / Gehri, a.a.O., Kap. 11 N 165, S. 316.
(37) Botschaft ZPO, BBl 2006 7348; BSK ZPO-Mazan, 2. Aufl., Art. 247 N 19; Spühler / Dolge / Gehri, Kap. 11 N 166, S. 316.
(38) BSK ZPO-Mazan, 2. A., Art. 247 N 10, 13.