Staats- / Verwaltungsrecht
Kantone können zur Linderung des Problems der «working poor» einen minimalen Stundenlohn für ihr Kantonsgebiet festlegen. Es handelt sich nicht um eine wirtschaftspolitisch motivierte Massnahme, sondern um eine sozialpolitische Massnahme, die mit dem verfassungsmässig garantierten Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit und dem übrigen Bundesrecht vereinbar ist. Ein minimaler Stundenlohn von 20 Franken (wie ihn der Kanton Neuenburg vorsieht), der jährlich der Entwicklung der Konsumentenpreise angepasst wird, liegt innerhalb einer angemessenen, auf objektiven Kriterien fussenden Spannbreite.
2C_774/2014 vom 21.7.2017
Zivilrecht
Zwei Verlagshäuser haben in ihrer Berichterstattung über die Verhaftung von Carl Hirschmann ab November 2009 eine eigentliche Medienkampagne geführt und diesen in den Persönlichkeitsrechten verletzt. Mit den Berichten wurde Hirschmann seines Rechts beraubt, selbst darüber zu bestimmen, von welchen Informationen über sich und sein Leben die Öffentlichkeit erfährt. Personenbezogene Begebenheiten und Ereignisse aus seinem Leben wurden in einer Weise preisgegeben, die einer übermässigen Einmischung gleichkam und ihn in den Augen des Durchschnittslesers blossstellte. Ein überwiegendes öffentliches Interesse für diese Persönlichkeitsverletzungen gibt es nicht.
5A_256/2016 vom 9.6.2017
Der Anspruch eines Auftraggebers auf Herausgabe von Retrozessionen stellt keine periodische Leistung aus einem Dauerschuldverhältnis dar. Der Herausgabeanspruch des Auftraggebers entsteht vielmehr aus der Tatsache, dass der Beauftragte die Retrozession von Dritten erhalten hat. Jede einzelne Herausgabeverpflichtung beruht damit auf einer separaten Grundlage, weshalb bei Retrozessionen die ordentliche Verjährungsfrist von zehn Jahren gilt. Die Frist beginnt dabei nicht erst bei Beendigung des Auftragsverhältnisses zu laufen, sondern für jede einzelne Retrozession am Tag, an dem der Beauftragte sie erhalten hat. Dies ist der Zeitpunkt der Entstehung und damit der Fälligkeit der einzelnen Herausgabeansprüche.
4A_508/2016 vom 16.6.2017
Die liechtensteinische AHV-Rente geniesst in der Schweiz den gleichen Pfändungsschutz wie die schweizerische AHV-Rente. Beide Systeme sind sehr ähnlich aufgebaut, ja praktisch gleich. Die liechtensteinische AHV-Rente ist dementsprechend ebenfalls unpfändbar. Einen Vorbehalt bringt das Bundesgericht an: Übersteigt eine liechtensteinische Altersrente unter Anrechnung der in der Schweiz bezogenen Rente und gegebenenfalls weiterer unpfändbarer ausländischer Altersgrundrenten den Betrag der maximalen Schweizer Altersrente, wäre eine Pfändung im Überbetrag möglich.
5A_630/2016 vom 29.5.2017
Strafrecht
Der Begriff des Erwerbs im Sinne des Waffengesetzes umfasst alle Formen der Eigentums- bzw. Besitzesübertragung wie zum Beispiel Kauf, Tausch, Schenkung, Erbschaft, Miete und Gebrauchsleihe – mithin jede Form der rechtlichen oder tatsächlichen Übertragung von Waffen, unabhängig davon, ob die Übertragung zu einem nur vorübergehenden Zweck erfolgt. Ein Polizist, der – für Dritte bestimmte – Waffen bei einer Lieferfirma für sich beziehungsweise an die Adresse der Kantonspolizei bestellt, erlangt die tatsächliche Herrschaft über die Waffen. Er macht sich strafbar, da er nicht über einen Waffenschein verfügt.
6B_1319/2016 vom 22.6.2017
Die Aargauer Justiz muss zwei Personen vom Vorwurf der fahrlässigen Verursachung einer Feuersbrunst freisprechen. Die beiden hatten beschlossen, gemeinsam Feuerwerk abzufeuern. Dabei flog eine der Raketen auf einen fremden Balkon und setzte eine Sitzlounge in Brand. Wer die brandauslösende Rakete gezündet hat, war nicht zu eruieren. Trotzdem verurteilte das Aargauer Obergericht die beiden Verursacher zu Geldstrafen von je 80 Tagessätzen zu 200 Franken sowie zu Bussen von 800 Franken. Laut Bundesgericht ist eine gemeinsame Beschlussfassung einer sorgfaltswidrigen Handlung aber nicht nachgewiesen. Diese Beweislosigkeit kann nicht über eine wie auch immer begründete Mittäterschaft substituiert werden. Infolge des mangelhaft durchgeführten Beweisverfahrens müssen die beiden Personen freigesprochen werden.
6B_360/2016 vom 1.6.2017
Auch in einem krassen Fall der Verletzung des Beschleunigungsgebots erfolgt keine Reduktion der Verfahrenskosten. Fall eines Verurteilten, der im Juli 2010 verhaftet und gegen den erst im Mai 2014 Anklage erhoben worden ist. Der Mann forderte deshalb eine Reduktion der erstinstanzlichen Verfahrenskosten um 30 Prozent. Das Bundesgericht hat dies abgelehnt. Folgen einer Verletzung des Beschleunigungsgebots sind meistens die Strafreduktion, manchmal der Verzicht auf die Strafe oder – als ultima ratio in Extremfällen – die Einstellung des Verfahrens. Im konkreten Fall wurde die Strafe wegen der Verletzung des Beschleunigungsgebots um ein halbes Jahr auf zwei Jahre verkürzt; eine Reduktion der Verfahrenskosten ist nicht möglich.
6B_934/2016 13.7.2017
Sozialversicherungsrecht
Bis zum Erlass neuer Bestimmungen dürfen Bezüger von Invalidenrenten nicht mehr observiert werden. Dafür fehlt es an einer genügend klaren und detaillierten gesetzlichen Grundlage. Das im letzten Herbst vom EGMR gefällte Urteil zur fehlenden gesetzlichen Grundlage für die verdeckte Überwachung im Bereich der Unfallversicherung gilt auch bei der Invalidenversicherung. Im konkreten Fall darf das widerrechtlich gesammelte Material verwertet werden, da die Observation nur kurze Zeit dauerte und im öffentlichen Bereich stattfand. Das öffentliche Interesse an der Verhinderung des Versicherungsmissbrauchs überwiegt das private Interesse der observierten Person.
9C_806/2016 vom 14.7.2017
Wer aus Gründen von Stress, Ärger oder Wut mit der Faust gegen eine Wand schlägt und sich dabei einen Sehnenriss am kleinen Finger oder eine andere Verletzung zuzieht, kann keine Leistungen der Unfallversicherung beanspruchen. Da der Verletzte die Körperschädigung in Kauf genommen hat, ist eine eventualvorsätzliche Schädigung zu bejahen. In solchen Fällen ist – wie bei einer absichtlichen Gesundheitsschädigung – die Annahme eines Unfallereignisses ausgeschlossen, weshalb die Unfallversicherung keine Leistungen zu erbringen hat. Die Folgen einer sinnlosen Gewalteinwirkung sollen nicht von der Versichertengemeinschaft getragen werden müssen.
8C_555/2016 vom 13.6.2017