Ein Zürcher Oberrichter muss in den Ausstand treten, weil er einen Beschuldigten, der keinen Verteidiger hatte, telefonisch zum Rückzug seiner Berufung bringen wollte. Diesen Fall machte der «Tages-Anzeiger» am 12. Januar 2013 bekannt. Das ist keinesfalls ein Einzelfall.
Seit geraumer Zeit steht ein substanzieller Abbau der Anzahl der Berufungen in Strafsachen auf der präsidialen Wunschliste des Zürcher Obergerichts. Deshalb liess das Präsidium des Obergerichts in den Mitteilungen des Zürcher Anwaltsverbandes ZAV vom Oktober 2012 (Info 7/12, Seite 7) in einem bemerkenswerten Appell verkünden, dass die Referenten in strafrechtlichen Berufungsverfahren bereit seien, auf entsprechende Anfrage hin namentlich hinsichtlich einer negativen Chancenprognose Auskunft zu erteilen. Die Anfrage diene der Prozessökonomie. Um dieses Ziel zu erreichen und auf allen Seiten Aufwand und Kosten zu sparen, sollten sich die Parteivertreter so frühzeitig mit dem Referenten in Verbindung setzen, dass die Vorbereitungen auf Seiten des Gerichts nicht bereits abgeschlossen seien.
Die auf den ersten Blick unspektakuläre präsidiale Einladung hat es in sich. Das Obergericht nimmt sich hier etwas heraus, was sich kein Gericht in diesem Land erlauben kann - von einem Anwalt soll gar nicht erst die Rede sein. Das Ansinnen eines Verteidigers jedenfalls, von einem bezirks- oder auch bundesgerichtlichen Referenten eine Prognose des Prozessausganges zu erhalten, würde laute Empörung auslösen, als dreister Versuch gewertet, den Richter zu beeinflussen. Beim Zürcher Obergericht aber ist es umgekehrt. Hier sind Anrufe der Verteidiger erwünscht. Namentlich negative Prognosen werden vom Referenten gerne und wie es scheint erst noch lustvoll erteilt. Der Verteidiger ist Objekt obergerichtlicher Begierden geworden.
Angesichts der Störungsanfälligkeit und Fehlerhaftigkeit allen strafrechtlichen Wirkens auf dieser Erde und insbesondere des oftmals depressiv machenden Niveaus in der Behandlung und Beurteilung gewisser Deliktsarten durch alle Gerichtsinstanzen muss der unverhohlene Aufruf zur Verstümmelung des anwaltlichen Selbstverständnisses bei einem engagierten Strafverteidiger nacktes Grauen auslösen. Es geht hier um die Etablierung eines Systems organisierten Klientenverrats, wobei von den obergerichtlichen Initianten die Verantwortung für die Folgen dieses Prognose-Getuschels in feinsinniger Weise dem Verteidiger zugeschoben wird. Das lässt sich leicht begründen.
Berufen, an diesem frivolen Treiben teilzunehmen, sind nach der sorgfältig gewählten Sprachregelung im Aufruf des Obergerichts die Parteivertreter. Gemeint sind jedoch in erster Linie die Verteidiger, die andauernd und in scheinbar epidemischem Ausmass für unerwünschte Umtriebe der Strafkammern sorgen, obwohl sie genau wissen müssten, dass ihre Berufungsanträge zumeist als haltlos vom Tisch gewischt werden. Die Wortwahl des Aufrufs weist darauf hin, dass der Eindruck vermieden werden soll, das Obergericht wolle wieder einmal gezielt an den Verteidigungsrechten von Beschuldigten herumwerkeln, was dem Bundesgericht bis heute zweimal sauer aufgestossen ist, siehe dazu die Urteile des Bundesgerichtes 1B_242/2007 vom 28. April 2008 und 1B_407/2010 vom 4. Mai 2011. In Urteil 1B_242/2007 hatte ein Oberrichter mit dem Rechtsvertreter des Beschuldigten Kontakt aufgenommen und ihm mitgeteilt, dass er als Referent wohl Antrag auf Abweisung der Berufung stellen werde. Ein darauf gestütztes Ausstandsbegehren gegen diesen Richter lehnte das Obergericht ab. Das Bundesgericht war anderer Meinung: Dieses Vorgehen habe Artikel 30 Absatz 1 der Bundesverfassung und Artikel 6 Absatz 1 der EMRK (Anspruch auf unparteiisches Gericht) verletzt.
In Urteil 1B_407/2010 war es nicht mehr der Referent, sondern der Kammerpräsident, der schriftlich vor schlechten Erfolgsaussichten warnte und daraufhin von sich aus in den Ausstand trat. Der Verteidiger stellte jedoch ein Ausstandsbegehren gegen sämtliche Richter dieser Kammer, da dieses System durch sie gebilligt worden sei. Das Bundesgericht hielt fest, es sei «nicht umstritten», dass der betreffende Oberrichter durch sein Schreiben «den Anschein der Befangenheit erweckte». Was das Verhalten der ganzen Kammer angehe, so lägen «zurzeit keine hinreichend konkreten Hinweise dafür vor, dass das Obergericht systematisch» auf Parteivertreter einwirke, um sie zum Rückzug von Rechtsmitteln zu bewegen. Sinngemäss jedoch, es könne sich im Wiederholungsfalle eine andere Betrachtungsweise aufdrängen.
Interessant ist sie schon, die unverfängliche Botschaft des ZAV, die Anfrage des Verteidigers und Erteilung einer Chancenprognose diene der Prozessökonomie. Es gehe lediglich um das Ziel, auf allen Seiten Aufwand und Kosten zu sparen. Dagegen kann niemand etwas haben. Wo genau gespart werden soll, wird allerdings nicht gesagt. Das darf man erraten, muss man ergründen. Die unausgesprochene Botschaft lautet im Klartext: Um das gemeinsame Unterfangen zu realisieren, haben die Verteidiger ihre Berufung nach Erhalt einer negativen Prognose zurückzuziehen. Nur so lassen sich Aufwand und Kosten vermeiden. Wieso eigentlich nicht unverblümt und geradeaus?
Obwohl primär die Richter der betroffenen Strafkammern von dieser so uneigennützig propagierten Prozessökonomie durch Reduzierung der Arbeitslast profitieren können, wird davon gesprochen, dass auf allen Seiten Aufwand und Kosten gespart werden sollen. Zwischen Stuhl und Bank fallen bei dieser Übung der Verteidiger und sein Klient. Sie bezahlen den Preis. Gemütlicher wirds effektiv nur an den Strafkammern des Obergerichts. Die Angeklagten verlieren die Chance, das gegen sie ausgesprochene Urteil letztinstanzlich überprüfen zu lassen! Wichtig ist nach dem Wortlaut des Aufrufs der frühzeitige Kontakt mit dem Referenten. Die Vorbereitungen des Gerichts sollen nicht bereits abgeschlossen sein. Was heisst das? Der Spareffekt ist umso grösser, je früher der Rückzug der Berufung erfolgt.
In einem frühen Stadium kann von einer Meinungsbildung der Mitglieder eines mehrköpfigen Gerichts noch keine Rede sein. Eine solche Meinungsbildung ist offenbar nicht notwendig. Die Mitrichter haben sich nicht für die Prognosekünste des Kollegen Referenten zu interessieren. Warum sollten sie auch? Die Chancenprognose ist kein Gemeinschaftswerk. Dieses segensreiche Tun ist allein Sache des dafür auserwählten Referenten. Er wird sich seine Hände einsam und ganz allein in Unschuld waschen müssen.
Und wer überwacht den Referenten? Wer garantiert die fachliche Kompetenz und vor allem, wer bürgt für die Redlichkeit seiner folgenreichen Einschätzung? Wenn der Verteidiger seine Berufung aufgrund der Prognose des Referenten zurückzieht, werden die Umstände des Rückzugs von den Mitrichtern weder zur Kenntnis genommen noch hinterfragt. Sie haben keine Veranlassung, in den Akten zu wühlen. Allein der Rückzug interessiert, nicht seine inhaltliche Berechtigung. Eine Kontrolle gibt es nicht. Es ist auch nicht zu erwarten, dass der nachfragende Verteidiger sich irgendwann beschweren wird. Er hat sich ja freiwillig aufs zweifelhafte Ratespiel eingelassen. Der Rückzug der Berufung war sein Entscheid.
Ohne flankierende Massnahmen geht ein solcher Deal nicht. Niemand möchte gerne dabei ertappt werden, der Referent nicht, der Verteidiger nicht. So gilt die Devise: Nur keine Spuren hinterlassen. Das Prognosegetuschel zwischen Referent und Parteivertretern wird nicht, darf nicht aktenkundig gemacht oder gar in einem Protokoll festgehalten werden. Es bleibt das persönliche Geheimnis der Beteiligten. Solche Gemeinsamkeiten verbinden, verpflichten über den Prozess hinaus. Davon lebt der Mechanismus.
Ohne Geheimnis drohte Gefahr vom Berufungskläger. Geht der Verteidiger nach seiner Konsultation des obergerichtlichen Referenten zum Klienten in den Knast und erklärt ihm, der Referent habe seine Prognose abgegeben, es sei dann wohl nichts gewesen - dann wächst das Misstrauen. Ein so enttäuschter Klient könnte nach dem Rückzug der Berufung auf die Idee kommen, nicht richtig verteidigt worden zu sein. Allein die Existenz eines Protokolls dürfte zur neuen Aufrollung des Verfahrens führen.
Auch die Staatsanwälte sind mit von der Partie. Das traute Geflüster der Referenten mit den Anklägern funktioniert seit Jahren bestens: Ein Verteidiger erklärt Berufung, die Anklagevertretung wie immer in solchen Fällen auch. Dann erkundigt sich der Staatsanwalt nach den Chancenprognosen, die - wie zumeist - nicht für ihn, sondern für den Berufungskläger wenig erfreulich ausfallen. Aus der Sicht eines Verteidigers, der sich auf ein solches Spiel nicht einlässt und ganz selbstverständlich auf einen fairen Prozess hofft, erschiene der Referent klar als befangen. Nur weiss der Verteidiger nichts davon, er wird es nie wissen.
Für den Staatsanwalt erweisen sich solche Nachfragen beim Referenten als einträglich. Er braucht bei einer negativen Prognose für den Berufungskläger nicht einmal mehr ein taugliches Plädoyer zu schreiben. Es wird tatsächlich im Sinne des präsidialen Aufrufs unnötiger Aufwand vermieden. Auf sein nicht existentes Plädoyer angesprochen, verkündete kürzlich ein Staatsanwalt vor den Schranken: Man müsse eben wissen, was wichtig und richtig sei! Ich musste ihn korrigieren. Man muss vor allem im Voraus wissen, wie der Prozess ausgeht. An ihrem Plädoyergeplauder sollt ihr sie also erkennen, diese staatsanwaltlichen Prognose-Konsumenten!
Wird nun aber mit dieser Chancenprognose nicht das Beratungsgeheimnis verletzt? Der Referent gibt seine Meinung bekannt und er wird sie gegenüber der anfragenden Prozesspartei zumindest kurz begründen wollen. Die Willensbildung und die Überlegungen eines Referenten sind nun aber Teil des streng zu hütenden Beratungsgeheimnisses, auch im Vorfeld der Berufungsverhandlung. Mit gutem, ja sehr gutem Grund kann man deshalb das betörende Geflüster als Amtsgeheimnisverletzung qualifizieren! Die anfragenden Parteivertreter kämen als Anstifter in Betracht. Wobei sich zudem die Frage stellt, wie es mit dem Aufruf des Präsidiums des Obergerichts steht.
Und was ist eigentlich mit der richterlichen Unabhängigkeit? Da beschliessen also irgendwelche einflussreichen Mitglieder der Strafkammern, vornehmlich wohl deren Präsidenten, der Referent habe bei entsprechender Anfrage den Parteivertretern Auskünfte zu erteilen. Diese bahnbrechende Neuerung wird wie geschehen zur Doktrin des Obergerichts und das unkeusche Handwerk an den Referenten delegiert. Damit wird ein dramatischer Druck auf einen Richter ausgeübt, dessen Unabhängigkeit gemäss Verfassung unantastbar und heilig sein soll. Seltsames zeigt sich: Die Bedrohung der richterlichen Unabhängigkeit kommt von den Mitrichtern und nicht etwa von irgendwelchen bösen Gruppierungen aus Sizilien.
Der gebeutelte Referent hat seinen Beitrag an die präsidial verordnete Sparmanie zu leisten. Er arbeitet nicht einfach für sich, sondern für seinen Spruchkörper, seine Strafkammer. Die Berufungsaufwandreduktionsmaschi-nerie will betrieben werden, wenn sie schon von höchster Warte propagiert wird. Die einfachste Prozesserledigung seit der Erfindung des Obergerichts ist immer noch der Rückzug der Berufung. Als tüchtig gilt, wer viele Fälle erledigt. So gilt die eherne Regel: Der gute und gewissenhafte Richter arbeitet nach dem Gesetz - und macht möglicherweise Überstunden -, der besonders erfolgreiche jedoch bearbeitet den Verteidiger - und geht früher nach Hause.
Und wie soll sich einer der eifrigen Ersatzoberrichter dieser Zumutung und offiziellen Doktrin des Präsidiums entziehen, wenn er eines schönen Tages vermehrt oder gar definitiv Einsitz in dieses prestigeträchtige Obergericht nehmen will? Sagt er ganz einfach nein? Eher nicht. So wird der Referent, lange bevor er vom Ersatzrichter zum Oberrichter gewählt ist, zum willigen Vollstrecker dieser eigennützigen kollektiven Prognose- und Sparmanie. Schwerlich wird er sonst Anerkennung, schwerlich die gewünschte Position erreichen. Das ist tragisch: Der Bruch des rechtsstaatlichen Verständnisses als Preis für den Eintritt ins Obergericht.
Der Verteidiger wird sich einige Gedanken machen müssen, wenn er nicht schon die Optik des Obergerichts verinnerlicht hat. Seine Sorgfaltspflicht lässt es genau besehen nicht zu, sich so vertrauensselig an die schmale Brust des Referenten zu werfen, der zwar mit Engelszungen redet, von dem er jedoch weiss, dass ihm der Verzicht auf die Berufung eine massive Arbeitserleichterung einbringt, und von dem er annehmen muss, dass er unter erheblichem Erledigungs- und Profilierungsdruck steht.
Wie kommt eine solche Chancenbewertung zustande? Wir wissen es nicht. So müssen wir mutmassen. Fest steht: Der Referent kennt weder die Meinung seiner Mitrichter noch das künftige Plädoyer des Verteidigers, weder die Aussagen der beantragten Zeugen noch des Berufungsklägers an der Berufungsverhandlung. Wie also will er eine verlässliche Chancenprognose abgeben und eine Fehlprognose ausschliessen? Er müsste alle denkbaren Vorbringen und Argumente in geradezu wundersamer Weise antizipieren, in diesem Sinne dem Berufungskläger und allen anderen Prozessparteien vorausschauend gleich noch das rechtliche Gehör gewähren.
Der besondere Irrsinn des verordneten Ratespiels liegt letztlich darin, dass der Referent bei seiner Chancenprognose die Meinung der Mehrheit des Gerichts einschätzen muss, seiner beiden Mitrichter also, die vielleicht noch nicht einmal die Akten kennen. Er kann seine Kollegen ja nicht überstimmen, er selber jedoch kann jederzeit überstimmt werden. Welches Urteil also würden seine beiden Mitrichter nach Kenntnis aller Fakten im durchgeführten Berufungsverfahren fällen? Das ist die grosse Frage, die der kluge Referent zu beantworten hat!
Der Referent weiss, dass für den Beschuldigten viel vom Ausgang des Verfahrens abhängt. Die künftige Lebensführung, die wirtschaftliche Existenz, der Ruf, der Familienzusammenhalt, der Verbleib in der Schweiz. Es geht mitunter um massive Freiheitsstrafen oder gar Verwahrung. Und vor allem sind die unvermeidlichen Kollateralschäden einer Fehlbeurteilung zu beachten. Die Folgen sind verheerend, für die Familie, für Frau und Kinder. Ein Grund mehr, keine Experimente an lebenden Menschen durchzuführen.
An die Sorgfaltspflicht und Seriosität sind deshalb allerhöchste Anforderungen zu stellen. Gerade um Fehlurteile zu vermeiden, soll ein Spruchkörper erfahrener Richter in einem geregelten Verfahren und einer strukturierten Urteilsberatung gemeinsam einen Entscheid finden. Das Gesetz sieht aus diesem Grund zur Beurteilung einer Berufungssache einen Spruchkörper aus drei Richtern und einem Gerichtsschreiber vor. Nicht etwa einen Einzelrichter.
Nachdem der präsidiale obergerichtliche Aufruf erstaunlicher-weise uneingeschränkt Zustimmung auch vom Zürcher Anwaltsverband erfährt, der ihn kommentarlos publiziert - wer schweigt, stimmt zu! -, ist zu befürchten, dass die Einholung solcher Prognosen alsbald zu einer eigentlichen Berufungsermächtigung wird und über kurz oder lang zur Sorgfaltspflicht der Verteidiger, in jedem Fall aber zur persönlichen Referenz einer willfährigen Haltung gegenüber dem Obergericht. Der Wunsch wird zum Befehl und alsbald zum Postulat der praktischen Vernunft: Gegen den Strom kannst du auf Dauer nicht schwimmen, Verteidiger!
Das Dilemma des Verteidigers liegt auf der Hand. Er verdient nun einmal sein Geld im Fahrwasser der Strafjustiz, wohin und auf welchen Abwegen sich diese immer auch bewegen mag. Er macht notgedrungen deren Irrungen und Wirrungen mit. Wenn die Strafjustiz deformiert, deformiert auch dieser Berufsstand. Zwangsläufig, er hat sich mit der Justiz zu arrangieren, wie sie ist, und nicht wie sie sein soll. Dem Verteidiger bleibt lediglich die Schadensbegrenzung. Der Existenzkampf, die Abhängigkeit von amtlichen Mandaten, der Wunsch nach wirtschaftlichem Erfolg, sozialer Anerkennung, Prestige im Beruf machen geschmeidig und unterwürfig, angepasst, vor allem aber mundtot.
Es handelt sich beim aktuellen Prognosesystem um den dritten Anlauf von Richtern der Strafkammern des Obergerichts, direkt auf die Verteidiger und die Berufungsbereitschaft eines erstinstanzlich verurteilten Angeklagten Einfluss zu gewinnen und mit abenteuerlichen Prognosen Rückzüge zu erzwingen. Über Jahre schickten die Präsidenten ihre Referenten vor, um die Verteidiger zum Rückzug ihrer Berufungen zu bewegen. Das Bundesgericht setzte diesem Unfug mit Urteil 1B_242/2007 ein Ende.
Daraufhin versuchte der direkt betroffene Kammerpräsident im Zuge einer eigentlichen Trotzreaktion, das gleiche Ziel mit einem nur als dreist zu bezeichnenden Interventionsmechanismus zu erzwingen, was erneut zu einem Debakel in Lausanne führte (Urteil 1B_407/2010, siehe oben). Das Bundesgericht hat keinen Zweifel daran gelassen, wie der zur Diskussion stehende Mechanismus beim nächsten Mal entschieden würde.
Nun wurde vom Präsidium des Obergerichts dieses vorliegend kritisierte System implementiert. Es ist das grauslichste der ganzen Serie, weil es gegen bundesgerichtliche Eingriffe und Korrekturen definitiv gefeit erscheint, und zugleich das effizienteste. Bildlich gesprochen: Früher holte sich der Referent oder eben der Kammerpräsident gezielt sein Schaf, mit dem kleinen Risiko, auf eine abweisende oder gar zornige Reaktion zu stossen. Heute soll dem obergerichtlichen Prognostiker gleich die ganze Herde zugetrieben werden. Ungemütliche Verteidiger bleiben aussen vor.
Die Erfinder der Methode dürfen sich auf die Schultern klopfen. Wo es keine Kläger geben kann, da gibt es auch keine letztinstanzlichen Richter. Gleichwohl irritiert, wenn sich ausgerechnet Oberrichter, die auserwählten Hüter der Verfassung, mehr als nur Gedanken darüber machen, wie sich verfassungsmässig garantierte Verteidigungsrechte eines Beschuldigten zum eigenen Nutzen aushebeln lassen. Auf eine ungeheuer spekulative Grundlage hin.
Die Etablierung des Prognosemechanismus mit seinen Rückzugsfolgen, so diskret er immer formuliert sein mag, ist als aggressiver Akt, als eine gezielte Provokation auch gegenüber dem Berufsstand der Verteidiger zu werten. Vor allem aber bringt er eine dramatische Geringschätzung des rechtsuchenden Bürgers zum Ausdruck - eine mehr als deutliche Machtdemonstration also. Und niemand kann Remedur schaffen, das wissen die hellsichtigen Prognostiker sehr genau. Denn wenn sich die Richter der Strafkammern nicht selber stoppen, stoppt sie niemand. Das Bundesgericht jedenfalls hat keine Kavallerie.