1. Grundlagen zur Entscheidfindung
1.1 Kardinalsregel
Art. 12 lit. c des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte1 (BGFA) auferlegt der Anwältin und dem Anwalt2 kraft öffentlichen Rechts eine besondere Treuepflicht. Nach der Bestimmung von Art. 12 lit. c BGFA haben die Anwälte «jeden Konflikt zwischen den Interessen ihrer Klientschaft und den Personen, mit denen sie geschäftlich oder privat in Beziehung stehen», zu vermeiden. Der Gesetzeswortlaut spricht von «jedem» Konflikt; entsprechend ist von einem weiten Konfliktbegriff auszugehen.3
Die Norm steht im Zusammenhang mit der Generalklausel von Art. 12 lit. a BGFA, nach welcher die Anwälte «ihren Beruf sorgfältig und gewissenhaft auszuüben» haben, wie auch mit Art. 12 lit. b BGFA, der sie zur Unabhängigkeit verpflichtet.4 Das Gebot zur Vermeidung von widerstreitenden Interessen ist denn auch einer der Grundpfeiler der Berufspflichten des Anwaltes. Das Bundesgericht spricht in diesem Zusammenhang von einer «règle cardinale» des Anwaltsberufes.5
1.2 Mandats- und Vertraulichkeitskonflikt
Ein verbotener Interessenkonflikt liegt vor, wenn der Anwalt die Wahrung der Interessen eines Klienten übernommen hat, mit der er sich potenziell in Konflikt zu eigenen oder anderen ihm zur Wahrung übertragenen Interessen begibt.6 Schiller unterscheidet angesichts der doppelten Funktion von Art. 12 lit. c BGFA einerseits die Garantie der unbeeinflussten Interessenwahrung, anderseits den Vertraulichkeitsschutz, den Mandatskonflikt und den Vertraulichkeitskonflikt.
Ein Mandatskonflikt liegt nach Schiller vor, wenn der Anwalt im Dilemma ist, ob er das Mandat im ausschliesslichen Interesse des Klienten führen soll oder ob er auf die abweichenden Interessen einer anderen Person Rücksicht zu nehmen hat. Dagegen liegt ein Vertraulichkeitskonflikt vor, wenn der Anwalt im Dilemma ist, ob er vertrauliche Klienteninformationen mit Rücksicht auf die Interessen einer anderen Person - zum Nachteil des Klienten - verwenden soll oder ob er dies im Interesse des Klienten zu unterlassen hat.7
Nach Fellmann liegt dann ein verbotener Interessenkonflikt vor, wenn der Anwalt die Wahrung der Interessen eines Klienten übernommen und dabei Entscheidungen zu treffen hat, mit denen er sich potenziell in Konflikt zu eigenen oder anderen ihm zur Wahrung übertragenen Interessen begibt. Das allgemeine Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen kann in drei Fallkonstellationen zu einem Interessenkonflikt führen: Bei Vorliegen eigener Interessen eines Anwalts, bei einer Doppelvertretung beziehungsweise bei einem Mehrfachmandat oder einer Mehrfachvertretung und bei einem Parteiwechsel.8
1.3 Konkrete Anhaltspunkte als Voraussetzung
Nach der früheren Praxis der Aufsichtskommission konnte schon ein Inkaufnehmen einer möglichen Kollision als Verletzung der Treuepflicht und als Verstoss gegen das Anwaltsgesetz angesehen werden. Auch hatte der Anwalt nach dieser Praxis schon den blossen Anschein eines unkorrekten Verhaltens zu vermeiden beziehungsweise durfte sich auch nicht dem Verdacht einer möglichen Benachteiligung eines früheren Klienten aussetzen.9 Das Bundesgericht und auch das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich haben sich in ihrer neueren Rechtsprechung zur Interessenkollision gegen diese frühere, extensive Praxis ausgesprochen, wonach bereits das theoretische Risiko eines Interessenkonfliktes genüge; vielmehr setze die Annahme eines Interessenkonfliktes das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte voraus.10 Entsprechend ist die Möglichkeit eines Konflikts oder das Risiko eines solchen noch kein Konflikt. Auch der blosse Anschein eines Konflikts vermag noch keine disziplinarrechtlich relevante Konfliktsituation zu begründen.
Das Gesetz untersagt aber bereits die Konfliktsituation als solche, nicht erst das Tätigwerden gegen die Interessen des Klienten. Entsprechend ist das Führen von Mandaten in einer Konfliktsituation unzulässig. Dass einem Klienten durch den Konflikt ein Schaden oder ein Nachteil erwächst, ist somit nicht erforderlich.11 Folgerichtig hat der Anwalt alle Mandate abzulehnen, die ihn in eine solche Situation bringen würden.12
1.4 Sachzusammenhang ausschlaggebend
Es spielt sodann keine Rolle, wie die Interessenkollision begründet wird. Entsprechend ist auch nicht gefordert, dass die Interessenkollision vor allem oder ausschliesslich aus anwaltlicher Mandatsführung abgeleitet wird. Entscheidend ist - wie die jüngste Rechtsprechung dokumentiert - einzig der Sachzusammenhang.13 Interessenkonflikte können sich somit auch aus Interessenlagen ergeben, die nicht nur anwaltlich begründet sind. Denn Anwälte unterhalten geschäftliche Beziehungen nicht nur mit Klienten. Zwar begründet nicht jedes abweichende Interesse von Personen, mit denen der Anwalt geschäftlich verkehrt, einen Konflikt. Vorausgesetzt wird eine Bindung, die nahelegt, dass der Anwalt bei seiner Berufstätigkeit auf die Interessen dieser Person Rücksicht nimmt, sodass die vorbehaltlose Interessenwahrung für den Klienten beeinträchtigt wird beziehungsweise Vertraulichkeitskonflikte entstehen könnten.14
Auch Organfunktionen können deshalb Konfliktsituationen schaffen. Ein Anwalt, der ein formell bestelltes oder faktisches Organ einer juristischen Person ist, hat primär ihre Interessen zu wahren (zum Beispiel Art. 717 OR) beziehungsweise ist dieser juristischen Person in Bezug auf Konfliktsituationen gleichgestellt. Damit befindet sich ein Anwalt in einem Konflikt, wenn er ein Mandat im Widerspruch mit den Interessen der Gesellschaft führt, in deren Verwaltungsrat er Mitglied ist. Entsprechend dürfen Verwaltungsräte keinesfalls den Interessen anderer Personen den Vorrang gegenüber den Gesellschaftsinteressen geben.15 Offensichtliche Fälle von Interessenkollisionen liegen in allgemeiner Weise vor, wenn der Anwalt einen Klienten vertritt, der in Konkurrenz steht mit dem Unternehmen, bei dem der Anwalt als Verwaltungsrat engagiert ist.16
1.5 Unzulässige Mehrfachvertretungen
Das Verbot der Doppelvertretung geht an sich von der Vorstellung zweier im Streit liegender Parteien aus, deren Interessen gegenläufig sind. Es bedarf keiner weiteren Erörterungen, dass in einem strittigen Verfahren ein Anwalt nicht die klägerische und gleichzeitig auch die beklagte Seite - und damit offenkundig entgegengesetzte Standpunkte - vertreten darf. Dass in einem solchen Falle des direkten Konfliktes eine disziplinarrechtlich zu sanktionierende Konfliktsituation besteht, liegt auf der Hand, ungeachtet der Frage, ob die Parteien dies billigen oder nicht.17
Es gibt aber eine weite Bandbreite möglicher Formen von Mehrfachvertretungen. Dem direkten Konflikt steht die Interessenwahrung mehrerer Klienten in der gleichen Sache mit gleicher Zielrichtung durch denselben Anwalt gegenüber; eine solche Interessenwahrung ist im Grundsatz nicht unzulässig, denn bei parallelen, gleichgerichteten oder deckungsgleichen Interessen besteht im Grundsatz kein Konflikt. Entscheidend ist stets die Prüfung der konkreten Interessenlage jedes Beteiligten. Die bloss abstrakte Möglichkeit des Auftretens von Differenzen zwischen den Vertragsparteien genügt nicht, um auf eine unzulässige Doppelvertretung zu schliessen; ansonsten wäre es einem Anwalt überhaupt nie möglich, zwei Personen zugleich zu vertreten, da immer denkbar ist, dass es zwischen diesen auf die eine oder andere Art zu Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Streitgegenstands kommt.
Ein Anwalt, der in der gleichen Angelegenheit oder in einer Angelegenheit, welche zu verschiedenen Mandaten Verbindungen aufweist, mehrere Mandanten vertritt, muss sich aber stets bewusst sein, dass die Interessen zwar im Moment gleichgerichtet sein mögen, es künftig aber jederzeit zu Unstimmigkeiten mit gegensätzlichen Standpunkten kommen kann. Entsprechend hat er alles zu unterlassen, was in einem allfälligen späteren Konflikt die Stellung eines Mandanten zum Vorteil des anderen schwächen könnte.18
1.6 Einwilligung in Konfliktsituation
Zu berücksichtigen ist schliesslich, dass selbst eine Konfliktsituation einem Klienten nicht von vornherein schaden muss. Wenn seine Interessen durch den Konflikt nur am Rande berührt werden, kann der Klient die Person des Anwalts als wichtiger beurteilen als eine nur mögliche oder geringfügige Beeinträchtigung der Interessenwahrung. Sodann kann der Klient unter Umständen in eine potenzielle Konfliktsituation einwilligen. Von der Art des Konflikts hängt ab, ob eine gültige Einwilligung möglich ist.
Es versteht sich von selbst, dass bei einem direkten Konflikt eine Einwilligung nicht möglich ist, da ein solcher Konflikt unlösbar ist. In den meisten anderen Fällen ist aber eine Einwilligung je nach der jeweils vorliegenden und zu prüfenden Interessenlage des Klienten grundsätzlich nicht ausgeschlossen.19 Diese Einwilligung muss indes klar und eindeutig sein. Sie ist für einen allfälligen Nachweis mit Vorteil schriftlich abzufassen.
1.7 Mehrfachverteidigungen
Fragwürdig sind Mehrfachverteidigungen in Strafverfahren. Das Bundesgericht erachtet eine solche Interessenwahrung nur ausnahmsweise und bei ganz speziellen Konstellationen als zulässig, nämlich dann, wenn die Mitangeschuldigten «durchwegs identische und widerspruchsfreie Sachverhaltsdarstellungen geben und ihre Prozessinteressen nach den konkreten Umständen nicht divergieren». Von diesen «besonderen Ausnahmefällen» abgesehen dürfen Anwälte keine Mehrfachverteidigungen von Mitangeschuldigten übernehmen.20 Die aktuelle Lehre vertritt die gleiche Ansicht.21
2. Konkrete Entscheide
Im Lichte der dargelegten Grundlagen hat die Aufsichtskommission in der Zeit vom 4. Juni 2009 bis 3. Juni 2010 folgende dreizehn bei ihr als Interessenkollisionen zur Verzeigung gelangte Sachverhalte beurteilt: 22
2.1 Die Verzeigerin und ihre Schwester sind an einer Erbschaft beteiligt. Die Verzeigerin machte geltend, der Anwalt habe als gemeinsamer Anwalt von der Verzeigerin und von deren Schwester letztere bevorzugt beziehungsweise gegen sie gearbeitet.
Gemäss glaubhaften Angaben (und Unterlagen) des Anwalts ist indes zur Verzeigerin kein Mandatsverhältnis zustande gekommen. Das Mandatsverhältnis bestand nur zwischen Anwalt und der Schwester. Der Anwalt räumt ein, im Rahmen der Instruktionen von der Schwester angefragt worden zu sein, ob er vermittelnd eingreifen könne. Kontakte zur Verzeigerin haben im Rahmen dieser Vermittlung stattgefunden. Die Vermittlungsgespräche sind gescheitert.
Sollte überhaupt ein gemeinsames Vermittlungsmandat erteilt worden sein, stellt die Mandatierung durch die Schwester keinen Verstoss gegen Art. 12 lit. c BGFA dar. Es wird nicht dargetan, dass der Anwalt Kenntnisse von der Verzeigerin erhalten und alsdann gegen diese verwendet hat, die er nicht auch von der Schwester (Klientin) hätte erhalten können. Folge: Einstellung des Verfahrens.23
2.2 Der Verzeiger warf dem Anwalt vor, er habe während der Dauer des Mandatsverhältnisses mit dem Verzeiger noch ein Baurekursverfahren geführt, das eine vom Verzeiger für die Eheleute X. erstellte Mauer betrifft. Nun trete er im Zusammenhang mit dieser Mauererstellung im Namen der Eheleute X. gegen ihn auf.
Das Baurekursverfahren wurde für die Eheleute X. auf Wunsch und Kosten des Verzeigers geführt. Der Anwalt ging indes nicht im Namen der Eheleute gegen den Verzeiger vor. Die Eheleute X. haben einen anderen Anwalt mit der Interessenwahrung gegen den Verzeiger mandatiert. Eine Interessenkollision lag damit nicht vor.24
2.3 Der Verzeiger (ein Kunstmaler) und der betroffene Anwalt lernten sich kennen. Der Anwalt kaufte ein Bild für 10 000 Franken. Der Anwalt gewährt dem Verzeiger in der Folge immer wieder Darlehen, letztlich bis 35 000 Franken. Gemäss Verzeiger trat der Anwalt als Mäzen auf. Der Anwalt übernahm sodann die rechtliche Vertretung des Verzeigers (unter anderem in Strafverfahren), die gemäss Verzeiger nur mit Bildern bezahlt werden konnte. Der Verzeiger verkaufte schliesslich mehrere Bilder an Bekannte des Anwalts. Ein Teil der Gelder wird zur Tilgung der Privatschulden verwendet. Vorwurf: Vermengung von privater und anwaltschaftlicher Tätigkeit.
Die Tatsache, dass offene Anwaltshonorare im gleichen Dokument enthalten sind wie die privaten Darlehen, führt noch nicht zu einer Vermengung von privater und anwaltlicher Tätigkeit. Die Art der Darstellung ist zwar ungeschickt, aber nicht disziplinierungswürdig. Folge: Einstellung des Verfahrens.25
2.4 In einem Strafverfahren wegen Amtsgeheimnisverletzung lässt sich der Verzeiger von einer Anwältin in einem kurzen Telefongespräch rechtlich beraten. Ein Jahr später erfolgt erstinstanzlich ein Freispruch. Die Staatsanwaltschaft erklärt Berufung aufgrund neuer Beweismittel (Zeugen). Die Anwältin hatte zuvor den Staatsanwalt angerufen und gesagt, es gäbe Zeugen, die von einem Freigesprochenen (nämlich vom Verzeiger) erfahren hätten, dass sich alles anders zugetragen habe. Die Berufung wurde letztlich dennoch zurückgezogen.
Die Anwältin hat mit ihrem Anruf den Interessen des früheren Klienten zuwidergehandelt, da sie die Staatsanwaltschaft auf allfällige neue Beweismittel hingewiesen hat, die den Freispruch des Verzeigers hätten in Frage stellen können. Klare Verletzung von Art. 12 lit. c BGFA.26
2.5 Der beschuldigte Anwalt und dessen Anwaltskanzlei vertraten von 2001 bis 2008 das Unternehmen X. Der Anwalt war sowohl Verwaltungsrat als auch Rechtsvertreter und erlangte deshalb Kenntnisse auch über Geschäftsgeheimnisse und strategische Überlegungen. Mitte 2008 trat der Anwalt zufolge Neuorientierung als Verwaltungsrat von X. zurück. Sein Nachfolger ist sein Stellvertreter in der Anwaltskanzlei; während laufendem Mandat wurde im Juli 2008 die Unternehmung Y. gegründet, die im absolut gleichen Gebiet tätig ist, und der beschuldigte Anwalt wurde als Verwaltungsrat (später als Rechtsvertreter) der Unternehmung Y. tätig.
Die Interessenkollision muss nicht ausschliesslich aus anwaltlicher Mandatsführung abgeleitet werden. Entscheidend ist der Sachzusammenhang. Gemäss neuster bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist das Vorgehen gegen einen früheren Klienten dann untersagt, wenn die Gefahr oder auch nur die Möglichkeit besteht, dass Kenntnisse aus dem ehemaligen Mandatsverhältnis bewusst oder unbewusst verwendet werden können. Die mögliche Verletzung von Kenntnissen bildet den konkreten Interessenkonflikt.
Der Anwalt hatte aufgrund der organschaftlichen Stellung sehr enge Beziehungen zur Unternehmung X., weshalb er beziehungsweise die Anwaltskanzlei umfassende Kenntnisse über alle Bereiche der Unternehmung X. hatte. Durch die Niederlegung der Verwaltungsratsmandate und die Aufgabe der Anwaltstätigkeit konnte sich der Anwalt seinen Verpflichtungen nicht entziehen. Vertraulichkeitskonflikte unterliegen keiner zeitlichen Schranke. Mit der Einsitznahme in die Unternehmung Y. als Konkurrenzunternehmen entstand ein tatsächlicher bzw. konkreter Vertraulichkeitskonflikt. Klarer Verstoss gegen Art. 12 lit. c BGFA.27
2.6 Vorwurf einer unzulässigen Mehrfachvertretung: Die Anwälte 1 und 2 bilden eine Kanzleigemeinschaft. Im Konkursverfahren gegen S. tritt Anwalt 1 als Vertreter von drei Klägern im Kollokationsprozess auf. Sodann tritt Anwalt 1 auch als Vertreter von drei Beklagten auf. Alle Verfahren werden durch Klagerückzug erledigt. Die Anwälte belegen, dass für die verschiedenen Klienten jederzeit übereinstimmende und gleichgerichtete Interessen zu wahren gewesen sind.
Die Vertretung von mehreren Gläubigern im Konkursverfahren, welche zielgerichtet und gebündelt Ansprüche gegen Dritte geltend machen oder Ansprüche von Dritten abwehren, begründet keine disziplinarrechtlich relevante Interessenkollision.
Vorwurf der Interessenwahrung für Gemeinschuldner und für Gläubiger: Schuldner S. hat einen Nachlassvertrag vorgeschlagen, vertreten durch die beiden Anwälte. Der Nachlassvertrag kommt zustande. An der Bestätigungsverhandlung wird S. durch Anwalt 2 vertreten. Das Zustandekommen des Nachlassvertrages liegt nicht nur im Interesse des Schuldners, sondern auch im Interesse der Gläubiger, die durch Anwalt 1 vertreten werden.
Interessenwahrung mehrerer Klienten in der gleichen Sache mit gleicher Zielrichtung durch denselben Anwalt oder Anwälte aus derselben Kanzlei ist zulässig; in strittigen Verfahren so lange, als die Interessen der verschiedenen Mandanten parallel liegen. Folge: Einstellung des Verfahrens.28
2.7 Eine Anwältin vertritt seit längerer Zeit die Ehefrau des Verzeigers in einem Scheidungsverfahren. Der Verzeiger wirft der Anwältin vor, sie habe in seiner Abwesenheit hinterlistig den Friedensrichter kontaktiert und sei für ihn nicht erreichbar gewesen. Die Anwältin antwortet, sie erwarte eine Entschuldigung, bevor weitere Konventionsgespräche geführt würden. Der Verzeiger macht eine Interessenkollision geltend, da die Anwältin Konventionsgespräche wegen eigenen Interessen unterbinde.
Ein persönlicher Interessenkonflikt ist nicht erkennbar. Das Verhalten ist vielmehr unter dem Aspekt des Gebots der fairen Behandlung der Gegenpartei zu würdigen. Die Forderung der Anwältin erscheint zwar etwas unsachlich, ebenso unsachlich und zudem ungebührlich war aber das vorangegangene Schreiben des Verzeigers. Zudem bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Anwältin nicht im Interesse der Klientin gehandelt hat.29
2.8 Ein Anwalt ist Verwaltungsratspräsident und Vertreter einer AG; namens dieser Firma erhebt er im Februar 2009 wegen Vermögensdelikten Strafanzeige gegen unbekannt. Als mögliche Täterin wird die Mitarbeiterin Z. bezeichnet. Der Anwalt war gleichzeitig Vertreter von X. in dessen Scheidungsverfahren von 2007 bis März 2009. Die mögliche Täterin Z. ist die neue Partnerin von X. Die Mandatserteilung an den Anwalt im Scheidungsverfahren erfolgte auf Empfehlung von Z. Wesentliche Punkte für die Aufsichtskommission: Der Anwalt hat nach Einreichen der Strafanzeige die Thematik gegenüber X. umgehend offengelegt. X. hat keine Interessenkollision wahrgenommen und vorläufig in eine weitere Vertretung eingewilligt. Der Anwalt hat sich - gemäss beigezogenen Akten des Scheidungsverfahrens, in welchem unter anderem über die elterliche Sorge für ein Kind zu befinden war - nicht zur Partnerin Z. äussern müssen.
Ein gewisser Zusammenhang zwischen der Vertretung im Strafverfahren und im Scheidungsverfahren besteht zwar, nicht aber in der Form, dass die Interessenwahrung im einen Mandat diejenige im anderen Mandat massgeblich beziehungsweise disziplinarrechtlich relevant beeinträchtigt hätte. Es bestand erst eine theoretische Interessenkollision. Folge: Einstellung des Verfahrens.30
2.9 Ein Anwalt ist Vertreter eines Vereins. Gleichzeitig ist er auch Vertreter von X. als Organ des Vereins. In einer späteren gerichtlichen Auseinandersetzung geht es um die Mitgliedschaft von X. im Verein. Der Anwalt, der zuvor den Verein vertreten hatte, vertritt in der gerichtlichen Auseinandersetzung X. gegen den Verein.
Entscheid der Aufsichtskommission: Mandatskonflikt, Verstoss gegen Art. 12 lit. c BGFA.31
2.10 Die Verzeigerin war in einem Pflegezentrum angestellt. Ihr wurde fristlos gekündigt. Sie mandatierte einen Anwalt für Rechtsmittel gegen die fristlose Vertragsauflösung. Anlässlich einer Besprechung übergab die Verzeigerin dem Anwalt diverse Unterlagen, unter anderem Videos, die Anlass für die Kündigung gegeben hatten, mit der Bitte, diese nicht an Drittpersonen weiterzugeben.
Der Anwalt reicht namens von betroffenen Angehörigen Strafanzeige gegen zwei andere Mitarbeiterinnen des Pflegezentrums ein. Im Laufe des Strafverfahrens wurde die Verzeigerin selbst als Angeschuldigte befragt und die Strafuntersuchung richtete sich schliesslich auch gegen sie. Dem Anwalt wird vorgeworfen, er habe mit dem Einreichen der Strafanzeige im Auftrag der Angehörigen gegen die Interessen der Verzeigerin gehandelt.
Die Verzeigerin war im Besitz von unzulässig aufgenommenen Videos. Sie hat sich damit nach Art. 179quater StGB strafbar gemacht. Wenn der Anwalt Strafanzeige einreicht im Auftrag der Angehörigen, welche ihrerseits ein Antragsrecht gegenüber der Verzeigerin haben, muss er wissen, dass sich das Strafverfahren auch gegen seine Klientin richten kann. Somit besteht ein direkter Interessenkonflikt zum Mandat der Verzeigerin.32
2.11 Ein Anwalt amtet als Vertreter des Geschädigten X. im Strafverfahren gegen Y. (Delikte aus Vermögensberatung); der Anwalt hatte früher Y. in einem Zivilprozess vertreten. Erster Vorwurf: Y. habe gegenüber dem Anwalt Honorarschulden, und es bestehe die Gefahr, dass der Anwalt nicht nur die Interessen von X., sondern auch die eigenen Interessen vertrete. Gemäss Anwalt sind die Honorarschulden im Konkursverfahren von Y. unbestritten geblieben.
Es besteht kein Hinweis, dass das offene Honorar bei der Auseinandersetzung mit Y. eine Rolle gespielt hat. Somit liegt diesbezüglich keine Interessenkollision vor.
Zweiter Vorwurf: Der Anwalt habe früher Y. in einem Zivilprozess vertreten, in dem es um den gleichen Sachverhalt gegangen sei wie jetzt im Strafverfahren.
Es ist davon auszugehen, dass sowohl im Strafverfahren als auch im Zivilverfahren die Art der Vermögensverwaltungstätigkeit von Y. zur Diskussion stand. Damit war in diesem Punkt eine aktuelle Interessenkollision zu bejahen. Dritter Vorwurf: Anschein, dass der Anwalt im Mandat für X. Kenntnisse aus früherem Mandat für Y. verwendet hat. Aufgrund der Akten ist dieser Vorwurf erstellt und damit ebenfalls eine Interessenkollision zu bejahen.
Vierter Vorwurf: Die Ehefrau des Anwalts war privat in eine heftige Auseinandersetzung mit Y. verstrickt. Eine solche Situation ist unglücklich, aber allein daraus ist kein Interessenkonflikt ableitbar.
Einwendungen des Anwalts: Y. habe in das Mandat mit X. implizit eingewilligt. Sodann habe er gegen die Einstellungsverfügung im Strafverfahren gegen Y. kein Rechtsmittel ergriffen.
Erwägungen: Der Klient muss wissen, wozu er eine Einwilligung erteilt. Eine stillschweigende Einwilligung ist im Zusammenhang mit den erwähnten Vorwürfen nicht ausreichend. Gemäss Anwalt hätte es gute Gründe für ein Rechtsmittel gegeben. Interessenkonflikt ist damit evident. Insgesamt ist damit eine Interessenkollision teilweise gegeben.33
2.12 Ein Anwalt vertritt ein Ehepaar, das in einer mietrechtlichen Streitigkeit eingeklagt wurde. Die Klägerin fordert den Mietzins von der Ehefrau, eventualiter vom Ehemann, weil er den Vertrag für die Ehefrau unterschrieben habe. Im Forderungsprozess macht das Ehepaar geltend, nicht sie würden Mietzins schulden, sondern eine Drittgesellschaft, die Vertragspartei sei. Das Ehepaar stellt gleichlautende Anträge, nämlich Antrag auf Abweisung der Klage. Zum Eventualantrag wird nicht Stellung genommen.
Die Interessen sind - jedenfalls derzeit - gleich gelagert. Damit ist zurzeit kein konkreter Interessenkonflikt ersichtlich. Die Folge: Nichtanhandnahme des Verfahrens.35
2.13 Der beschuldigte Anwalt ist ehemaliger Beistand von zwei Stiftungen. Später hat der Anwalt ein Mandat der Vormundschaftsbehörde übernommen, die seinerzeit die beiden Beistandschaften angeordnet hatte. Es ging darum, von den Stiftungen den Vorschuss für das Honorar zurückzufordern, der dem Beistand - also dem beschuldigten Anwalt - auf Rechnung der Stiftungen von der Vormundschaftsbehörde ausbezahlt worden war. Damit hat der Anwalt die Vormundschaftsbehörde in einem Verfahren gegen die von ihm zuvor vertretenen Stiftungen vertreten.
Im konkreten Fall besteht kein Interessenkonflikt, da die Interessenlage identisch ist. Im Verfahren gegen die Stiftungen stand das eigene Honorar des Anwalts als ehemaliger Beistand dieser Stiftungen zur Diskussion. Folge: Einstellung des Verfahrens.
3. Merksätze für die Praxis
Aus den angeführten grundsätzlichen Erwägungen und den von der Aufsichtskommission entschiedenen Verfahren können dreizehn Merksätze zur Frage von Interessenkollision im Sinne von Art. 12 lit. c BGFA hergeleitet werden:
- Ein Anwalt darf nicht widerstreitende Interessen vertreten.
- Für einen Verstoss gegen das Doppelvertretungsverbot ist das Vorliegen eines konkreten Interessenkonfliktes erforderlich. Die nur abstrakte Möglichkeit einer Interessengefährdung genügt nicht.
- Das Verbot der Doppel- oder Mehrfachvertretung geht von der Vorstellung von zwei im Streite liegenden Parteien aus, deren Interessen gegenläufig sind. In strittigen Verfahren sind Mehrfachvertretungen zulässig, solange die Interessen der verschiedenen Mandanten parallel liegen.
- Besteht zwischen zwei Verfahren ein Sachzusammenhang, so liegt eine unzulässige Doppelvertretung vor, wenn ein Anwalt in diesen Verfahren Klienten vertritt, deren Interessen nicht gleichgerichtet sind.
- Bei der Rechtsberatung sind Mehrfachvertretungen im Grundsatz nicht verboten, wenn die Parteien damit einverstanden sind.
- Prozessieren gegen gegenwärtige oder frühere Klienten ist mit Art. 2 lit. c BGFA nicht vereinbar, wenn die Gefahr besteht, dass gegen den ehemaligen Klienten Kenntnisse aus dem zuvor geführten Mandat verwendet werden.
- Das Konfliktsverbot enthält auch ein Element des Vertraulichkeitsschutzes. Vertraulichkeitskonflikte unterliegen im Grundsatz keiner zeitlichen Schranke.
- Ein Vertraulichkeitskonflikt kann durch eine klare Zustimmung des Geheimnisträgers zur Verwendung der dem Berufsgeheimnis unterstehenden Tatsachen in einem anderen Mandat aus der Welt geschaffen werden.
- Bei einem theoretischen Interessenkonflikt liegt keine Verletzung von Art. 12 lit. c BGFA vor, vielmehr muss ein aktueller Interessenkonflikt bestehen.
- Bei Vorliegen eines aktuellen Interessenkonflikts sind grundsätzlich beide betroffenen Mandate niederzulegen.
- Anwälte unterstehen nicht nur im Rahmen der Monopoltätigkeit und der berufsmässigen Vertretung von Parteien vor Gericht dem öffentlich-rechtlichen Berufsrecht, sie haben die Berufspflichten auch bei der Erfüllung anderer Aufgaben zu beachten.
- Eine Interessenkollision kann nicht bloss aus anwaltlicher Mandatsführung entstehen, sondern auch aus anderen geschäftlichen Beziehungen. Entscheidend ist der Sachzusammenhang. Auch Organfunktionen können deshalb Konfliktsituationen schaffen.
- Von Ausnahmefällen abgesehen sind Mehrfach-Verteidigungsmandate desselben Anwalts für verschiedene Mitangeschuldigte bzw. Mitangeklagte unzulässig.
1 Anlass dieser Zusammenstellung zu Art. 12 lit. c BGFA ist eine Weiterbildungsveranstaltung des Zürcher Anwaltsverbandes zum Thema Interessenkollisionen unter dem Motto «Brot, Wurst und Standesrecht» vom 9.6.2010. Ausführlich dargelegt sind die Grundlagen der Entscheidfindung in: ZR 109 Nr. 32 und 33.
2 Die männliche Form schliesst nachfolgend Frauen ein.
3 Kaspar Schiller, Schweizerisches Anwaltsrecht, Rz 794.
4 BGE 134 II 108 E. 3.
5 BGer 2A.560/2004 vom 1.2.2005, E. 5.2; 1A.223/2002 vom 18.3.2003, E. 5.2.
6 Walter Fellmann, in Fellmann/Zindel, Kommentar zum Anwaltsgesetz, N 84 zu Art. 12 BGFA.
7 Schiller, a.a.O., Rz 805 und 816.
8 Fellmann, a.a.O., N 84 und 86 zu Art. 12 BGFA.
9 Handbuch über die Berufspflichten des Rechtsanwaltes im Kanton Zürich, S. 130ff.; Giovanni Andrea Testa, Die zivil- und standesrechtlichen Pflichten des Rechtsanwaltes gegenüber dem Klienten, S. 118.
10 Siehe dazu BGE 135 II 145 E. 9.1; 134 II 108 E. 4.2.2; BGer 2A.293/2003 vom 9.3.2004 E. 4; Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 4.3.2007, VB.2007.00339; besprochen durch: Hans Nater, «Interessenkonflikte: Theoretisches Konfliktsrisiko genügt nicht», in: SJZ 104/2008 S. 172; Georg Pfister, Aus der Praxis der Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte des Kantons Zürich zu Art. 12 BGFA, in: SJZ 105/2009 S. 291.
11 Schiller, a.a.O., Rz 845.
12 Siehe z.B. Niklaus Studer, Neue Entwicklungen im Anwaltsrecht, in: SJZ 100/2004, S. 235; Niklaus Studer, Die Doppelvertretung nach Art. 12 lit. c BGFA, Anwaltsrevue 6-7/2004, S. 234f.
13 BGE 135 I 261 E. 5.5, 134 II 108 E. 3; BGer 2C_407/2008 vom 23.10.2008, E. 3.3; 2C_121/2009 vom 7.8.2009, E. 5.1.
14 Schiller, a.a.O., Rz 816ff., 860, 882f., 905ff.
15 Walter Fellmann, «Kollision von Berufspflichten mit anderen Gesetzespflichten am Beispiel des Anwaltes als Verwaltungsrat», in: Bernhard Ehrenzeller, Hrsg., Das Anwaltsrecht nach dem BGFA, St. Gallen 2003, S. 165ff., vor allem S. 176 und 178.
16 Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, Verfahren WBE.2006.407, Entscheid vom 13.5.2008, E. 3.2.2.
17 Fellmann, a.a.O., N 101 zu Art. 12 BGFA.
18 BGE 134 II 108 E. 4.2.3.
19 Schiller, a.a.O., Rz 825ff.
20 BGE 135 I 261 E. 5.5-5.9, vgl. BGE 134 II 108 E. 4.2.3.
21 Fellmann, a.a.O., N 107 zu Art. 12; Schiller, a.a.O., Rz 889; François Bohnet/Vincent Martenet, Droit de la profession d'avocat, Rz 1420.
22 Siehe Handout Georg Pfister zur Veranstaltung des Zürcher Anwaltsverbandes vom 9.6.2010.
23 Beschluss AK vom 4.6.2009 KG080023.
24 Beschluss AK vom 2.7.2009 KG 080021.
25 Beschluss AK vom 1.10.2009 KG080029.
26 Beschluss AK vom 5.11.2009 KG090001.
27 Beschluss AK vom 5.11.2009 KG090008; ZR 109 Nr. 33.
28 Beschluss AK vom 3.12.2009 KG 090021; ZR 109 Nr. 32.
29 Beschluss AK vom 3.12.2009 KG090026.
30 Beschluss AK vom 4.3.2010 KG090022; Anwaltsrevue 4/2010 S. 188f.
31 Beschluss AK vom 1.4.2010 KG090010, Entscheid Verwaltungsgericht ausstehend.
32 Beschluss AK vom 1.4.2010 KG090013, Entscheid Verwaltungsgericht ausstehend.
33 Beschluss AK vom 6.5.2010 KG090024.
34 Beschluss AK vom 6.5.2010 KG100005.
35 Beschluss AK vom 3.6.2010 KG090029.