Viel zu reden gibt noch immer der Anwalt der ersten Stunde. Denn weiterhin ist beispielsweise in den Kantonen Zürich, St. Gallen und Baselland das Kostenrisiko auf Seiten des aufgebotenen Anwaltes (siehe auch plädoyer 2/11). «Die Anwälte müssen die Last für die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens einseitig tragen», kritisiert Lorenz Erni, Präsident des Zürcher Vereins Pikett Strafverteidigung. «Der Anwalt wird in der Unsicherheit gelassen, ob sein Aufwand vergütet wird. Dass man das Anrecht auf einen Anwalt hat, basiert auf der EMRK - aber wie kann man dieses Anrecht garantieren, wenn es niemand machen will, weil es nicht vergütet wird?» Hoffnungen gibt es immerhin im Baselbiet, wie Niklaus Ruckstuhl, Basler Anwalt und Professor für Strafprozessrecht, erklärt. Die ehemalige Regierungsrätin, Sabine Pegoraro (FDP), wollte dieses Thema anpacken, nun wolle man ihren Nachfolger, Isaac Reber (Grüne), an das Versprechen erinnern.
In den Kantonen Luzern, Basel-Stadt und Aargau wird der Aufwand vergütet - in Letzterem mit 220 Franken pro Stunde. In St. Gallen sind die ersten drei Stunden gedeckt - wobei man in Diskussionen sei für mehr, sagt Werner Bodenmann, der die Arbeitsgruppe Strafrecht im St. Gallischen Anwaltsverband leitet.
Erfolgreiche Internet-Lösung in St. Gallen
Bodenmann weist darauf hin, dass ansonsten alles rund um das Pikett sehr gut laufe und die aufwendigen Vorbereitungsarbeiten sich gelohnt hätten: Der St. Gallische Anwaltsverhand hat eine internetbasierte Anwendung entwickelt, in die sich Pikett-Anwälte eintragen können. Sollte an einem Datum niemand eingetragen sein, wird per E-Mail ein Diensttuender gesucht. Dies komme allerdings selten vor, weil die Termine fast lückenlos ausbucht seien. Laut kantonaler Strafprozessverordnung suchen und kontaktieren die Staatsanwälte den Pikett-Anwalt dann via diese Internetplattform.
Auch Reto Ineichen, gewählter amtlicher Verteidiger und PikettAnwalt im Kanton Luzern, findet, es laufe in seinem Kanton alles gut. Für Basel-Stadt berichtet Ruckstuhl ebenfalls nur Gutes. Hingegen fragt er sich, wie gut es im Baselbiet wirklich laufe, da dort selten ein Anwalt aufgeboten werde.
Doch auch in Basel-Stadt hat er einen Schwachpunkt entdeckt: Anwälte der ersten Stunde haben ein Kostenrisiko, wenn sie eine Vollmacht zu den Akten geben, ohne dass ihre Kosten gedeckt sind. Liegt ein Fall einer notwendigen Verteidigung vor und beantragt der Anwalt die Gewährung der amtlichen Verteidigung, weil er vom Klienten nicht bezahlt werden kann, wird das von der Staatsanwaltschaft abgelehnt. Dies, weil der Beschuldigte einen Wahlverteidiger habe und somit die Einsetzung einer amtlichen Verteidigung nicht nötig sei. «Will nun der Anwalt das Wahlverteidigungsmandat niederlegen, weil seine Kosten nicht sichergestellt sind, erhält er von der Staatsanwaltschaft bei Haftfällen zur Antwort, dass das wohl eine Mandatsniederlegung zur Unzeit und somit standeswidrig sei», ereifert sich Ruckstuhl. Dies könne nur als versteckte Drohung verstanden werden, dass Anzeige bei der Aufsichtsbehörde erstattet werde.
«Verfahren formalistischer und papieriger»
Im Kanton Bern hatten viele Anwälte im alten System bei der amtlichen Verteidigung das Gefühl, es werde «gemauschelt»: Amtliche Mandate erhalte nur, wer sich mit den richtigen Leuten verstehe. In den ersten Monaten lief nun laut Auskunft mehrerer Anwälte alles richtig: Pikett-Anwälte kamen gemäss Plan zum Zug. Doch unterdessen vermuten sie, dass man wieder zum alten System zurückgekehrt sei. So könne es vorkommen, dass man während einer ganzen Pikett-Woche nie aufgeboten werde.
Im Kanton Zürich moniert Tanja Knodel, dass in der Belehrung für Angeschuldigte nach wie vor stehe, der Beschuldigte trage das Kostenrisiko, wenn ein Anwalt komme. Ein Punkt, den der Zürcher Anwaltsverband und die Demokratischen Juristen Zürich bereits im Frühjahr an einer Pressekonferenz kritisierten und der trotzdem nicht geändert wurde.
Knodel weist zudem darauf hin, dass viele neue Formulare zu kompliziert seien. Auch der St. Galler Bodenmann erwähnt die «Formularflut», und der Luzerner Ineichen sagt: «Insgesamt ist das ganze Verfahren formalistischer und papieriger geworden.»
Konstituierung der Privatklägerschaft unklar
Einig sind sich die befragten Anwälte auch, dass es in der StPO unklar geblieben ist, wann die Privatklägerschaft konstituiert wird. Laut Matthias Becker vom Aargauer Anwaltsverband bestehe das Problem vor allem, wenn die Polizei oder die Staatsanwaltschaft das entsprechende Formular nicht abgebe. Doch nun habe das Aargauer Obergericht beschlossen, dass sich eine Zivilpartei durch eine Beschwerde konstituiere - so auch nach einer Nichtanhandnahmeverfügung - oder aber wenn es aus den Akten ersichtlich sei.
Kritik kommt von mehreren Seiten auch an der Protokollierungspflicht. So würden die Verhandlungen entgegen dem Wortlaut der StPO auf Band aufgenommen, moniert der Basler Ruckstuhl. Doch die Gerichtsschreiber machten gleichzeitig weiterhin Notizen, die man weder sehe noch erhalte. «Ein Ärgernis», sagt er. «Wären doch diese Notizen wichtig für die Parteien, um sie im Plädoyer zu verwenden.»
Das Akteneinsichtsrecht wird offenbar in den Kantonen verschieden gehandhabt: Während beispielsweise in den Kantonen Baselland und St. Gallen die Polizei keine Akten herausgibt, hält die basel-städtische Kriminalpolizei laut Ruckstuhl an der bisherigen Praxis fest und gewährt das Akteneinsichtsrecht grundsätzlich nach der ersten Einvernahme. Der St. Galler Bodenmann fragt sich denn auch, ob es wirklich so gedacht war, dass es dieses Recht nicht mehr gebe.
In St. Gallen arbeitet man bei den Strafbefehlen daran, zur alten Praxis zurückzukehren: Heute sei keine Mitteilung an die Parteien mehr vorgesehen. Laut Bodenmann ist man im Gespräch mit der Staatsanwaltschaft, dass wieder eine Mitteilung gemacht werde.
Auch in Sachen Teilnahmerechte gibt es kantonale Unterschiede, weiss Tanja Knodel: «In Basel-Stadt sind auch Mitbeschuldigte an die Befragungen zugelassen.» Niklaus Ruckstuhl wäre hier froh gewesen um Klärung durch das Bundesgericht. Doch es trat nicht auf den Basler Fall ein.»
Hoffen auf Klärung durch das Bundesgericht
Knodel wäre bei mehreren Themen ebenfalls froh um einen Entscheid durch das Bundesgericht: «Wann gilt die Strafuntersuchung als eröffnet und gelten somit die entsprechenden Teilnahme- und Akteneinsichtsrechte? Ab wann gilt die notwendige Verteidigung - vor oder erst nach der ersten Einvernahme?» Das sind Fragen, die das höchste Gericht beantworten müsste. Bei der notwendigen Verteidigung hat auch Bodenmann eine Frage offen: «Kann eine Befragung verwertet werden, wenn der Verteidiger hätte dabei sein sollen, es aber nicht war?»
Trotz aller Kritik und Fragen - Tanja Knodel findet es gut, dass es eine gesamtschweizerische Strafprozessordnung gibt. Und der Berner Daniel Kettiger, der nicht nur als Anwalt mit der StPO in Berührung kommt, sondern auch den Kanton Zug bei der Einarbeitung der StPO und ZPO ins kantonale Gerichtsorganisationsgesetz beraten hat, fasst sein Fazit knapp ein Jahr nach Einführung so zusammen: «Die StPO ist im Kernbereich gut. Ihre Schwäche sind die Schnittstellen zur übrigen Gesetzgebung.» Als Beispiele nennt er das Ordnungsbussenverfahren, die Bankenaufsicht, die unterschiedliche Terminologie zur ZPO und das Problem der Adhäsionsklage.
Die ersten Erfahrungen in der Westschweiz
Die vom Westschweizer plaidoyer befragten Anwälte aus der Romandie begrüssen Neuerungen in der eidgenössischen StPO grundsätzlich, kritisieren aber den verstärkten Formalismus.
So auch Guillaume Perrot, Anwalt in Lausanne. Er schätzt, dass er für Angelegenheiten, die früher in zwei Stunden geregelt wurden, heute manchmal fast einen Tag in einer Verhandlung verbringen muss. Der Grund: Um dem Formerfordernis der Schriftlichkeit zu genügen, diktiert der Richter dem Gerichtsschreiber das Verhandlungsprotokoll.
«Ich begrüsse es zwar, dass die Aussagen auf diese Weise nachvollziehbar bleiben. Aber man muss einen Weg finden, um die Protokollierung zu beschleunigen. Denkbar wären zum Beispiel Aufnahmen, deren Gebrauch streng kontrolliert würden» Die heutige Lösung habe einige Nachteile: «Die Zeugen werden ständig unterbrochen und die Aussagen verlieren an Spontaneität. Dies schadet schliesslich der Wahrheitssuche», gibt Perrot zu bedenken.
Für Nicolas Charrière, Vizepräsident des Freiburger Anwaltsverbandes, ist vor allem der Anfang eines Verfahrens formalistisch: Es sei «gekennzeichnet durch eine beeindruckende Zahl von Formularen und Protokollen». Charrière anerkennt die Vorteile eines klar definierten Verfahrens, findet aber gleichzeitig, dass es «sehr haarspalterisch» geworden sei. «Will man aber zu viel reglementieren, gehen die Details verloren. Sobald diese dann Probleme bereiten, hat man keine Lösung», erläutert er. Unter dem alten Recht sei dies anders gewesen: «Die Normen waren allgemeiner und erlaubten so, die praktischen Probleme über die Rechtsprechung zu lösen.»
Catherine Chirazi, Anwältin in Genf, beklagt die Langsamkeit der Strafverfolgungsbehörden. Sie sei auf die zusätzliche Arbeit zurückzuführen, die ihnen mit der StPO aufgebürdet worden sei. Als Beispiel erwähnt sie die Verlängerung der Untersuchungshaft: «Früher hat der Richter den Untersuchungshäftling angehört und dann mündlich über die Verlängerung entschieden. Heute geht dem Entscheid ein langer schriftlicher Austausch voraus.» Die Justiz werde so sehr schriftlich und administrativ. «Das ist schade, denn sie richtet über Menschen und nicht über Dossiers», kritisiert Chirazi.
Jean-Cédric Michel, ebenfalls Anwalt in Genf, bedauert die Aufteilung der Untersuchung zwischen der Polizei und dem Staatsanwalt in komplexen Fällen: «Vorher führte der Richter alle Anhörungen durch. Das gab ihm einen besseren Gesamtüberblick.» Eine Verbesserung sei ohne Revision der StPO machbar: «Die Staatsanwälte müssten nicht so viele Aufgaben der Polizei übergeben.»
Der Walliser Anwalt Sébastien Fanti prangert die Schwerfälligkeit des Verfahrens in allen Stadien an. «Wer über die notwendigen Mittel verfügt, kann so vermehrt die Beweise bestreiten, manchmal mit absurden Argumenten.» Alles sei technischer geworden, und das schwäche die Justiz.
Wenn der Anwalt der ersten Stunde von den befragten Personen auch als ein «Plus» empfunden wird, so weisen sie doch auf Anwendungsprobleme hin. In Genf wird bemängelt, dass dieses Recht nur bei schwerwiegenden Fällen besteht. Gerade umgekehrt ist es im Kanton Waadt: Hier wird auch bei leichten Fällen ein Anwalt der ersten Stunde verpflichtet, was manchen Praktiker ärgert: «Aus Kostengründen sollte dieses Recht erst bei Fällen von mittlerer Wichtigkeit gewährt werden», sagt Guillaume Perrot.
Für Freiburg stellt Nicolas Charrière fest, dass das Pikett der Anwälte der ersten Stunde eher unbeliebt ist: «Die Anfragen der Polizei betreffen oft harmlose Dinge, bei denen die Anwesenheit eines Anwalts unnötig ist.» Er fragt sich, ob ein vorgängiger telefonischer Kontakt das Problem lösen könnte. «Damit könnte besser eingeschätzt werden, ob es einen Anwalt braucht oder nicht.»
Suzanne Pasquier