Die Schweiz ist mit der Europäischen Union (EU) politisch, kulturell und wissenschaftlich eng verbunden. Auch die wirtschaftliche Vernetzung ist gross. Die Schweiz verdient jeden dritten Franken im Austausch mit der EU. Sie ist von den Entwicklungen in der EU direkt betroffen. Obwohl die Schweiz keine Verpflichtung trifft, den Vertrag über die Europäische Union (EUV), den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) oder das Sekundärrecht der EU zu beachten, beeinflusst die Rechtsentwicklung in der EU das schweizerische Recht erheblich.1 Dieser Prozess erfolgt auf zwei Ebenen: Zum einen existiert zwischen der Schweiz und der EU ein engmaschiges Vertragsnetz. Rund zwanzig bilaterale Hauptabkommen und gegen hundert Sekundärabkommen führen zur weitgehenden Teilintegration der Schweiz in den europäischen Binnenmarkt. Die Umsetzung dieser Abkommen und ihre Anwendung in der Schweiz führen punktuell zu einer fortlaufenden Europäisierung des Schweizer Rechts. Zum anderen übernimmt die Schweiz autonom EU-Recht, ohne staatsvertraglich dazu verpflichtet zu sein. Im Zentrum steht die Prüfung der Europaverträglichkeit des Schweizer Rechts, die seit 1988 jedes Rechtsetzungsverfahren auf Bundesebene begleitet und die Epoche des autonomen Nachvollzugs eingeläutet hat.
Dieser Beitrag liefert einen Überblick über den autonomen Nachvollzug von EU-Recht in der Schweiz. Die Politik des autonomen Nachvollzugs beziehungsweise der Europaverträglichkeit des schweizerischen Rechts entfaltet ihre Wirkung primär in der Rechtsetzung (nachfolgend 1.). Darüber hinaus muss der gesetzgeberische Wille, sich an der Rechtslage in der EU zu orientieren, seinen Niederschlag zwangsläufig auch in der Rechtsanwendung finden (2.).
1. Rechtsetzung
1.1 Europaverträglichkeit
Der europäische Integrationsprozess im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) erfuhr in den 1980er-Jahren eine spektakuläre Revitalisierung. Mit dem Weissbuch der Kommission von 1985, der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1986 und dem Cecchini-Bericht von 1988 wurden die programmatischen und rechtlichen Grundlagen für die Vollendung des Binnenmarkts gelegt. Ebenso konkretisierten sich die Pläne für die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie für die Schaffung einer politischen Union.
Diese Entwicklungen bewirkten in der Schweiz ein Umdenken. Der Bundesrat veröffentlichte 1988 seinen ersten Integrationsbericht. Als einen zentralen Pfeiler seiner Europapolitik führte er die Politik der Europaverträglichkeit ein: die Verwaltung soll neue Gesetze und Verordnungen wie auch die Änderung von bestehenden Erlassen systematisch auf ihre Europakompatibilität überprüfen.2 Das schweizerische Recht soll auch ohne staatsvertragliche Verpflichtung an das europäische angeglichen werden. Damit wurde die Politik des autonomen Nachvollzugs zu einer grundlegenden Rechtsetzungsmaxime erhoben, welche die schweizerische Rechtsordnung als politisches Leitmotiv in ihrer ganzen Breite durchdringt. Abweichungen von europarechtlichen «Vorbilder»-Regelungen bleiben zwar selbstverständlich möglich. Eine verbindliche Nachvollzugsverpflichtung besteht nicht. Es handelt sich allein um eine Prüfungsobliegenheit. Helvetische Sonderlösungen bedürfen en toute connaissance de cause aber einer sachlichen Begründung. Sie sollen dort bewusst und konsequent weiterverfolgt werden, wo eine Abweichung der eigenen Interessenlage dient und auch unter integrationspolitischen Gesichtspunkten vertretbar scheint. Der Bundesrat führte 1988 dazu wie folgt aus: «Unser Ziel muss sein, in Bereichen von grenzüberschreitender Bedeutung (und nur dort) eine grösstmögliche Vereinbarkeit unserer Rechtsvorschriften mit denjenigen unserer europäischen Partner zu sichern. (...) Es geht bei diesem Streben nach Parallelität nicht darum, das europäische Recht automatisch nachzuvollziehen, wohl aber darum, zu verhindern, dass ungewollt und unnötigerweise neue Rechtsunterschiede geschaffen werden, welche die grundsätzlich angestrebte gegenseitige Anerkennung der Rechtsvorschriften auf europäischer Ebene behindern.»3
Die Politik der Europaverträglichkeit verfolgt einen doppelten Zweck: Zum einen beruht der autonome Nachvollzug auf wirtschaftlichen Gründen. Durch eine konsequente Angleichung des schweizerischen Rechts sollen die wirtschaftlichen Nachteile, welche sich systembedingt aus der Nichtmitgliedschaft der Schweiz in der EG/EU ergeben, minimiert und die Wettbewerbsfähigkeit der einheimischen Wirtschaft gestärkt werden. Zum anderen bildet eine möglichst europakompatible Ausgestaltung des schweizerischen Rechts die Grundlage, um für alle integrationspolitischen Optionen gewappnet zu sein, das heisst - wie der Bundesrat 1993 ausführte - für «einen möglichen (späteren) EWR- oder EG-Beitritt ohne unüberwindbare Hürden oder allenfalls eine auf bilaterale Abkommen beschränkte Alternative».4
Mittlerweile stellt der autonome Nachvollzug den Regelfall Schweizer Gesetzgebungspraxis dar. Das schweizerische Recht wird dem europäischen gleichsam systematisch nachgebildet.5 1998 hielt der Bundesrat fest, dass mit der Einführung der Europaverträglichkeitsprüfung ein «Europareflex» geschaffen wurde; neue schweizerische Regeln «sind im Allgemeinen eurokompatibel, ausnahmsweise nicht».6 Im Europabericht von 2006 bestätigte der Bundesrat die Politik des autonomen Nachvollzugs. Gleichzeitig erinnerte er aber daran, dass dieser Grundsatz nur gilt, «insofern er den Interessen der Schweiz nützt.»7 Ähnlich stellte der Bundesrat im Europabericht von 2010 fest, dass der autonome Nachvollzug «nur dort angestrebt werden [soll], wo wirtschaftliche Interessen dies erfordern oder rechtfertigen.»8
Als Grundlage für die Prüfung der Europaverträglichkeit von neuen beziehungsweise geänderten Bundesgesetzen dienen die Botschaften des Bundesrates.9 Art. 141 Abs. 1 des Parlamentsgesetzes (ParlG) schreibt vor, dass der Bundesrat dem Parlament seine Erlassentwürfe zusammen mit einer erläuternden Botschaft unterbreitet. Darin informiert er über die Ziele, welche mit dem vorgeschlagenen Erlass verfolgt werden, und begründet die gewählte Lösung. Gemäss Art. 141 Abs. 2 lit. a ParlG erläutert der Bundesrat - «soweit substanzielle Angaben dazu möglich sind» - dabei auch «das Verhältnis [der Vorlage] zum europäischen Recht». Diese Ausführungen finden sich im sogenannten «Europakapitel».
Der Botschaftsleitfaden äussert sich dazu wie folgt: «Bei Vorlagen in Bereichen, die einen grenzüberschreitenden Bezug haben, ist darzulegen, ob die vorgesehenen Regelungen mit dem geltenden oder in Ausarbeitung stehenden EG-Recht kompatibel sind. Wenn eine Vorlage Angleichungen schweizerischer Normen an europäische Regelungen enthält, sind Umfang und Reichweite dieser Angleichungen darzustellen. Begründen Sie gegebenenfalls, weshalb die schweizerische Regelung von der europäischen abweicht. Halten Sie ausserdem fest, ob mit Synergien oder Reibungsverlusten zu rechnen ist.»10
Das Prinzip der Europaverträglichkeit gilt als Rechtsetzungsmaxime umfassend für die Legislativtätigkeit auf Stufe Bund. Gleichzeitig verpflichten diverse Erlasse den Bundesrat ausdrücklich, bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben das einschlägige EU-Recht «zu beachten» beziehungsweise Verordnungsbestimmungen «in Anlehnung an die Bestimmungen der EU» oder «auf die technischen Vorschriften der wichtigsten Handelspartner der Schweiz abgestimmt» zu erlassen.11
1.2 Ausmass
Die erste umfassende Anpassung des schweizerischen (Wirtschafts-) Rechts an das europäische Binnenmarktrecht erfolgte im Rahmen der Swiss-Lex-Vorlage von 1993. Dabei wurden 27 Gesetzesrevisionen, die im Wesentlichen eine Übernahme des einschlägigen Gemeinschaftsrechts bezweckten, initiiert.12 Prominente Gesetzesänderungen, die im Zuge dieses Massnahmekatalogs verabschiedet wurden, betrafen Art. 40a-g des Obligationenrechts (OR; Widerruf bei Haustürgeschäften), Art. 333 OR (Übergang des Arbeitsverhältnisses), das Produktehaftpflichtgesetz (PrHG), das Pauschalreisegesetz und das Konsumkreditgesetz (KKG). Auch das Bundesgesetz über die technischen Handelshemmnisse (THG) und das Kartellgesetz (KG), die 1996 in Kraft gesetzt beziehungsweise totalrevidiert wurden, stimmen weitgehend mit den einschlägigen europäischen Regelungen überein.
Weitere Beispiele, die seither eine europakompatible Ausgestaltung erfahren haben, sind das Anwaltsgesetz (BGFA), das Heilmittelgesetz (HMG), das Luftfahrtgesetz (LFG), das Gleichstellungsgesetz (GlG), das Fernmeldegesetz (FMG), das Nationalbankgesetz (NBG), das Fusionsgesetz (FusG), das Mehrwertsteuergesetz (MWSTG), das Produktsicherheitsgesetz (PrSG) und das Anlagefonds- beziehungsweise Kollektivanlagegesetz (KAG).
Auch die Bestimmungen zu Freisetzungsversuchen und Inverkehrbringen für gentechnisch veränderte Organismen (Gentechnikgesetz, GTG), das Patentgesetz (PatG) und das Urheberrechtsgesetz (URG) beruhen mittlerweile wesentlich auf EU-Recht. Selbst im Lebensmittelrecht nähert sich die Schweiz in grossen Schritten dem EU-Recht an; die laufende Totalrevision des Lebensmittelgesetzes (LMG) steht ganz im Zeichen der Anpassung an das europäische Recht.13 Diese keineswegs abschliessende Auflistung veranschaulicht, dass sich der autonome Nachvollzug längst nicht mehr auf den traditionellen Bereich des Warenverkehrs und auf Regelungsbereiche mit grenzüberschreitender Wirkung beschränkt.14 Das EU-Recht gewinnt auch in anderen Gebieten an Bedeutung und dringt immer weiter ins Schweizer Recht ein (Spillover-Effekt). Dies gilt nicht nur für das Gesetzesrecht, sondern - wohl noch verstärkt - auch für das Verordnungsrecht.
Von offizieller Seite fehlen systematische Untersuchungen zur Frage, in welchem Ausmass sich das schweizerische Recht in quantitativer Hinsicht (das heisst prozentual zur gesamten Rechtsetzungstätigkeit) beziehungsweise in qualitativer Hinsicht (das heisst in Bezug auf die Rechtsetzung im Bereich von «Schlüsselgesetzen») an das EU-Recht angleicht und unter dem Titel des autonomen Nachvollzugs europäisiert wird.
Der Bundesrat lehnt es ausdrücklich ab, Bundesgesetze und Verordnungen, die im Zug des autonomen Nachvollzugs erlassen werden, speziell zu kennzeichnen beziehungsweise über den prozentualen Anteil solcher Erlasse im Verhältnis zur gesamten Gesetzgebungstätigkeit Bericht zu erstatten.15 Wissenschaftliche Studien schätzen, dass rund dreissig bis fünfzig Prozent des gesamten Bundesrechts vom einschlägigen EU-Recht beeinflusst werden.16 Teils wird das EU-Recht vollständig übernommen. Teils spielt es indirekt in den schweizerischen Gesetzgebungsprozess hinein.
Eine Analyse der bundesrätlichen Botschaften zwischen 2004 und 2007 hat ergeben, dass eine vollständige Übernahme des EU-Rechts bei rund 15 Prozent und eine Teilübernahme bei rund 33 Prozent der Fälle vorlag; bei den übrigen Geschäften liess sich der (allfällige) Einfluss des EU-Rechts nicht näher bestimmen.17 Diese Zahlen erscheinen plausibel und bestätigen, dass die Rechtsetzungstätigkeit des Bundes in der Tat von einem «Europareflex» begleitet wird.18
1.3 Rechtsvergleichung
Die Politik des autonomen Nachvollzugs bewirkt eine fortlaufende Europäisierung des schweizerischen Rechts. Dieser Anpassungsmechanismus unterscheidet sich strukturell allerdings auffällig von früheren Rezeptionen und Nachahmungen ausländischer Rechtsinstitute, wie sie für die schweizerische Rechtsordnung unter dem Titel der Rechtsvergleichung seit jeher prägend sind.19
Bereits die Bundesverfassung von 1848 wurde wesentlich von angloamerikanischen Konzepten und Idealen der Französischen Revolution beeinflusst.20 Auch die kantonalen Kodifikationen des Zivil- und Strafrechts im 19. Jahrhundert sowie die nationalen Rechtsvereinheitlichungen im 19. und 20. Jahrhundert gründeten erheblich und wechselseitig auf dem Vergleich mit anderen Kodifikationen aus dem In- und Ausland.21 Der Blick über die Grenze und die Methode der Rechtsvergleichung gehören spätestens seit Mitte des letzten Jahrhunderts zum Standardrepertoire des schweizerischen Gesetzgebers beziehungsweise der Dienststellen, welche im Rahmen des amtsinternen Vorverfahrens der Gesetzgebung die grundlegenden Vorarbeiten leisten.22 In bundesrätlichen Botschaften finden sich regelmässig Ausführungen zur rechtlichen Situation vor allem in unseren Nachbarländern sowie - im Wirtschaftsrecht und in Bezug auf Grundrechte - in den Vereinigten Staaten. Legislatorische Lösungen, welche andere Rechtsordnungen für ein gleichgelagertes Problem gewählt haben, werden dabei zusammengetragen, verglichen und kritisch bewertet. Einen entscheidenden Beitrag dazu leistet das 1982 gegründete Schweizerische Institut für Rechtsvergleichung (SIR) in Lausanne, welches für Bundesstellen unentgeltlich rechtsvergleichende Studien erstellt.23
Ein wesentliches Element der Rechtsvergleichung als Methode besteht darin, dass sie grundsätzlich zweckfrei ist.24 Sie folgt keinem vorgegebenen Ziel im Sinn etwa einer vorbestehenden Präferenz für eine bestimmte Rechtsordnung, deren Lösung aus rechtsetzungstechnischen Erwägungen als überlegen gilt beziehungsweise aus politischen oder anderen Gründen ab initio favorisiert wird. In diesem Punkt unterscheidet sich die Methode der Rechtsvergleichung von der Politik des autonomen Nachvollzugs. Der autonome Nachvollzug beruht auf einem bewussten politischen Entscheid, das schweizerische Recht europakompatibel auszugestalten und unterschiedliche legislatorische Lösungen möglichst zu vermeiden.25
Die Politik hat sich ausdrücklich dafür ausgesprochen, das schweizerische Recht dem europäischen anzupassen und nachzubilden - als «materieller Legislativfaktor von neuartiger Gestalt»26 und grundsätzlich unabhängig davon, ob in einem konkreten Fall die europäische Lösung mit Blick auf den zu normierenden Sachverhalt in der Tat die überzeugendste darstellt oder nicht. Abweichungen vom EU-Recht sollen nur dort weiterverfolgt werden, wo das Interesse an einer Sonderlösung - etwa zur Förderung von Standort- und Wettbewerbsvorteilen - höher zu gewichten ist als die integrationspolitisch und volkswirtschaftlich begründete Vorabentscheidung zugunsten einer europaverträglichen Ausgestaltung. Das EU-Recht entfaltet seine Relevanz im schweizerischen Gesetzgebungsverfahren nicht als eine von mehreren gleichrangigen Inspirationsquellen, sondern beansprucht als «Leitrechtsordnung» systembedingt eine Vormachtstellung. Der Prozess des vorurteilslosen Vergleichens und Abwägens von legislatorischen Lösungen, welche weitere ausländische Rechtsordnungen für ein gleichgelagertes Problem gewählt haben, verliert in der Schweiz an Bedeutung. Für das EU-Recht findet dieser Prozess vorgängig in Brüssel und Strassburg statt, wo in der Kommission, im Rat und im Parlament die zum Teil unterschiedlichen Rechtskulturen der 27 Mitgliedstaaten in den Gesetzgebungsprozess einfliessen und ihren Niederschlag je nach Ausgang in unterschiedlichem Mass schliesslich in der gewählten legislatorischen Lösung wiederfinden. Zu diesem Gesetzgebungsprozess hat die Schweiz bekanntlich keinen Zugang.
Darüber hinaus beeinflusst das EU-Recht das schweizerische Recht weiterhin auch unter dem Titel der klassischen Rechtsvergleichung, ohne dass seine Berücksichtigung als autonomer Nachvollzug zu qualifizieren wäre. Diesfalls dient das Unionsrecht als Inspirationsquelle.27 Für diese Form der Europäisierung des schweizerischen Rechts ist typisch, dass ein gemeinschaftliches Rechtsinstitut meist nicht tel quel Eingang in das schweizerische Recht findet, sondern in abgeänderter Form und adaptiert an die konkrete Problemlage, welche sich von derjenigen im Unionsrecht unterscheidet. Ein anschauliches Beispiel dafür stellt das Binnenmarktgesetz (BGBM) von 1995 dar. Im Zentrum dieses Gesetzes steht das Herkunftsortsprinzip, welches im Grundsatz dem europarechtlichen Cassis-de- Dijon-Prinzip nachgeformt ist, sich bezüglich Wirkungsweise und Anwendungsbereich davon aber in wesentlichen Punkten unterscheidet.28
2. Rechtsanwendung
Die Politik des autonomen Nachvollzugs beschränkt sich nicht nur auf die Rechtsetzung. Ihr Zweck - Minimierung der wirtschaftlichen Nachteile, die sich systembedingt aus der Nichtmitgliedschaft der Schweiz in der EU ergeben - wird nur dann erreicht, wenn Verwaltungsbehörden und Gerichte autonom nachvollzogenes Recht tatsächlich europaverträglich auslegen und anwenden.29 Der gesetzgeberische Wille, sich an der Rechtslage in der EU zu orientieren, muss seinen Niederschlag zwangläufig auch in der Rechtsanwendung finden, welche einen integralen Teil der Rechtsschöpfung darstellt und generell-abstrakte Erlasse zur «Anwendungsreife» führt.30
In aller Regel bereitet das Postulat der europaverträglichen Auslegung keine Probleme. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Anwendung der in der Schweiz traditionell im Vordergrund stehenden Auslegungselemente - grammatikalische, teleologische, systematische, historische und geltungszeitliche Auslegung - klarerweise zum Schluss führt, dass eine fragliche Bestimmung europaverträglich auszulegen ist, das heisst wenn sich mit Blick auf ihren Wortlaut (der entweder identisch ist mit der EU-Vorbilderregelung oder zumindest eine «helvetisierte» Übersetzung in die Rechtsterminologie der Schweiz darstellt) wie auch mit Blick auf die ratio legis und die Materialien ergibt, dass eine parallele Rechtslage angestrebt wird.31
Das Bundesgericht hat die Verpflichtung zur europaverträglichen Auslegung in einem leading case aus dem Jahr 2003 wie folgt umschrieben: «Nachvollzogenes Binnenrecht ist im Zweifel europakonform auszulegen. (...) Wird (...) die schweizerische Ordnung einer ausländischen - hier der europäischen - angeglichen, ist die Harmonisierung nicht nur in der Rechtssetzung, sondern namentlich auch in der Auslegung und Anwendung des Rechts anzustreben, soweit die binnenstaatlich zu beachtende Methodologie eine solche Angleichung zulässt. (...) Die Angleichung in der Rechtsanwendung darf sich dabei nicht bloss an der europäischen Rechtslage orientieren, die im Zeitpunkt der Anpassung des Binnenrechts durch den Gesetzgeber galt. Vielmehr hat sie auch die Weiterentwicklung des Rechts, mit dem eine Harmonisierung angestrebt wurde, im Auge zu behalten.»32
Das bundesgerichtliche Diktum ist klar: Eine europaverträgliche Auslegung ist nur möglich, soweit die Auslegung einer fraglichen Bestimmung im Licht der traditionellen Auslegungselemente eine europaverträgliche Lesart erlaubt. Sofern die Auslegung zu einem Ergebnis führt, welches von der europäischen Regelung abweicht, bleibt für eine «Umdeutung pro Europa» kein Raum. Diesfalls bedarf eine Anpassung an die europäische Rechtslage zwingend einer gesetzgeberischen Intervention.
Gewisse Konstellationen, in denen sich unter Umständen eine europaverträgliche Auslegung anbietet, stellen Verwaltungsbehörden und Gerichte vor heikle Fragen. So kommt es etwa häufig vor, dass sich der Gesetzgeber bei einzelnen Bestimmungen eines Erlasses bewusst um eine Angleichung an das europäische Recht bemüht, bei anderen Bestimmungen desselben Erlasses aber ebenso bewusst eine eigenständige Lösung wählt. Diesfalls scheidet eine europaverträgliche Auslegung für letztere Regelungsbereiche selbstredend aus - sofern die rechtsanwendende Behörde die fehlende Harmonisierungsabsicht tatsächlich erkennt beziehungsweise die Materialien darüber hinreichend Aufschluss geben. Anschauliche Beispiele dafür stellen etwa das Kartellgesetz (KG) oder auch das Mehrwertsteuergesetz (MwStG) dar. Bei beiden Erlassen strebte der Gesetzgeber in relevanten Teilen eine Annäherung an das EU-Recht an. Gleichzeitig wich er punktuell davon ab, soweit es ihm sachlich sinnvoll erschien, und verzichtete folglich bewusst auf eine vollständige Übernahme.33
Das Postulat der europaverträglichen Auslegung darf nicht zu einer «sklavischen» Orientierung am EU-Recht führen, auch wenn bei der Auslegung eines schweizerischen Erlasses feststeht, dass der Gesetzgeber damit eine Angleichung an die Rechtslage in der EU bezweckte. Entscheidend bleibt der gesetzgeberische Wille, sich am EU-Recht zu orientieren, um damit die wirtschaftlichen Nachteile des Schweizer Abseitsstehens soweit als möglich zu kompensieren. Unter Umständen deckt sich dieser Wille aber nicht in allen Teilen mit dem Telos der europarechtlichen Vorbilderregelung, womit eine unreflektierte Übernahme der EU-Praxis zu ungewollten Resultaten führen würde.34 Ein Beispiel stellt das Markenschutzgesetz (MSchG) von 1992 dar, das die einschlägigen Bestimmungen der ersten EG-Richtlinie zur Harmonisierung des Markenrechts von 1988 autonom übernahm. Das Bundesgericht hat die Bestimmungen über die Zulässigkeit von Parallelimporten sodann aber nicht im Sinne der EuGH-Rechtsprechung ausgelegt (wonach innerhalb des europäischen Binnenmarktes die regionale beziehungsweise gemeinschaftsweite Erschöpfung gilt), sondern sich für die internationale Erschöpfung ausgesprochen.35
Schliesslich wirkt der Harmonisierungszweck des autonomen Nachvollzugs pro futuro. Damit rückt die Spruchpraxis des EuGH und der mitgliedstaatlichen Gerichte in den Vordergrund. Die Auslegung von autonom nachvollzogenem Recht soll sich grundsätzlich auch an der Praxis orientieren, wie sie sich nach der Übernahme durch die Schweiz in der EU weiterentwickelt. Dieses Prinzip beruht auf dem Vertrauen in die Vernünftigkeit der Rechtsfortbildung in der EU.36 Gleichzeitig befriedigt es das Bedürfnis nach Rechtssicherheit. Nur eine möglichst parallele Rechtsentwicklung garantiert die Verwirklichung der ratio legis, im fraglichen Rechtsbereich das schweizerische Recht mit dem europäischen zu harmonisieren. Dies gilt auch dann, wenn die rechtsanwendenden Behörden in der Schweiz eine von der EU-Praxis abweichende Auslegung des einschlägigen EU-Rechtsaktes und damit reflexartig auch des schweizerischen «Umsetzungserlasses» bevorzugen würden.37 Sofern sich das EU-Recht in einem Masse weiterentwickelt, dass eine parallele Rechtslage nicht mehr allein durch eine schöpferische Auslegung des schweizerischen Rechts erreicht werden kann, ist der Gesetzgeber aufgerufen, das Schweizer Recht formell anzupassen.
3. Epilog
Die Europäisierung des schweizerischen Rechts ist eine Tatsache. Sie nimmt fortlaufend zu und erfasst immer weitere Sachbereiche. Es gibt in der Schweiz kaum mehr ein Rechtsgebiet, das nicht direkt oder indirekt vom EU-Recht beeinflusst wird, sei es durch die Ausstrahlungskraft der bilateralen Abkommen, sei es durch die selbstgewählte Anlehnung des autonomen Nachvollzugs. Das Europarecht wird auch in der Schweiz zum gelebten ius commune. Damit stehen Juristinnen und Juristen vor der neuartigen Herausforderung, komplizierte Rechtsfragen nicht mehr allein aus der vertrauten Warte des innerstaatlichen Rechts anzugehen, sondern ebenso auf der Grundlage und mit Blick auf das einschlägige Primär- und Sekundärrecht der EU.
Immer weniger findet man Antworten allein im Bundesrecht, im kantonalen oder kommunalen Recht. Über die Verfassung hinaus treten zusätzliche Beurteilungsmassstäbe hinzu. Fundierte Kenntnisse des EU-Rechts - das heisst des EUV und AEUV, von Verordnungen und Richtlinien sowie der Spruchpraxis der unionsrechtlichen und mitgliedstaatlichen Rechtsprechungsorgane - gehören damit zum unabdingbaren Rüstzeug, um im schweizerischen Rechtsalltag kompetent und umfassend Gesetzgebungsprozesse zu begleiten, Recht zu sprechen, Klienten zu betreuen und Unternehmensstrategien zu beurteilen.
1 Allgemein Fritz Breuss / Thomas Cottier / Peter-Christian Müller-Graff (Hrsg.), Die Schweiz im europäischen Integrationsprozess, Baden-Baden 2008; Dieter Freiburghaus, Königsweg oder Sackgasse? Sechzig Jahre schweizerische Europapolitik, Zürich 2009; Rainer J. Schweizer, «Wie das europäische Recht die schweizerische Rechtsordnung fundamental beeinflusst und wie die Schweiz darauf keine systematische Antwort findet», in: Astrid Epiney / Florence Rivière (Hrsg.), Auslegung und Anwendung von «Integrationsverträgen», Zürich 2006, 23-56.
2 Zur Europakompatibilitätsprüfung und zur Politik des autonomen Nachvollzugs siehe etwa Marc Amstutz, «Normative Kompatibilitäten: Zum Begriff der Europakompatibilität und seiner Funktion im Schweizer Privatrecht», in: Astrid Epiney et al. (Hrsg.), Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht 2004/2005, Bern / Zürich 2005, 235-251; Carl Baudenbacher, «Zum Nachvollzug europäischen Rechts in der Schweiz», in: Europarecht (EuR) 1992, 309-320; Thomas Cottier / Daniel Dzamko / Erik Evtimov, «Die europakompatible Auslegung des schweizerischen Rechts», in: Astrid Epiney et al. (Hrsg.), Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht 2003, Bern / Zürich 2004, 357, 360-363; Peter V. Kunz, «Instrumente der Rechtsvergleichung in der Schweiz bei der Rechtssetzung und bei der Rechtsanwendung», in: Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 2009, 31, 49-57; Tobias Jaag, Europarecht, Zürich, 2. Aufl. 2009, Rz. 4201-4210; Bruno Spinner / Daniel Maritz, «EG-Kompatibilität des schweizerischen Wirtschaftsrechts: Vom autonomen zum systematischen Nachvollzug», in: Peter Forstmoser et al. (Hrsg.), Der Einfluss des europäischen Rechts auf die Schweiz. Festschrift für Professor Roger Zäch zum 60. Geburtstag, Zürich 1999, 127-138; Martin Philipp Wyss, «Europakompatibilität und Gesetzgebungsverfahren im Bund», in: Aktuelle Juristische Praxis (AJP) 2007, 717-728.
3 Bericht des Bundesrates vom 24.8.1988 zur Stellung der Schweiz im europäischen Integrationsprozess, BBl 1988 III 249, 380.
4 Botschaft über das Folgeprogramm nach der Ablehnung des EWR-Abkommens vom 24.2.1993, BBl 1993 I 805, 810.
5 Spinner / Maritz, a.a.O., 137.
6 Antwort des Bundesrates auf eine Einfache Anfrage von NR Paul Rechsteiner vom 18.3.1998, zit. bei Spinner / Maritz, a.a.O., 129.
7 Europabericht 2006 vom 28.6.2006, BBl 2006 6815, 6832.
8 Bericht des Bundesrates über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik (in Beantwortung eines Postulats von NR Christa Markwalder) vom 17.9.2010, BBl 2010 7239, 7288.
9 Bei Rechtsänderungen auf Verordnungsstufe gilt die Obliegenheit zur Prüfung der Europakompatibilität analog. Das Resultat dieser Prüfung wird im Antrag an den Bundesrat wiedergegeben. Problematisch ist, dass diese Dokumente im Bundesblatt nicht veröffentlicht werden und nicht ohne weiteres zugänglich sind.
10 Leitfaden zum Verfassen von Botschaften des Bundesrates, herausgegeben von der Bundeskanzlei, Version vom 30.6.2009, 18.
11 Dabei handelt es sich um sogenannte indirekte Verweise auf
EU-Recht; siehe für Beispiele www.bk.admin.ch › Themen › Sprachen › Übernahme von EU-Recht durch die Schweiz.
12 Botschaft Folgeprogramm, a.a.O., 805; dazu Roger Mallepell, Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die schweizerische Gesetzgebung 1993-1995, Bern 1999, 18-27.
13 Erläuternder Bericht zur Änderung des Bundesgesetzes über Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände (Lebensmittelgesetz, LMG) vom 16.7.2007, 14.
14 Siehe für weitere Beispiele Europabericht 2006, a.a.O., 6832; Cottier / Dzamko / Evtimov, a.a.O., 362; Jaag, a.a.O., Rz. 4202-4203; Kunz, 54-56; Matthias Oesch, «Der Bundesrat sollte uns reinen Likör einschenken», in: NZZaS vom 23.5.2010, 19; Spinner / Maritz, a.a.O., 130-136.
15 Antwort des Bundesrates vom 14.2.2007 auf das Postulat 06.3839 von NR Roger Nordmann («Autonomer Nachvollzug und Kennzeichnung des Schweizer EU-Rechts»).
16 Ali Arbia, The Road not Taken: Europeanisation of Laws in Austria and Switzerland (1996-2005), Geneva 2006, 86; siehe dazu auch Thomas Cottier, «Wir sind gewissermassen bereits EU-Passivmitglied», in: Der Bund vom 21.10.2009, 7; Oesch, a.a.O., 19.
17 Emilie Kohler, «Influence du droit européen sur la législation suisse: analyse des années 2004-2007», in: Jusletter 31.8.2009, Rz. 32-45.
18 Antwort des Bundesrates auf eine Einfache Anfrage von NR Paul Rechsteiner vom 18.3.1998, zit. bei Spinner / Maritz, a.a.O., 129.
19 Zur Rechtsvergleichung als Methode sowie zu ihrer Bedeutung in der Schweiz etwa Kunz, a.a.O., 34-39; Arnold F. Rusch, «Methoden und Ziele der Rechtsvergleichung», in: Jusletter vom 13.2.2006, Rz. 2-12.
20 Andreas Kley, Verfassungsgeschichte der Neuzeit: Grossbritannien, die USA, Frankreich, Deutschland und die Schweiz, Bern, 2. Aufl. 2008, 229.
21 René Pahud de Mortanges, Schweizerische Rechtsgeschichte: Ein Grundriss, Zürich / St. Gallen 2007, 203-216, 221-234.
22 Pierre Widmer, «Rechtsvergleichung und Gesetzgebung», in:
LeGes 2003, 9-17.
23 www.isdc.ch; Gesetzgebungsleitfaden: Leitfaden für die Ausarbeitung von Erlassen des Bundes, herausgegeben vom Bundesamt für Justiz, 3. Aufl. 2007, Rz. 442.
24 Kunz, a.a.O., 34; Rusch, a.a.O., Rz. 5.
25 Cottier / Dzamko / Evtimov, a.a.O., 359-360.
26 Daniel Thürer, «Europaverträglichkeit als Rechtsargument», in: Walter Haller et al. (Hrsg.), Im Dienst an der Gesellschaft. Festschrift für Dietrich Schindler zum 65. Geb., Basel 1989, 561, 580.
27 Siehe dazu Kunz, a.a.O., 53, wonach es sich diesfalls um (rechtsfolgenlose) «eklektische Anregungen» handelt.
28 Gemäss Botschaft wurden die den Marktteilnehmern gewährten Rechte «in Anlehnung an das vom Europäischen Gerichtshof im Bereich des freien Warenverkehrs entwickelte Cassis-de-Djion-Prinzip» modelliert, Botschaft zu einem Bundesgesetz über den Binnenmarkt (Binnenmarktgesetz, BGBM) vom 23.11.1994, BBl 1995 I 1213, 1282.
29 Siehe zur Auslegung von autonom nachvollzogenem Recht etwa Cottier / Dzamko / Evtimov, a.a.O., 363-369; Ernst A. Kramer, Juristische Methodenlehre, Bern 3. Aufl. 2010, 292-300; Franz Nyffeler, «Die Anwendung autonom nachvollzogener Normen des EU-Rechts», in: Aargauischer Anwaltsverband (Hrsg.), Festschrift 100 Jahre Aargauischer Anwaltsverband, Zürich 2005, 35-55; Hans Peter Walter, «Das rechtsvergleichende Element - Zur Auslegung vereinheitlichten, harmonisierten und rezipierten Rechts», in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR) 2007, 259, 268-272; Wolfgang Wiegand, «Zur Anwendung von autonom nachvollzogenem EU-Privatrecht», in: Peter Forstmoser et al. (Hrsg.), Der Einfluss des europäischen Rechts auf die Schweiz. Festschrift für Roger Zäch zum 60., Zürich 1999, 172-189.
30 Matthias Oesch, Differenzierung und Typisierung: Zur Dogmatik der Rechtsgleichheit in der Rechtsetzung, Bern 2008, 348.
31 Siehe zu den traditionellen Auslegungselementen etwa Kramer, a.a.O., 33-52.
32 BGE 129 III 335, 350 E. 6 (Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Solothurn gegen Metallbau X. GmbH); siehe für einen leading case des Bundesverwaltungsgerichts zur europakompatiblen Auslegung Urteil vom 13.9.2010, B-3064/2008, E. 3 (AHP Manufacturing B.V.).
33 Siehe BGE 124 III 495, 498 E. 2a, zum KG; BGE 124 II 193, 203 E. 6a (Eidg. Steuerverwaltung gegen Verband Zahntechnischer Laboratorien der Schweiz) zum MwStG.
34 Cottier / Dzamko / Evtimov, a.a.O., 368.
35 EuGH Rs. C-355/96, Silhouette International Schmied GmbH & Co. KG gegen Hartlauer Handelsgesellschaft mbH, Slg. 1998 I-4799; BGE 122 III 469 (Chanel S.A. c. EPA AG).
36 Nyffeler, a.a.O., 50.
37 Kramer, a.a.O., 296.