Nein, sie ist ein Privileg, das heute keine Berechtigung mehr hat. Unter den Begriff der parlamentarischen Immunität fällt auf Bundesebene einerseits die absolute Immunität (Wortlautprivileg, Indemnität), nach der Mitglieder der Bundesversammlung für ihre Äusserungen in den Räten und in deren Organen rechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Andererseits die relative Immunität, was bedeutet, dass gegen Ratsmitglieder ein Strafverfahren wegen strafbaren Handlungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer amtlichen Stellung oder Tätigkeit stehen, nur mit der Ermächtigung der zuständigen Kommissionen eingeleitet werden kann (Verfolgungsprivileg).
Die Kantone können den Mitgliedern ihrer Parlamente ein umfassendes oder ein beschränktes Wortlautprivileg, nicht aber ein Verfolgungsprivileg einräumen (Artikel 7 Absatz 2 StPO).
Die parlamentarische Immunität ist demnach ein Privileg für eine kleine politische Elite. Sie durchbricht den Strafverfolgungszwang, also das strafrechtliche Legalitätsprinzip, wodurch das verfassungsrechtliche Rechtsgleichheitsgebot verletzt wird. Es kann zudem Nachteile für die Opfer von Straftaten haben, wenn ein Parlamentsmitglied nicht zur Rechenschaft gezogen wird. Deshalb bedarf die parlamentarische Immunität einer qualifizierten Begründung; ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Immunität besteht heute im Gegensatz zu früher nicht mehr.
Seit Ende des 18. Jahrhunderts entstand die parlamentarische Immunität zum Schutz der Volksvertretung vor politisch motivierten Übergriffen der Regierungsgewalt - damals meistens durch absolutistische Fürsten. Im schweizerischen demokratischen System bestand dieses Schutzbedürfnis jedoch nie wirklich. Auf Bundesebene wurde die Immunität mit zwei unterschiedlichen Motiven eingeführt: einerseits weil einzig die Bundesversammlung als oberste Gewalt über Handlungen von Parlamentsmitgliedern zu urteilen habe; andererseits wegen der Angst vor der politisch motivierten Strafverfolgung durch die konservative Berner Regierung. Die Kantone ahmten bei der Einführung der Immunität unreflektiert ausländisches Recht nach.
Heute garantiert das Bundesrecht in Artikel 4 Absatz 1 StPO die Unabhängigkeit der Strafverfolgungsbehörden und deren Überprüfung auf dem Rechtsweg bis ans Bundesgericht. Damit ist eine politisch motivierte Einflussnahme von Regierung und Parlament auf die Strafverfolgung im Einzelfall ausgeschlossen. Die Staatsanwaltschaften des Bundes und zahlreicher Kantone sind zudem institutionell der Einflussnahme durch die Regierung vollständig entzogen. Den Schutz vor missbräuchlichen Strafanzeigen könnte man dadurch verstärken, dass falsche Anschuldigungen gegen Parlamentsmitglieder durch das Gesetz zum Offizialdelikt erhoben und dem Parlament als Behörde Parteirechte eingeräumt würden.
Das Wortlautprivileg wird meist mit der Notwendigkeit der «freien Diskussion» im demokratischen Staat begründet. Die Forschung, wie ein demokratischer Konsens gefunden wird, zeigt aber auf, dass auch inhaltlich heftige Diskussionen mit Anstand geführt werden können und dass dann die Qualität des politischen Diskurses steigt. Die parlamentarische Immunität ist demnach ein Privileg der Unanständigen.
Daniel Kettiger, Rechtsanwalt, Verwaltungswissenschafter und Justizforscher, Bern